Sanfte Stimme – dicker Knüppel
Uri Avnery, 23.5.09
BARACK OBAMA wird oft mit Franklin Delano Roosevelt verglichen; doch
dieses Mal hat er Anleihen aus den Zitaten eines anderen Roosevelt
genommen: es war Präsident Theodore Roosevelt, der vor 108 Jahren
seinen Nachfolgern einen Rat gab: „Sprich mit sanfter Stimme, und
trage einen dicken Knüppel bei dir!“
In
dieser Woche sah die ganze Welt, wie dies in die Tat umgesetzt wird.
Obama saß in seinem Amtssitz, dem Oval Room, neben ihm
Binyamin Netanyahu und sprach zu den Journalisten. Er war ernst,
aber entspannt. Seine Körpersprache war deutlich: während Netanyahu
angespannt nach vorne gebeugt saß wie ein Vertreter, der seine
Ware verkaufen will, lehnte sich Obama ruhig und selbstsicher
zurück. Er sprach sanft, sehr sanft. Aber hinter ihm, unsichtbar
neben der Flagge, lehnte ein dicker Knüppel.
DIE WELT wollte natürlich wissen, was zwischen den beiden geschehen
ist, als sie unter vier Augen sprachen.
Als Netanyahu nach Hause kam, versuchte er energisch, das Treffen
als einen großen Erfolg darzustellen. Aber nachdem der rote Teppich
wieder eingerollt worden und das Scheinwerferlicht gelöscht war,
können wir überdenken, was wir wirklich gesehen und gehört haben.
Unter seinen großen Errungenschaften betonte Netanyahu das iranische
Problem. „Wir haben vollkommene Übereinstimmung erreicht,“
verkündete er stolz immer wieder.
Übereinstimmung in was? In der Notwendigkeit, den Iran daran zu
hindern, „militärisch-nukleare Fähigkeiten“ zu erlangen ?
Moment mal! Wieso hören wir auf einmal das Wort „militärisch“? Woher
kommt dieses Wort? Bis jetzt haben alle israelischen Regierungen
darauf bestanden, dass der Iran daran gehindert werden muss,
jegliche nukleare Kompetenz zu erlangen. Die neue Formel bedeutet,
dass die Natanyahu-Regierung jetzt damit einverstanden ist, dass der
Iran Nuklearenergie zu zivilen Zwecken nutzen darf – was niemals von
militärischen Nutzungen all zu weit entfernt ist.
Dies ist nicht die einzige Niederlage Netanyahus, was das iranische
Problem betrifft. Vor seinem Flug in die USA verlangte er von
Obama, dass dieser dem Iran nur drei Monate gebe – „bis Oktober“.
Danach müssten „alle Optionen auf dem Tisch liegen“. Ein Ultimatum,
das eine militärische Drohung einschließt.
Nichts von alledem bleibt. Obama sagte, dass er mit dem Iran bis zum
Ende des Jahres einen Dialog führen wolle und dass er dann abwägen
wolle, was erreicht worden ist und was als nächstes getan werden
müsse. Wenn er zu der Schlussfolgerung komme, dass es keinen
Fortschritt gegeben habe, dann würde er neue Schritte unternehmen,
einschließlich der Verhängung von strengeren Sanktionen. Die
militärische Option ist verschwunden. Vor dem Treffen sagte Obama
zwar zu einer Zeitung, dass „alle Optionen auf dem Tisch lägen“.
Doch die Tatsache, dass er dies in Netanyahus Gegenwart nicht
wiederholte, spricht Bände.
Zweifellos hat Netanyahu um Erlaubnis gebeten, den Iran anzugreifen
oder zumindest mit solch einem Angriff drohe. Wenn dem so ist,
dann war die Antwort ein glattes Nein. Obama ist entschlossen,
einen israelischen Angriff zu verhindern. Er hat die israelische
Regierung eindeutig gewarnt. Um auch sicher zu gehen, dass die
Botschaft richtig verstanden worden war, sandte er den CIA-Chef
nach Israel, um die Botschaft persönlich jedem israelischen Führer
persönlich zu übergeben.
Der israelische Militärangriff auf den Iran ist vom Tisch – falls
er dort je gelegen hat.
Netanyahu wollte den Iran mit dem palästinensischen Problem in
negativer Weise verknüpfen: So lange die iranische Gefahr droht,
kann man sich nicht mit dem palästinensischen Problem befassen.
Obama hat dies umgedreht und stattdessen eine positive Verbindung
hergestellt: Fortschritt auf der palästinensischen Seite ist eine
Vorbedingung für Fortschritte auf der iranischen Seite. Das ist
sinnvoll: der ungelöste Konflikt treibt den Iran an, liefert ihm
einen Grund, Israel zu bedrohen und die Opposition Ägyptens und
Saudi Arabiens gegenüber Irans Ambitionen zu schwächen.
OBAMAS HAUPTBOTSCHAFT betraf ein Problem, das diese Woche wieder
in den Mittelpunkt rückte: die Siedlungen.
Dieses Wort war während der Regierungszeit von Bush jun. fast
verschwunden. Alle US-Regierungen waren zwar gegen die
Erweiterungen der Siedlungen, aber seit dem misslungenen Versuch von
James Baker, dem Außenminister von Bush sen., Sanktionen über Israel
zu verhängen, hat keiner mehr gewagt, etwas zu tun, um sie zu
stoppen. In Washington grummelte man – vor Ort wurde weitergebaut.
In Jerusalem wurde gelogen – und vor Ort wurde gebaut.
Ein ranghoher Palästinenser drückte es so aus: „Wir verhandeln über
die Teilung der Pizza – und in der Zwischenzeit isst Israel sie
auf.“
Man muss es immer wieder wiederholen. Die Siedlungen sind eine
Katastrophe für die Palästinenser, eine Katastrophe für den Frieden
und eine doppelte und dreifache Katastrophe für Israel. Erstens,
weil es ihr Hauptziel ist, die Errichtung eines palästinensischen
Staates unmöglich zu machen und so den Frieden auf immer zu
verhindern. Zweitens, weil sie der israelischen Wirtschaft das Mark
aussaugen und die Ressourcen verschlingen, die zur Hilfe für die
Armen verwendet werden sollten. Drittens weil die Siedlungen Israels
Rechtsstaatlichkeit unterminieren, sie den Krebs des Faschismus
verbreiten und das ganze politische System nach rechts
verschieben.
Deshalb hat Obama Recht, wenn er das Siedlungsproblem allem anderen
voran setzt, sogar noch vor die Friedensverhandlungen. Ein
vollkommener Stop des Siedlungsbaus muss allem anderen
vorausgehen. Wenn ein Körper blutet, dann muss als erstes der
Blutverlust gestoppt werden, bevor die Verletzung geheilt werden
kann. Sonst stirbt der Patient wegen Blutverlust, und dann gibt es
keinen mehr, dessen Verletzung geheilt werden kann. Dies wäre genau
Netanyahus Ziel.
Deshalb weigerte sich Netanyahu, dieser Forderung zuzustimmen.
Sonst würde seine Koalition auseinanderfallen, und er wäre
gezwungen, zurückzutreten oder eine alternative Koalition mit der
Kadima-Partei zu bilden. Die glücklose Zipi Livni, die keine Rolle
in der Opposition gefunden hat, würde wahrscheinlich diese
Gelegenheit wahrnehmen.
Netanyahu wird versuchen, Barak gegen Barack zu benützen. Mit Hilfe
von Ehud Barak ist er dabei, eine Aufführung des Namens
‚Außenposten abbauen’ zu inszenieren, um die Aufmerksamkeit vom
Ausbau der Siedlungen abzulenken . Wir werden sehen, ob dieser Trick
Erfolg hat und ob die Siedlerführung bei dieser Scharade mitspielt.
Am
Tag nach Netanyahus Rückkehr ließ Barak zum siebten Mal (!) Maoz
Esther, einen Außenposten mit sieben Holzhütten, demolieren.
Innerhalb von Stunden kehrten die Siedler wieder an den Ort zurück.
(Die israelische Armee hat in der Negevwüste für Übungszwecke ein
ganzes arabisches Dorf aufgebaut. Jemand machte in dieser Woche den
Witz, dass die Armee auch diesen Außenposten gebaut hätte, der mit
als Siedler verkleideten Soldaten bemannt worden wäre. So kann
dieser „Außenposten“ jederzeit, wenn es Druck von Amerika gibt,
demoliert werden. Danach bauen die Soldaten diesen wieder auf, um
beim nächsten Mal und nächsten Druck wieder verwendet zu werden.)
DIE VERWEIGERUNG, den Siedlungsbau einzufrieren, bedeutet die
Weigerung, die Zwei-Staatenlösung anzunehmen. Stattdessen jongliert
Netanyahu mit leeren Phrasen. Er spricht von „zwei Völkern“ die in
Frieden zusammenleben, weigert sich aber, über einen
palästinensischen Staat zu sprechen. Einer seiner engsten
Mitarbeiter nennt diese Forderung von zwei Staaten ein „kindisches
Spiel“.
Aber dies ist kein kindisches Spiel. Es ist schon bewiesen worden,
dass Verhandlungen, deren Ziel nicht im voraus genau bestimmt
worden ist, ins Leere laufen. Das Oslo-Abkommen brach genau deswegen
zusammen. Netanyahu hofft, dass die nächste Verhandlungsrunde genau
deshalb wieder ins Straucheln gerät.
Er
hat keinen eigenen Plan vorgestellt. Nicht weil er keinen Plan hat,
sondern weil er weiß, dass ihn keiner akzeptieren wird.
Netanyahus Plan ist: die totale Herrschaft über das Land zwischen
dem Mittelmeer und dem Jordan. Überall unbegrenzt jüdische
Siedlungen. Eingeschränkte Selbstregierung für eine Anzahl
palästinensischer Enklaven mit einer dichten palästinensischen
Bevölkerung, die von jüdischen Siedlungen umgeben sind. Ganz
Jerusalem bleibt ein Teil Israels. Kein einziger palästinensischer
Flüchtling kehrt auf das Territorium Israels zurück.
Diese Ware wird in der ganzen Welt keinen Käufer finden. Deshalb
versucht Netanyahu, ein professioneller Vertreter, seine Waren in
eine attraktive Verpackung zu packen.
Zum Beispiel: die Palästinenser werden sich „selbst regieren“. Wo
genau? Wo werden die Grenzen verlaufen? Er hat schon verkündet,
dass die Palästinenser keine Kontrolle „über den Luftraum und die
Grenzübergänge“ haben können. Ein Staat ohne Militär und ohne
Kontrolle über den Luftraum und die Grenzübergänge – das sieht sehr
verdächtig nach den Bantustans des damaligen rassistischen
Apartheidregimes in Süd-Afrika aus.
Ich wäre nicht überrascht, wenn Netanyahu zu einem gewissen
Zeitpunkt anfängt, diese Reservate „einen palästinensischen Staat“
zu nennen.
Unterdessen versucht er, Zeit zu gewinnen und Verhandlungen so
lange wie möglich hinauszuschieben. Er verlangt, dass die
Palästinenser Israel als „den Staat des jüdischen Volkes“
anerkennen, wobei er erwartet und hofft, dass sie dies weit von
sich weisen. Denn dies zu akzeptieren, würde bedeuten, dass sie im
voraus ihre Trumpfkarte – das Flüchtlingsproblem - aus der Hand
geben würden und auch den 1,5 Millionen Palästinensern, die
israelische Staatsbürger sind, das Messer in den Rücken stechen.
Netanyahu ist bereit, Obamas Vorschlag anzunehmen, die arabischen
und anderen muslimischen Staaten in den Friedensprozess mit
einzubeziehen – eine Idee, die bis jetzt energisch von allen
israelischen Regierungen zurückgewiesen worden war. Aber das ist
genau noch eines der Kaninchen, das er von Zeit zu Zeit aus seinem
Hut herausziehen wird, um alles zu verzögern. Bevor Dutzende und
vielleicht mehr als fünfzig muslimische Staaten sich entscheiden,
sich dem Prozess anzuschließen, werden Monate, vielleicht Jahre
vergehen. Und in der Zwischenzeit verlangt Netanyahu von ihnen eine
Vorauszahlung in Form der Normalisierung, was bedeuten würde, dass
die ganze arabische und muslimische Welt ihre einzige Karte
aufgeben würde und für diese ohne im Gegenzug irgendetwas zu
erhalten. Purer Bakschisch!
Das ist Netanyahus Arbeitsplan.
HAT OBAMA einen eigenen Friedensplan? Wenn man all seine Statements
der letzten Tage zusammen nimmt, scheint es, als hätte er einen.
Wenn er von „zwei Staaten für zwei Völker spricht“, akzeptiert er
praktisch den Friedensplan, der jetzt weltweiter Konsens geworden
ist: diese Kernaussage ist Teil der von Bill Clinton in seinen
letzten Amtstagen festgelegten „Parameter“ des Saudischen
Friedensvorschlags und beinahe identisch mit dem Friedensplan der
israelischen Friedensbewegung (der Entwurf zum Friedensabkommen von
Gush Shalom, die Genfer Friedensinitiative, das Ayalon-Nusseibeh
Statement u.a.) .
Kurz gesagt: ein souveräner und lebensfähiger Staat Palästina Seite
an Seite mit Israel mit den Grenzen von vor 1967 mit geringem und
ausgehandelten Gebietswechsel, dem Abbau aller Siedlungen, die nicht
durch Gebietsaustausch an Israel angeschlossen werden,
Ost-Jerusalem als die Hauptstadt Palästinas und West-Jerusalem als
die Hauptstadt Israels, eine beiderseitig akzeptable Lösung des
Flüchtlingsproblems, eine sichere Passage zwischen der Westbank und
dem Gazastreifen und gegenseitige Sicherheitsvorkehrungen.
Mittlerweile gibt es weltweit einen wachsenden Konsens, dass der
einzige Weg, um die Räder für den Frieden wieder in Bewegung zu
bringen, bedingt, dass Obama seinen Friedensplan veröffentlicht und
beide Seiten dazu aufzuruft, ihn zu akzeptieren – wenn nötig
bestätigt durch Volksreferenden.
Er
könnte dies in seiner Rede tun, die er in zwei Wochen, während
seines ersten Aufenthaltes als Präsident im Nahen Osten in Kairo
halten soll. Es ist kein Zufall, dass er während seiner ersten
Präsidentenreise in den Nahen Osten nicht nach Israel kommt – das
ist für einen US-Präsidenten fast etwas Beispielloses.
Um
dies zu tun, muss er bereit sein, sich mit der mächtigen
Israel-Lobby anzulegen. Es sieht so aus, als wäre er dafür bereit.
Der letzte Präsident, der dies wagte, war Dwight D. Eisenhower, der
Israel zwang, den Sinai direkt nach dem 1956er-Krieg zurückzugeben.
„Ike“ war so populär, dass er sich nicht vor der Lobby fürchtete.
Obama ist nicht weniger beliebt, und vielleicht wird er es auch
wagen.
Wie „Teddy“ Rooseveldt andeutete: wenn man einen dicken Stock hat,
muss man ihn nicht schwingen. Dann kann man es sich leisten, sanft
zu reden.
Ich hoffe, Obama wird tatsächlich sanft reden – aber klar und
eindeutig.
(
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert)
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