Passion und
Antisemitismus
Gedanken zum Film von Gibson
Ein Brief an Präsident Arafat
Uri Avnery, 3.4. 04
Lieber Herr Präsident,
Shalom!
Ich schreibe diese Zeilen, um
gegen eine Erklärung zu protestieren, die ich nicht ignorieren kann. Im
palästinensischen Wochenblatt, The Jerusalem Times, erschien am 28.März
ein kurzer Artikel, in dem berichtet wird, dass Sie sich den kontroversen
Film von Mel Gibson „Die Passion Christi“ angesehen hätten. Danach hätte
Ihr Berater und vertrauter Assistent Nabil Abu-Rudeina erklärt, dass Sie
diesen Film „bewegend und historisch“ gefunden hätten. Abu Rudeina fügte
hinzu, dass „die Palästinenser noch täglich dieser Art Schmerzen
ausgesetzt seien, die Jesus während seiner Kreuzigung erlitten hatte.“
Wenn diese Erklärung nicht in
einer palästinensischen Zeitung erschienen wäre, hätte ich geglaubt, das
wäre eine Erfindung von Ariel Sharons Propaganda-Apparat gewesen. Man kann
sich kaum einen Satz vorstellen, der der palästinensischen Sache mehr
schaden könnte.
Ich habe große Achtung vor Abu
Rudeina. Ich schätze seine Loyalität gegenüber der palästinensischen Sache
und gerade Ihnen persönlich gegenüber. Er blieb an Ihrer Seite während der
Belagerung Ihres Gebäudekomplexes und schwebt dort – genau wie Sie –
täglich in Lebensgefahr.
Aber diese Erklärung hätte man
nicht abgeben dürfen.
Ich habe den Film nicht gesehen
und beabsichtige auch nicht, ihn mir anzusehen. Ich verabscheue
Grausamkeiten, auch im Film, und dieser Film ist voll mit grausamen
Szenen, die angeblich das Neue Testament auf die Filmwand projizieren.
Offensichtlich gibt es einen großen Unterschied darin, ob man einen
geschriebenen Text liest oder ob man ihn als Film mit lebensnah
dargestellten Gräueltaten sieht, in denen Blut wie Wasser fließt.
Aber das ist nicht das
Wesentliche.
Von einem Araber und Muslim
erwartet man nicht, dass ihm die schreckliche Auswirkung der Beschreibung
der Kreuzigung Christi auf das Leben der Juden bewusst ist und zwar auf
fast 2000 Jahre lange Verfolgungen, Pogrome, Folter durch die Spanische
Inquisition, Massenvertreibungen, Massen- und individuellen Mord bis zum
Holocaust, in dem sechs Millionen Juden umgebracht wurden. All dieses
wurde direkt oder mindestens indirekt durch diese Narrative (Erzählung)
möglich gemacht.
Das Neue Testament ist für seine
Anhänger ein heiliges Buch. Aber wie unsere Bibel, das sog. Alte
Testament, ist es kein historischer Text. Religiöse Wahrheit und
historische Wahrheit sind nicht ein und dasselbe. Die Beschreibung der
Kreuzigung in den vier Evangelien wurde viele Jahrzehnte nach den
beschriebenen Ereignissen aufgeschrieben. Und die Schreiber schrieben das,
was sie schrieben, unter dem Einfluss der zeitgeschichtlichen Umstände.
Nehmen wir z.B. die Gestalt des
römischen Herrschers Pontius Pilatus. In der römischen Geschichte
erscheint er als skrupelloser, korrupter und grausamer Prokurator. Im
Neuen Testament wird er als humane Person dargestellt, fast ein Philosoph,
der Jesus nicht verurteilen wollte, der aber den Juden nachgab. In Gibsons
Film ist er eine attraktive Gestalt, der von den abscheulichen – auch
äußerlich abscheulichen - Juden gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu
handeln
Warum diese Beschreibung? Als der
Text geschrieben wurde, versuchten die Christen gerade, die römische Welt
zum christlichen Glauben zu bekehren. Deshalb passte es in ihr Konzept,
den Juden die Schuld zu geben und die Römer zu entlasten – völlig
gegensätzlich zu den Realitäten zur Zeit Jesu. Die Juden von damals waren
– wie die Palästinenser heute – ein besetztes Volk und die Römer waren die
Besatzungsmacht. Kreuzigung war eine übliche römische Strafe, eine Art
„gezielte Tötung“ jener Zeit ( allerdings nach einer
Gerichtsverhandlung).
Die Schreiber der Evangelien waren
voller Hass gegen die Juden, was wiederum nicht überraschend war. Sie
waren selbst Juden, wie Jesus und alle Leute um ihn herum. Doch gehörten
sie einer anders denkenden Sekte an, die vom jüdischen Establishment
damals in Jerusalem als häretisch betrachtet wurde. Die christlichen Juden
wurden grausam verfolgt. Wie in solch brudermörderischen Kämpfen üblich,
erhob sich glühender Hass. Dieser Hass fand seinen Ausdruck in der
Beschreibung der Kreuzigung.
Im Matthäus-Evangelium (Kapitel
27) heißt es: „ ... Da sie versammelt waren, sprach Pilatus zu ihnen: „Was
soll ich denn mit Jesus tun, von dem gesagt wird, er sei der Christus?“
Sie sprachen alle: „Lass ihn kreuzigen!“ Der Landpfleger sagte: „Was hat
er denn Übles getan?“ Sie schrieen aber noch mehr und sprachen: „Lass ihn
kreuzigen!“ Da aber Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete, sondern
vielmehr ein Getümmel entstand, nahm er Wasser und wusch die Hände vor dem
Volk und sprach: „Ich bin unschuldig am Blut dieses Gerechten. Seht ihr
zu!“
Da antwortete das ganze Volk und
sprach: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!““
Dies ist offensichtlich keine
historische Beschreibung. Ein ganzes Volk oder eine große Menge kann nicht
wie eine einzelne Person reden. Dieser Satz: „Sein Blut komme ... über
unsere Kinder!“ ist unglaubhaft und wurde eingefügt, um die Rache an
vielen Generationen zu rechtfertigen. Und tatsächlich, viele Generationen
von Demagogen gebrauchten dies Wort, um gegen die „Gottesmörder“
aufzuhetzen.
Adolf Hitler war kein fanatischer
Christ – ganz im Gegenteil. Einige seiner Anhänger versuchten sogar,
heidnische germanische Riten wieder einzuführen. Aber Hitler und die
Vollstrecker des Holocaust hatten im Religionsunterricht der Schule das
Neue Testament gelesen. Und keiner kann sagen, wie viel von diesem Text
unbewusst weiterwirkte. Und viele einfache Fundamentalisten akzeptierten
den Holocaust oder beteiligten sich deswegen an ihm.
Ich habe nicht die Absicht, die
ganze christliche Welt durch die Jahrhunderte anzuklagen. Weit entfernt
davon. Viele der größten Humanisten im Laufe der Geschichte waren
Christen, einige von ihnen sehr gläubige. Christen waren nicht nur
Vollstrecker des Holocaust, unter ihnen waren auch Gerechte, die Juden
retteten. Christliche Klöster an vielen Orten nahmen Juden auf und
retteten sie so.
Jesus predigte die Liebe, und das
Neue Testament stellt ihn als eine äußerst sympathische Person dar:
gerecht, barmherzig und tolerant. Es ist erschreckend, dass so viele
Gräueltaten der Geschichte durch Personen und Institutionen ausgeführt
wurden, die vorgaben, sie handelten in seinem Namen.
Sie, Herr Präsident, als Araber
und Muslim, sind stolz auf die Tatsache, dass länger als ein tausend Jahre
lang die muslimische Welt gegenüber Juden und Christen ein Vorbild der
Toleranz war. In der muslimischen Welt hat es niemals Massenvertreibungen
und Pogrome gegeben, die – ganz abgesehen vom furchtbaren Holocaust - ein
Charakteristikum der Christenheit waren.
Die Blutbande zwischen Muslimen
und Juden finden sich während der ganzen Geschichte. Eines der dunkelsten
Kapitel der Vergangenheit dieses von uns beiden geliebten Landes ist die
Zeit der Kreuzfahrer. Schon auf ihrem Weg ins Heilige Land begingen die
Kreuzfahrer einen Genozid an den Juden im Rheinland. Als sie die Mauern
Jerusalems durchbrochen hatten, brachten sie die ganze Bevölkerung der
Stadt um, Männer und Frauen, alte Leute und kleine Kinder. Einer von ihnen
erzählte stolz, dass sie bis zu ihren Knien in Blut gewatet wären. Es war
das Blut von Muslimen und Juden, die zusammen abgeschlachtet wurden. Ihre
letzten Gebete mischten sich auf dem Weg zum Himmel.
Nach dem Fall Jerusalems hielt
Haifa noch eine Weile gegen die Kreuzfahrer stand. Die meisten seiner
Einwohner waren Juden, die Seite an Seite mit der ägyptischen Besatzung
kämpfte. Die Muslime versorgten sie mit Waffen - und nach einem
christlichen Chronisten –kämpften die Juden tapfer. Als die Stadt fiel,
mordeten die Kreuzfahrer die restlichen Juden und Muslime.
Vierhundert Jahre später, nachdem
die Christen Spanien von den Muslimen zurückerobert hatten, vertrieben sie
Juden und Muslime. Nach dem Goldenen Zeitalter, der wunderbaren
kulturellen Symbiose von Muslimen und Juden im mittelalterlichen
muslimischen Spanien, erlitten Muslime und Juden das gleiche Schicksal.
Fast alle vertriebenen Juden siedelten sich in muslimischen oder von
Muslimen regierten Ländern an.
Lassen wir es nicht zu, dass der
gegenwärtige zwischen unseren beiden Völkern mit all seiner Grausamkeit
geführte Konflikt die Vergangenheit überschattet, weil dies die Grundlage
für unsere gemeinsame Zukunft ist.
Das gegenwärtige Leid des
palästinensischen Volkes hat nichts mit dem zu tun, was vor etwa 1973
Jahren geschehen oder nicht geschehen ist.
Wenn es überhaupt eine Verbindung
gibt, dann ist es genau umgekehrt. Ohne den modernen christlichen
Antisemitismus der letzten 200 Jahre wäre die zionistische Bewegung gar
nicht zustande gekommen. Wie ich schon früher erwähnt habe, stellte der
Gründer der zionistischen Bewegung, Theodor Herzl, ausdrücklich fest, dass
die Gründung eines jüdischen Staates die einzige Möglichkeit sei, die
europäischen Juden zu retten. Der Antisemitismus war und ist die Kraft,
die Juden nach Palästina treibt.
Ohne Antisemitismus, wäre die
zionistische Vision eine abstrakte Idee geblieben. Vom Pogrom in Kischinev
über den Holocaust zum Antisemitismus in Russland, der erst vor kurzem
mehr als eine Million Juden nach Israel trieb, war und bleibt der
Antisemitismus der gefährlichste Feind des palästinensischen Volkes. In
der Redewendung, dass die Palästinenser „ die Opfer der Opfer“ seien,
steckt viel Wahrheit.
Außer den moralischen Gründen ist
dies ein zusätzliches Argument gegen die Erklärung über die Kreuzigung,
die von Antisemiten als Ermutigung für ihre Sache konstruiert werden kann.
Wenn der Frieden kommt, werden wir
uns alle - Juden, Christen und Muslime - in Jerusalem treffen. Ich weiß,
dass Sie - genau wie ich - davon träumen. Hoffen wir, dass wir beide dies
noch erleben werden.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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