Das unanständige Wort
Uri Avnery, 8.2.10
ZU
VIELEN WICHTIGEN Kämpfen werden in Israel Menschen mit Gewissen
aufgerufen.
Unter anderem ( in zufälliger Reihenfolge) :
Zum Kampf, um die Umwelt und die Zukunft des Planeten zu erhalten.
Zum Kampf für Demokratie gegen faschistische Trends.
Zum Kampf für die Menschenrechte und die Bürgerrechte
Zum feministischen Kampf
Zum Kampf für die Rechte von Schwulen und Lesben.
Zum Kampf für soziale Gerechtigkeit und soziale Solidarität.
Zum Kampf für gleiche Rechte für Israels arabische Bürger.
Zum Kampf gegen die Diskriminierung der orientalischen Juden.
Zum Kampf für die Trennung von Religion und Staat.
Zum Kampf für die Rechte der Tiere.
Etc. etc. etc.
Was haben diese gemeinsam?
Allen gemeinsam ist eine liberale, „progressive“ Weltanschauung .
Jeder einzelne Kampf verdient eine Hingabe aus vollem Herzen,
besonders von jungen Menschen.
Aber alle dienen heute schließlich als Ersatz für die Hauptschlacht
– den Kampf für Frieden mit dem palästinensischen Volk.
ES
BESTEHT die Gefahr, dass all diese Kämpfe zu einer Zufluchtsstätte
für junge Idealisten werden, die ihre Energie einer edlen Sache
widmen wollen, aber keine Kraft mehr haben, sich am Hauptkampf zu
beteiligen.
Da
jeder einzelne dieser Kämpfe tatsächlich wichtig und für eine gute
Sache ist, kann man mit diesen Aktivisten nicht streiten. Jede Menge
von Organisationen sind jetzt auf diesen Gebieten aktiv und Tausende
wunderbarer Menschen – Männer und Frauen, Alte und Junge widmen sich
diesen Problemen. Auch ich wäre bereit, mich jedem einzelnen von
ihnen zu widmen, gäbe es da nicht ----
Wäre da nicht die Tatsache, dass sie alle - alle zusammen und
jeder einzelne - das Leben aus dem Kampf für Frieden herausziehen.
So wie ich es sehe, steht der Frieden über allem anderen, weil der
Erfolg aller anderen Kämpfe vom Ergebnis dieses einen Kampfes
abhängt.
Der nicht enden wollende Krieg schafft eine Realität der Besatzung
und der Unterdrückung, von Tod und Zerstörung, moralischer
Degeneration und allgemeiner Brutalität. Kann in solch einer
Situation irgend ein Ideal realisiert werden? Kann z.B. Feminismus
in einem Land blühen, das in den Klauen eines hemmungslosen
chauvinistischen Militarismus liegt? Können Tiere vor Folter
gerettet werden, wenn weiter Menschen routinemäßig gefoltert
werden? Können Flüsse und Wälder, Vögel und Leoparden gerettet
werden, wenn Wohnviertel mit weißem Phosphor bombardiert werden?
DIE HAUPTFRAGE ist natürlich, warum Menschen mit Gewissen vor der
Vision des Friedens davonlaufen.
Dies ist eine Tatsache: Frieden ist zu einem unanständigen, obszönen
Wort geworden. Eine ehrbare Person möchte nicht in Gesellschaft
mit ihm gesehen werden. Es sollte nicht in einer anständigen
politischen Gesellschaft ausgesprochen werden.
Die Leute machen verbal, fast akrobatische Übungen, um dieses Wort
zu vermeiden. Politiker sprechen über das „Ende des Konfliktes“,
über „permanenten Status“, „politische Regelung“, nur um das
Tabuwort zu umgehen.
Warum?
Zunächst einmal ist das Wort „Frieden“ so abgenützt worden, dass es
fast keine Bedeutung mehr hat. Es ist so oft missbraucht worden,
dass es verschlissen ist. Um einen klassischen Satz des britischen
Philosophen Dr. Samuel Johnson zu paraphrasieren: „Frieden ist die
letzte Zuflucht für einen Schurken.“ Oder um den Slogan des bösen
Empire in George Orwells „1984“ zu wiederholen: „Krieg ist Frieden“.
Die Hoffnung auf Frieden ist so oft hoch gekommen und so viele Male
in tausend Stücke zerschlagen worden, dass die Hoffnung selbst
schon Verdacht und Ängste verursacht. Was war mit der größten
Hoffnung geschehen, dem Oslo-Abkommen und dem historischen
Händeschütteln 1993? Was war bei der triumphalen Reise des Ehud
Barak nach Camp David 2000 geschehen? Man kann von gewöhnlichen
Leuten nicht erwarten, dass sie untersuchen, was dort wirklich
geschehen ist, und wem man die Schuld geben muss. Sie sehen nur die
klaren Fakten: wir hofften auf Frieden, wir bekamen Krieg.
Die Dinge sind an einen Punkt gekommen, wo sogar Friedensbewegungen
Angst haben, das Wort in ihren politischen Statements zu erwähnen.
Auch sie suchen nach Ersatzwörtern.
Man hat jetzt allgemein akzeptiert, dass man nicht länger auf junge
Leute zugeht, um mit ihnen über Frieden zu sprechen. Gott bewahre.
Sie sind davon überzeugt, dass Krieg ein Dauerzustand und dass
Frieden eine Illusion ist, nichts als eine leere Phrase der Alten.
Sie glauben, dass sie und ihre Kinder und deren Kinder ( falls sie
hier bleiben) dazu verurteilt wurden, immer wieder in den Krieg
ziehen zu müssen, bis ans Ende aller Zeiten. Sie wollen ihre Zeit
nicht länger mit diesem Friedens-Unsinn vergeuden. Besser ist es,
die letzten Leoparden in der Judäischen Wüste und die Adler auf den
Golanhöhen zu bewahren, als nach der Friedenstaube zu suchen, die
sie nie gesehen haben.
Die Linken sind stolz darauf, dass die Vision „Zwei Staaten für zwei
Völker“ – einmal die Vision einer Handvoll von Verrückten, - nun zu
einem weltweiten Konsens geworden ist. Tatsächlich, ein großer Sieg.
Aber er wurde durch den Erfolg der Rechten übertrumpft, die „Wir
haben keinen Partner für den Frieden“ in ein nationales Credo
verwandelt haben.
In
moderner Sprache: Frieden ist passé – alles andere ist aktuell.
IN
DIESER WOCHE bemerkte der Journalist Gideon Levy bei einer
TV-Talk-Show, dass in der gegenwärtigen Knesset kein einziges
jüdisches Mitglied mehr ist, für das der Frieden das wichtigste
Ziel sei.
Einige Leute erwähnen in diesem Kontext das neue Knessetmitglied
Nitzan Horowitz. Jahrelang war er ein TV-Kommentator für
internationale Angelegenheiten und begeisterte die Zuschauer mit
seinem Enthusiasmus für jeden Kampf um Frieden und Freiheit in aller
Welt. Sein emotionaler Stil und seine Tendenz, sich mit den
Benachteiligten zu identifizieren, hat ihm die Zuneigung des
Publikums gebracht.
Aber seitdem er im Parlament ist, scheint seine Flamme erloschen zu
sein. Nun führt er einen geräuschvollen Kampf gegen den Preiskrieg
zwischen den Buchläden. Und wie ist es mit Frieden? Was mit
Besatzung? Bitte, Schweigen!
Das trifft auf die ganze Meretzfraktion zu, die in ihrer Glanzzeit
als Vorhut des zionistischen Friedenslagers in der Knesset diente.
Seitdem haben sich die Dinge zum Schlimmeren verändert. Um etwas von
ihrer Stärke zurück zu erlangen, ignoriert sie die Sache des
Friedens so weit als menschenmöglich. Wenn es gar keine andere
Möglichkeit mehr gibt, erwähnen sie ihn flüchtig, so wie ein Jude
die Mesusa im Vorbeigehen küsst oder wie ein katholischer Christ
sich bekreuzigt und schnell weitergeht.
Es
ist eine interessante Geschichte. Als Shulamit Aloni 1973 am
Vorabend des Yom Kippur-Krieges die Partei gründete, war sie
hauptsächlich als Aktivistin für die Bürgerrechte bekannt. Sie war
besonders im Kampf für die Frauenrechte engagiert und gegen
religiösen Zwang. Der Frieden war für sie ein sekundäres Ziel. Aber
als Führerin von Meretz wurde sie immer mehr davon überzeugt, dass
keines ihrer Ziele in einer Kriegsatmosphäre verwirklicht werden
kann, und Frieden wurde für ihre Ansicht zentral. Als die Partei
wuchs, wurde sie die führende zionistische Friedensfraktion.
In
den letzten Jahren ist der Prozess rückwärts gegangen, wie ein
Videofilm im Rückwärtsgang. Der Frieden wurde von der Agenda
verbannt und ist nun fast verschwunden. Meretz ist wieder eine
Partei für bürgerliche Rechte geworden und kam von zwölf
Knessetsitzen auf nur mehr drei.
DIE ISRAELISCHE Rechte, die von rechten amerikanischen Milliardären,
- Juden und christlichen Fundamentalisten - finanziert wird, hat in
dieser Woche einen massiven Angriff gegen den liberalen Israel Fund
gestartet, der all die oben genannten Kämpfe großzügig unterstützt.
Übrigens: Gush Shalom hat noch nie einen Cent von dort bekommen. Der
Fond vermeidet Friedensbewegungen wie die Pest. Aber das hat ihn
nicht gerettet. Die Rechten verfolgen ihn. Selbst wenn man „nur“ mit
Menschenrechten zu tun hat, kann man diesem Los nicht entkommen.
Die Flucht vor dem Frieden bietet keine Sicherheit.
DIE SACHE des Friedens wird unvermeidlich ins Zentrum der Bühne
zurückkehren, weil er unser Schicksal entscheidet, das des einzelnen
und das des Staates. Da gibt es kein Entkommen.
Natürlich sollte keiner der oben genannten Kämpfe aus anderen
Gründen aufgegeben werden, selbst wenn der Kampf für das Ende der
Besatzung und für den Frieden vor allem anderen stehen muss.
Ich schaue auf den Tag in der Zukunft, wenn all die Organisationen,
die diese Kämpfe führen, wunderbare Aktivisten, ihren Enthusiasmus,
ihre Talente, ihren Mut und besonders ihre Fähigkeit, sich einer
Idee zu widmen, in eine einzige Kraft vereinigen werden, im
gemeinsamen Kampf für das „Andere Israel“ , deren Speerspitze der
Kampf für Frieden ist. In einer großen, vereinigten Bewegung werden
alle diese verschiedenen Ziele einander stützen und nähren.
Zusammen werden sie die entscheidende Kampagne führen: den Kampf für
die Zweite israelische Republik.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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Gush Shalom
Inserat in Haaretz am 5.2.10
Dies ist das „Vereinigte“ Jerusalem:
Der gewählte Bürgermeister von West-Jerusalem
Ist der Militärgouverneur von Ost-Jerusalem.
Die Jerusalemer Polizei ist eine Besatzungsmacht,
s. Sheih Jarach.
(dt. Ellen Rohlfs)
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