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Das seltsame nationale Heim
Uri Avnery, 13.Mai
2017
DIE GEGENWÄRTIGE
israelische Regierungskoalition besteht aus 67 (von 120)
Mitgliedern der Knesset.
Jedes Mitglied
wünscht wieder (und wieder und wieder) gewählt zu werden.
Um wiedergewählt zu
werden, muss er die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich
ziehen.
Wie? Der einfachste
Weg ist, ein neues Gesetz vorzuschlagen. Eine Gesetzesvorlage so
skandalös , dass die Medien sie möglichst nicht ignorieren können .
Dies schafft einen
natürlichen Wettbewerb. Um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen,
muss jede neue Gesetzesvorlage ein wenig skandalöser sein als die
letzte. Der Himmel ist die Grenze. Vielleicht.
DIE LETZTE
Gesetzesvorlage, von einem Mitglied ausgedacht, der
Ex-Geheimdienstchef ist, wird „Israel der Nationalstaat des
jüdischen Volkes“.
In allgemeiner
Redeweise besteht das jüdische Volk aus allen Juden in der ganzen
Welt, mehr als die Hälfte von ihnen lebt außerhalb Israels und sind
Bürger von andern Staaten. Sie werden nicht gefragt, ob sie wollen,
dass der Staat Israel sie vertritt.
Tatsächlich werden
die israelischen Botschafter überall als eine Art inoffizieller
Oberherr von der lokalen jüdischen Gemeinschaft angesehen.
Und wie ist es mit
den arabischen Bürgern Israels, die etwas mehr als 20% darstellen?
Nun, sie bleiben Bürger, aber der Staat gehört ihnen nicht-
WAS SCHLÄGT
also die Gesetzesvorlage vor?
Als erstes
beseitigt sie den Status des Arabischen als eine „offizielle
Sprache“. Einen Status, den sie seit Israels Gründung hatte.
Hebräisch wird als offizielle Sprache herrschen – und zwar allein.
Israel hat keine
schriftliche Verfassung. Das Oberste Gericht hat eine Art virtueller
Verfassung geschaffen, die sich auf mehrere „Grundgesetze“ gründen.
Eine Knesset-Mehrheit kann jederzeit irgendeines von ihnen
abschaffen.
Die grundrechtliche
Hypothese ist bis jetzt folgende gewesen, dass Israel ein „jüdischer
und demokratischer Staat“ ist, beide Attribute von gleichem Wert.
Das neue Gesetz wird dies ändern. Beide Attribute werden intakt
bleiben, „Jüdisch“ wird bedeutender werden als „demokratisch“ und
übertrumpfen dies, wenn es einen Widerspruch gibt, was ja häufig
passiert.
In dieser Woche
verkündigte Benjamin Netanjahu, dass er diese Gesetzesvorlage
angenommen habe, und er will sie in zwei Monaten durch die Knesset
bringen. Kein Problem.
Kein Problem, weil
es grundsätzlich keine ideologische Opposition gibt.
Da ist natürlich
eine arabische Fraktion (die in drei Unterfraktionen aufgeteilt
ist: nationalistisch, religiös und kommunistisch). Aber die meisten
jüdischen Oppositions-Mitglieder würde man eher im Knesset-Cafe in
Gesellschaft mit einem fanatisch faschistisch jüdischen Mitglied als
mit einem arabischen sehen.
Wenn also Netanjahu
die Gesetzesvorlage durchboxen will, wird es tatsächlich das Gesetz
des Landes werden.
WAS BEDEUTET
„jüdisch“? Ist es eine nationale oder eine religiöse Bezeichnung?
Der
durchschnittliche Israeli wird mit „natürlich beides“ antworten.
Es kann entweder mit dem einen Sinn oder mit dem anderen Sinn
verwendet werden, wie es die Zweckmäßigkeit verlangt.
Der Zionismus war
grundsätzlich ein Prozess, der versuchte, eine alte ethno-religiöse
Gemeinschaft in eine moderne Nation zu verwandeln. Wenn die
Gesetzesvorlage sagt, dass Israel ein „nationaler Staat des
jüdischen Volkes“ sei, meint es alle Juden in aller Welt.
„Nation“ und „Volk“ (und Religion) werden als Synonyme betrachtet.
Wir sind alle Juden, nicht wahr?
Und wie ist es mit
dem US-Juden, der das Gefühl hat, er gehöre zur amerikanischen
Nation? Wie ist es mit dem kanadischen Juden, der ein kompletter
Atheist ist und für den sein Jüdisch-sein eine altmodische
Erinnerung an seine Großeltern ist. Oder ein hypothetischer
schwarzer Südafrikaner, dessen Eltern durch ihre weißen jüdischen
Herren zum Judentum übergetreten sind? Oder ein russischer Jude,
dessen Eltern den orthodox-christlichen Glauben angenommen haben?
Sie sind Juden, und
zwar alle. Das jüdisch religiöse Gesetz sagt, dass „ein Jude, selbst
dann, wenn er eine Sünde begeht, ein Jude bleibt. Den
christlichen - oder einen anderen - Glauben anzunehmen, ist
sicherlich eine Sünde, aber der Konvertit bleibt ein Jude, ob er es
will oder nicht.
Der Nation-Staat
des jüdischen Volkes gehört ihnen allen. Oder vielmehr sie gehören
alle dem Nation-Staat des jüdischen Volkes.
ALL DIES
hat sehr wenig mit der ursprünglichen zionistischen Ideologie zu
tun.
Theodor Herzl, eine
durch und durch naive Person, glaubte, dass alle Juden in der Welt
in den jüdischen Staat kommen würden. Also jene, die nicht kommen,
werden aufhören, Juden zu sein.
Selbst für David
Ben Gurion, einem frühen Zionisten, war die Idee, dass ein
amerikanischer zionistischer Führer weiter in den USA leben kann,
eine Abscheulichkeit. Seine Kollegen hatten eine harte Zeit, ihn zu
überzeugen, dass es eine schlechte Taktik sei, dies den
amerikanischen Juden vorzuwerfen, wenn man ihr Geld benötigt.
Ben Gurion würde
sicher nicht mit einer Definition einverstanden gewesen sein, dass
man Israel – sein Israel!- in einen Staat dieser Juden verwandelt
hat und dass sie Quasi-Bürger des jüdischen National-Staates
seien. Gott (an den er nicht glaubte) bewahre!
UND WIE
ist es mit den säkularen Juden in Israel?
Nun die erste Frage
wäre, ob es wirklich „säkulare“ Juden in Israel gibt.
Alle Juden, die in
Israel aufwachsen, sind Produkte des jüdischen Bildungssystems, dass
sich auf die Bibel gründet. Dies schafft in ihrer Gesinnung
ideologische Gewissheiten, die nicht gelöscht werden können.
Das Volk von Israel
wurde in einer Konversation zwischen Gott und Abraham an einem Ort
geboren, der heute im Irak liegt. Dies ist natürlich eine Legende
wie ein großer Teil der hebräischen Bibel, einschließlich der
Vorväter, des Exodus und des Königreiches von David und Salomo . Sie
werden widerlegt - unter anderem - durch ihre völlige
Abwesenheit in der voluminösen Korrespondenz der ägyptischen
Herrscher im Land Kanaan.
Aber historische
Beweismittel sind hier unwichtig. Tatsache ist, dass jedes jüdische
Kind in Israel die Bibel tief in seinem Bewusstsein trägt. Das
bedeutet: Juden sind etwas Besonderes. Juden sind einzigartig. Es
gibt „sie“ und „uns“. Die ganze Welt ist gegen uns.
Mein Freund Reuven
Wimmer hat mir eine Liste des grundsätzlichen Glaubens eines
durchschnittlichen „säkularen“ Israeli geschickt:
1.
Er hält den Shabbat
nicht ein. Er fährt Auto, kauft ein, reist und geht am heiligen Tag
zur Küste.
2.
Aber er glaubt an
Gott.
3.
Er isst nicht
koscher, bevorzugt aber koschere Restaurants.
4.
Er geht wenigstens
einmal im Jahr – an Jom Kippur – in die Synagoge.
5.
Er heiratet und
lässt sich im Rabbinat scheiden.
6.
Er mag die Araber
nicht besonders.
7.
Er möchte nicht als
„Linker“ bezeichnet werden, aber stimmt nicht für die Rechte.
8.
Er mag nicht, dass
Staat und Religion getrennt werden.
9.
Er dient in der
Armee, liebt die Armee und ist stolz auf den Staat.
10. Er
ist für zwei Staaten für zwei Völker, vorausgesetzt, dass die
Siedlungen nicht beeinträchtigt werden.
11. Er
nimmt nicht an Demonstrationen oder anderen politischen Aktivitäten
teil.
Da dies so ist,
kann kein wirklicher Protest gegen die Gesetzesvorlagen erwartet
werden. Wir nennen uns also „National-Staat des jüdischen Volkes“.
Halleluja. (Für die, die kein Hebräisch kennen: Halleluja ist
hebräisch und heißt: „Lobe Gott“)
WIE LAUTET
nun das Schlusswort über die zwei Millionen Araber, die Bürger des
Nationalstaates des jüdischen Volkes sind?
Bis jetzt gibt es
kein Aufmerksamkeits-gieriges Knesset-Mitglied, das eine
Gesetzvorlage ausgeheckt hat, die ihnen ihre Bürgerschaft wegnimmt.
Sie werden also
Bürger des Staates bleiben, der einem anderen Volk gehört.
Wenigstens vorläufig noch.
Wir werden einen
Nationalstaat für das jüdische Volk haben, in dem die Mehrheit der
Juden aus aller Welt keine Bürger sind und in dem zwei Millionen
nicht-jüdische Araber Bürger sind, in deren „ewiger Hauptstadt“
Jerusalem, einige Hunderttausend arabische Einwohner leben, die
keine Bürger sind, die die Westbank mit etwa 2,5 Millionen Arabern
besetzt und die indirekt noch zwei Millionen Araber im Gazastreifen
beherrscht. Alles zusammen genommen: In diesem historischen
Palästina leben jetzt 7 Millionen Juden und etwa 7 Millionen Araber.
Ein seltsamer Nationalstaat. (dt. Ellen Rohlfs, vom
Verfasser autorisiert)
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