Unentschieden
Uri Avnery, 29.1.05
Die zweite Intifada ist vielleicht zu Ende.
Vielleicht entwickelt sich die Feuerpause im Gazastreifen zu einem
allgemeinen, beidseitigen Waffenstillstand.
Für mich hat das Wort „Waffenruhe" einen
besonderen Klang. Als ich 1948 Soldat war, machte ich zweimal die
Erfahrung, was es heißt, auf eine Feuerpause zu warten. Jedes Mal
waren wir nach schweren Kämpfen, in denen viele Kameraden getötet
oder verwundet wurden, total erschöpft. Wir hofften aus tiefstem
Herzen, dass es tatsächlich zu einer Feuerpause kommen würde –
erlaubten uns aber nicht, daran zu glauben. In beiden Fällen brach
entlang der ganzen Frontlinie in den wenigen Minuten vor dem
angegebenen Zeitpunkt eine wahnsinnige Schießerei aus; jeder schoss
mit allem, was er hatte. Anscheinend – wie sich später herausstellte
- um im letzten Augenblick noch ein paar Vorteile zu erhaschen.
Und dann hörte das Schießen plötzlich auf.
Eine unheimliche Stille breitete sich aus. Wir schauten einander an
und sagten nicht, was in uns vorging: Wir sind gerettet. Wir sind am
Leben geblieben.
Ich verstehe deshalb die Gefühle der Kämpfer
auf beiden Seiten, die nun hoffen, dass die beidseitige Feuerpause
in Kraft treten - und halten wird. Nach vier und ein viertel Jahren
Kampf ist jeder erschöpft.
Die erste Frage nach dem Ende eines Kampfes
ist: Wer hat gewonnen?
Natürlich will jede Seite den Sieg für sich
beanspruchen. Die palästinensischen Organisationen werden erklären,
dass nur die Kassam-Raketen und die Mörsergranaten Israel zu einer
Feuerpause gezwungen hätten. Die Israelis werden behaupten, dass die
israelische Armee den Terror überwältigt und die Palästinenser
gezwungen habe, aufzugeben.
Wer hat also gewonnen? Keiner. Der Kampf
endete mit einem Unentschieden.
Die israelische Armee hat nicht gewonnen, da
es ihr nicht gelungen ist, den Angriffen ein Ende zu setzen,
geschweige denn „die Infrastruktur des Terror zu zerstören". Am
Vorabend der Feuerpause haben die Kassam-Raketen und die
Mörsergranaten das Leben in der Stadt Sderot in eine Hölle
verwandelt. Die Einwohner gestanden ein, dass sie kurz vor dem
Zusammenbruch stünden.
Außerdem hatten die palästinensischen
Organisationen eine neue Stufe erreicht, in der sie kompliziertere
Angriffe, wirkliche Guerillaaktionen ausführten. Dazu gehörte die
Zerstörung eines Armeepostens an der Philadelphi-Route, wo ein
Tunnel darunter in die Luft gesprengt wurde und der Posten selbst
gestürmt wurde. Ähnlich war der Angriff auf den Karni-Checkpoint mit
einer kombinierten Sprengung der Mauer und einem Angriff durch die
Kämpfer. Diese Angriffe erinnern an Aktionen des Irgun und der
Sterngruppe in den letzten Jahren der britischen Mandatszeit.
Unsere Armee hatte keine Antwort auf die
Kassam- und Guerilla-Aktionen. Was war nicht alles versucht worden?
Brutale Überfälle. Beschuss durch Panzer. Die Tötung der Kämpfer und
der zufällig in der Nähe Stehenden. Zerstörung von Tausenden von
Häusern. „Gezielte Liquidierungen" .
Nichts half. Da blieb nur noch die vom
Kabinettsminister Israel Katz im Fernsehen vorgeschlagene Methode:
die Städte des Gazastreifens zu bombardieren, die Grenze nach
Ägypten nur in einer Richtung zu öffnen und so Hunderttausende von
Einwohnern zur Flucht in die Sinaiwüste zu treiben. (Das war es, was
Moshe Dayan gegenüber den Städten am Suezkanal während des
Zermürbungskrieges in den späten 60ern tat.) Es ist berichtet
worden, dass Sharon selbst nach dem Karni-Vorfall vorschlug, die
Städte und Dörfer im Gazastreifen zu bombardieren. Aber heute ist so
etwas nicht möglich: weder die israelische noch die internationale
Öffentlichkeit würde dies tolerieren .
Die Wahrheit ist einfach: die Generäle sind
bankrott. Aber sie haben keinen Grund, sich zu schämen. Keine andere
Armee hat in den letzten 100 Jahren jemals einen solchen Kampf
gewonnen. Die Franzosen waren an denselben Punkt gekommen, trotz der
Folterungen von Tausenden von Männern und Frauen. Die Amerikaner
waren in Vietnam an denselben Punkt gekommen, obwohl sie zig Dörfer
verbrannten und deren Bewohner massakrierten. Selbst den Nazis
gelang es nicht, den französischen Widerstand zu brechen, obwohl sie
viele Geiseln exekutierten.
Unsere Generäle machten, wie viele Generäle
vor ihnen, den begreiflichen Fehler, in Begriffen des Krieges zu
denken. Aber dies war kein konventioneller Krieg. Ein Krieg ist eine
Konfrontation zwischen zwei Armeen, und es wird mit Methoden
gekämpft, die sich im Laufe von Jahrhunderten entwickelt haben. Die
Konfrontation zwischen einer Besatzungsarmee und Widerstandskräften
ist ganz anders. Die Fakten, die diese bestimmen, werden in keiner
Offiziersschule gelehrt.
Es stimmt, dass die israelische Armee zu
improvisieren versuchte und einige erhebliche Erfolge erzielte. Aber
sie konnte nicht gewinnen. Weil Sieg bedeutet, dass der Wille des
Gegners gebrochen wird und er den Widerstand aufgibt. Und genau das
geschah nicht.
Wenn dem so ist, haben dann die
palästinensischen Organisationen gewonnen?
Interessant ist, dass diese Frage nicht offen
gestellt wurde – nicht einmal von den Palästinensern selbst.
Zunächst einmal, weil es weltweit akzeptiert wurde, dass der
palästinensische Widerstand „Terrorismus" ist, und wer würde
behaupten wollen, dass der „Terrorismus" gewonnen habe. Um so mehr,
als die Palästinenser furchtbare Gräueltaten begangen haben – genau
wie die Israelis.
Auch im Propagandakrieg wetteifern Israelis
mit Palästinensern um eine Art Weltmeisterschaft: „Wer ist das
größte Opfer?" Jede Seite stellt sich als das letzte Opfer dar. Jede
Seite veröffentlicht Bilder mit getöteten Kindern, weinenden
Müttern, zerstörten Häusern.
Deshalb rühmen sich die palästinensischen
Sprecher des Kampfes ihrer Landsleute auch nicht. Sie vermeiden es,
auf die Tausende ihrer Kämpfer, die ihr Leben opferten, hinzuweisen
oder auf die Kinder, die sich mutig den Panzern entgegenstellten,
auf die Hunderte von Führern, die „liquidiert" wurden und für die
jedes Mal ein Ersatz gefunden wurde,( für die jeweils wieder ein
Ersatz gefunden wurde usw.). Darüber werden in zukünftigen
Generationen Bücher geschrieben, Lieder gesungen, Geschichten
erzählt werden.
Und noch etwas: die palästinensische
Gesellschaft ist nicht gebrochen worden. Israelische Panzer rollen
durch ihre Straßen, Hunderte von Straßensperren behindern die freie
Bewegung von Dorf zu Dorf, die Wirtschaft ist zusammengebrochen, die
meisten Männer sind arbeitslos, hunderttausend Kinder leiden an
Unterernährung. Und trotz alledem funktioniert die palästinensische
Gesellschaft wie durch ein Wunder - das Leben geht weiter. Weder
Müdigkeit noch Erschöpfung hat sie dahin gebracht, sich zu ergeben.
Bedeutet dies, dass die palästinensische Seite
gewonnen hat? Ihre Organisationen können behaupten, dass Sharon
nicht über den Rückzug aus dem Gazastreifen und die Evakuierung von
Siedlungen dort geredet hätte, wenn die Angriffe nicht stattgefunden
hätten. Das stimmt sicher. Aber Sharon denkt nicht im Traume daran,
die Westbank zu verlassen. Im Gegenteil, die Bautätigkeit in den
Siedlungen erreicht neue Höhepunkte, und der Landraub geschieht im
Schatten des „Trennungszaunes" mit vollem Schwung.
Das kann man keinen palästinensischen Sieg
nennen.
All dies weist auf einen toten Punkt hin. Die
israelische Armee weiß, dass sie die Palästinenser nicht mit
militärischen Mitteln besiegen kann. Die Palästinenser wissen, dass
sie die Besatzung nicht mit militärischen Mitteln bezwingen können.
Für die Palästinenser ist das Unentschieden
ein großer Erfolg. Die Ungleichheit zwischen beiden Seiten ist
immens. Wenn man allein die Stärke der Waffen und die Größe der
militärischen Kräfte berücksichtigt, ohne den moralischen Faktor in
Betracht zu ziehen, dann ist der israelische Vorteil astronomisch.
In solch einer Situation ist das Unentschieden ein Sieg für die
Schwachen.
Wir sollten dies ohne Zögern zugeben. Es ist
nicht klug, die palästinensische Seite als geschlagen und gebrochen
darzustellen. Nicht nur, weil es nicht stimmt, sondern weil es auch
schädlich wäre. Die Prahlerei der Armee-Propagandisten, Abu Mazen
habe unter dem israelischen Druck nachgegeben, ist bestenfalls dumm,
im schlimmsten Fall ist sie dafür bestimmt, die Palästinenser zu
erniedrigen und zu neuer Gewalt ( oder zu Wahnsinnsakten ) zu
provozieren . Der ägyptische Sieg zu Beginn des 1973 Krieges machte
es für Anwar Sadat leichter, mit Israel Frieden zu schließen. Der
palästinensische Stolz auf ihre Standhaftigkeit kann es für sie
annehmbarer machen, die Feuerpause einzuhalten.
Beide Seiten sind jetzt erschöpft. Das
palästinensische Leiden ist offenkundig. Das israelische Leiden ist
weniger sichtbar, aber nichtsdestoweniger real. Die Kosten der
Besatzung steigen in die Milliarden, hundert Tausende Israelis
gerieten unter die Armutsgrenze, die sozialen Dienste sind
zusammengebrochen, die ausländischen Investitionen haben sich nicht
erholt, der Stand des Tourismus ist erbärmlich. Und noch
bedeutsamer: während der Intifada haben 4010 Palästinensern und 1050
Israelis ihr Leben verloren.
Das ist der Hintergrund zu den letzten
Ereignissen. Beide Seiten brauchen die Feuerpause.
Aber der Waffenstillstand ist nur eine Pause –
kein Frieden an sich. Wenn sich in Israel – weil es die stärkere
Seite ist - die Weisheit durchsetzen würde, würden sofort
Verhandlungen über ein endgültiges Abkommen beginnen mit einem im
voraus übereingekommenen Ziel: ein palästinensischer Staat in den
besetzten Gebieten der Westbank, dem Gazastreifen und Ost-Jerusalem.
Wenn sich die Weisheit nicht durchsetzt ( und
in der Politik wäre der Sieg der Weisheit etwas Neues) wird die
Feuerpause enden wie viele Male vorher. Dann wird sie nur ein
Zwischenspiel zwischen zwei Kampfrunden sein.
Vor uns steht ein Schild, das in zwei
entgegengesetzte Richtungen weist: eine Seite zeigt in Richtung
Frieden, die andere in Richtung einer neuen gewalttätigen
Konfrontation.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom
Verfasser autorisiert)
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