Wen wählen?
Uri Avnery, 19.1.13
IN DREI Tagen werden
die Wahlen stattfinden, und sie sind langweilig, langweilig,
langweilig.
Tatsächlich so
langweilig, dass sogar über ihre Langweiligkeit zu reden, langweilig
ist.
Aus Mangel an
irgendeiner Debatte über die wirklichen Probleme werden
Medienexperten dahingehend reduziert, dass sie nur die Wahlsendungen
diskutieren. Einige sind gut, einige mittelmäßig, einige grauenhaft.
Als ob dies ein Wettbewerb zwischen schönrednerischen
Pressesprechern, Werbetextern und „Taktikern“ mit einer
Öffentlichkeit wäre, die nur danebensteht.
WO IMMER ich auch
Leuten begegne, werde ich wirklich besorgt gefragt: „Ich weiß nicht,
wen ich wählen soll! Es gibt keine Partei, die ich wirklich
schätze!“ und dann die Frage, die ich fürchte: „Was raten Sie mir,
wen soll ich wählen?“
Ich habe alle
vergangenen 18 Knessetwahlen ernsthaft verfolgt, außer der ersten,
weil ich noch Soldat war. In mehreren war ich selbst ein Kandidat.
Ich habe immer über die geschrieben, die ich bevorzuge, aber ich
habe meinen Lesern nie gesagt, wie sie abstimmen sollen.
So werde ich es auch
diesmal tun.
ALS ERSTES: es ist
ein absoluter Imperativ zur Wahl zu gehen, es ist nötiger als je.
Es geht nicht um ein „Festgelage der Demokratie“, nicht um „zivile
Pflicht“ und Ähnliches Bla-bla-bla. Es ist eine lebenswichtige
Notwendigkeit.
Eine Nicht-Stimme ist
– schlicht und einfach - eine Stimme für Benjamin Netamjahu und
seine Anhänger. Wie es jetzt aussieht, wird mehr als die Hälfte der
Mitglieder der 19. Knesset zur extremen Rechten und darüber hinaus
gehören, von denen - ehrlich gesagt - mindestens ein Dutzend
Faschisten sind.
Nicht zu wählen
bedeutet, sie sogar zu stärken.
Dies gilt besonders
für die arabischen Mitbürger. Die Meinungsumfragen sagen voraus,
dass fast die Hälfte von ihnen gar nicht wählen gehen wird. Dafür
gibt es viele Gründe: ein allgemeiner Protest gegen den „jüdischen“
Staat, Protest gegen die Diskriminierung, Hoffnungslosigkeit, dass
sich nichts ändert, Missbilligung der „arabischen“ Parteien u.a.m.
Das sind alles gute Gründe.
Aber Enthaltung
bedeutet, dass die arabischen Bürger sich selbst schaden. Wenn ihre
Situation jetzt schlecht ist, kann sie noch viel, viel schlechter
werden. Das Oberste Gericht, das sie gewöhnlich schützt, kann bis
zur Ohnmacht eingeschüchtert werden. Diskriminierende Gesetze können
stark vermehrt werden.
Einige von weit
rechts wollen ihnen das Recht zu wählen ganz nehmen. Warum ihren
Wunsch freiwillig erfüllen?
GEHEN WIR zur
aktuellen Wahl.
Meine Methode ist es,
alle miteinander wetteifernden Wahllisten in einer wahllosen Reihe
zu notieren.
Dann streiche ich all
jene aus, die ich nicht wähle, auch wenn mein Leben davon abhängen
würde. Das ist der leichte Teil.
Als erstes gibt es
den Likud-Beitenu. Der Likud allein ist schon schlimm genug. Die
Zusammenlegung mit Avigdor Liebermans Partei Israel Beitenu macht
ihn sogar noch destruktiver.
Ich stimme mit
Präsident Barack Obama überein, dass Netanjahu uns in eine sichere
Katastrophe führt. Diese totale Zurückweisung des Friedens, die
Obsession mit den Siedlungen, die Intensivierung der Besatzung – all
dies macht Israel (Israel selbst, auch ohne die besetzten Gebiete)
unaufhaltsam zu einem Apartheidstaat. Schon während der ausgehenden
Knessetperiode sind abscheuliche antidemokratische Gesetze
verabschiedet worden. Nun, da all die moderaten Likudmitglieder
entfernt worden sind, wird sich dieser Prozess weiter
beschleunigen.
Mit Lieberman und
seinen Gefolgsleuten, die sich dem Likud angeschlossen haben, sehen
die Dinge sogar noch gefährlicher aus. Netanjahu wird noch extremer
handeln müssen, aus Angst, die Führung an Lieberman zu verlieren,
der jetzt die Nummer Zwei ist. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass
es Liebermann noch gelingen wird, ihn irgendwann unterwegs zu
ersetzen.
Das Auftauchen von
Naftali Bennet als der Stern der Wahlen, macht die Sache
noch verzweifelter. Es scheint, eine Regel zu sein, dass auf der
israelischen Rechten keiner so extrem ist, dass nicht ein anderer
gefunden werden kann. der noch extremer ist.
DIE NÄCHSTE Gruppe,
die von der Liste gestrichen wird, ist die religiöse. Sie besteht
hauptsächlich aus zwei Parteien, der ashkenazischen „Torah
Judentum“-Partei und der orientalisch-sephardischen Shas-Partei.
Beide pflegten, was
Krieg und Frieden betrifft, ganz moderat zu sein. Aber diese
Zeiten sind seit langem vorbei. Generationen aus engstirnig
ethnozentrischer, fremdenfeindlicher Erziehung haben eine
Parteiführung fanatischer nationalistischer Rechten erzeugt. Auch
Bennett wurde in diesem Lager erzogen.
Als ob dies noch
nicht genug wäre: diese Parteien wollen uns die jüdische Halacha
überstülpen, so wie die muslimischen Parteien der arabischen Welt
die Sharia aufzwingen möchten. Sie sind fast automatisch gegen alle
fortschrittlichen Ideen, wie z.B. eine schriftliche Verfassung,
Trennung von Synagoge und Staat, zivile Heiraten,
gleichgeschlechtliche Ehen, Abtreibung und was es sonst noch gibt.
Weg mit der Liste.
VON GANZ anderem
Kaliber sind die selbsternannten „Zentrums“-Parteien.
Die größte ist die
Labor-Partei unter Shelly Yachimovich, die jetzt etwa bei 15% liegt.
Ich muss bekennen,
Shelly mochte ich nie sehr, doch das soll meine Wahl nicht
beeinflussen. Sie kann sich mehrerer Erfolge rühmen (Und sie tut es
auch). Sie hat eine moribunde Partei übernommen und brachte sie
wieder zum Leben. Sie hat neue und attraktive Kandidaten gefunden.
Das Problem ist, dass
sie mitgeholfen hat, den Frieden von der nationalen Agenda zu
streichen. Sie hat bei den Siedlern und ihren Verbündeten
Annäherungsversuche gemacht. Obwohl sie Lippenbekenntnisse zur
Zwei-Staaten-Lösung gab, hat sie absolut nichts getan, um diese zu
fördern. Ihre einzige Sorge galt der „sozialen Gerechtigkeit“.
Sie hat zwar
versprochen, nicht in eine Netanjahu-Lieberman-Regierung
einzutreten, aber Erfahrung lehrt, dass man vor der Wahl geäußerte
Versprechen nicht allzu ernst nehmen sollte – da lauert immer ein
„nationaler Notfall“ um die nächste Ecke. Aber selbst als
Vorsitzende der Opposition kann ein Friedensleugner eine Menge
Schaden anrichten. Tut mir leid – diese Partei ist auch nichts für
mich.
Shellys
Hauptkonkurrentin ist Zipi Livni. So wie es aussieht, ist Livni
genau das Gegenteil von ihr. Ihr Haupt- und fast einziges
Wahlargument ist die Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Mahmoud
Abbas.
Sehr gut, aber Zipi
und ihr früherer Boss, Ehud Olmert, waren fast vier Jahre an der
Macht, während derer sie zwei Kriege anstifteten (Libanon II und
Cast Lead im Gazastreifen) – und nicht einmal in die Nähe zum
Frieden kamen. Warum soll man ihr jetzt glauben?
Ich habe von Zipi
kein einziges Wort der Sympathie oder des Mitgefühls für das
palästinensische Volk gehört. Mein Verdacht ist, dass sie wirklich
an einem „Friedensprozess“ interessiert ist, aber nicht am Frieden
selbst.
EIN INTERESSANTER
Charakter bei diesen Wahlen ist Yair Lapid. Wofür steht er? Er sieht
gut aus. Früher war er ein Fernsehansager. Er stand für gutes
Fernsehen, das einzige Schlachtfeld bei diesen Wahlen. Sein Programm
gleicht dem des amerikanischen „Mutterschaft und Apfelkuchen“.
Er erinnert mich an
Groucho Marx: „ Dies sind meine Prinzipien. Wenn du sie nicht magst,
ich hab auch noch andere.“
Für mich ist er „Diät
Lapid“ verglichen mit seinem verstorbenen Vater „Tommy“ Lapid, der
auch vom Fernsehen zur Politik kam. Vater Lapid war ein viel
komplizierterer Charakter: sehr sympathisch beim persönlichen
Kontakt, sehr aggressiv im Fernsehen, ein extremer Rechter in
nationalen Dingen und ein extremer Feind des religiösen Lagers.
Sein Sohn bittet nur: stimm‘ für mich, ich bin ein netter Kerl.
Er macht aus seinem
Verlangen kein Geheimnis, unter Netanjahus Regierung ein Minister zu
werden. Tut mir leid, diese Partei ist auch nicht für mich.
WENN MAN die
arabisch-nationale Listen ignoriert, die an jüdischen Stimmen nicht
interessiert sind, und jene Listen, von denen nicht erwartet werden
kann, dass sie die 2%.Hürde schaffen, dann bleiben nur noch zwei
Kandidaten auf der Liste: Hadash und Meretz.
Beide sind nahe an
dem, von dem ich denke, dass es richtig ist: sie sind aktiv im Kampf
um Frieden mit dem palästinensischen Volk und für soziale
Gerechtigkeit engagiert.
Welche soll man
wählen?
Hadash ist im Grunde
das öffentliche Gesicht der kommunistischen Partei. Sollte mich das
abschrecken?
Ich bin nie Kommunist
oder Marxist gewesen. Ich würde mich als Sozialdemokrat bezeichnen.
Ich habe viele Erfahrungen mit der Kommunistischen Partei, einige
positive und viele negative. Es fällt mir nicht leicht, ihre
orthodoxe stalinistische Vergangenheit zu vergessen. Aber das ist
nicht der Punkt. Wir wählen nicht für die Vergangenheit, sondern für
die Zukunft.
Hadash definiert sich
selbst - und das spricht für sie - als eine gemeinsame
arabisch-jüdische Partei, die einzige gemischte. (Die Partei, die
ich 1984 mit zu gründen half, hat nach acht Jahren ihren Schwung
verloren und verschwand.) Jedoch für die große Mehrheit der Israelis
ist es eine „arabische Partei“, da mehr als 95% ihrer Wähler Araber
sind. Sie hat zwar ein jüdisches Knesset-Mitglied, den sehr aktiven
und lobenswerten Dov Chanin. Wenn er an der Spitze einer eigenen
Liste stünde, könnte er viele junge Wähler anziehen und - durchaus
denkbar - die Wahllandschaft verändern.
ALLES in ALLEM
bevorzuge ich Meretz, wenn auch nicht mit Begeisterung.
Um diese 1973
gegründete Partei gibt es etwas Altes und Trostloses. Sie sagt all
die richtigen Dinge über Frieden und soziale Gerechtigkeit, über
Demokratie und Menschenrechte. Aber sie sagt es in einem müden und
lustlosen Ton. Es gibt keine neuen Gesichter, keine neuen Ideen,
keine neuen Slogans.
Eine große Anzahl
führender Intellektueller, Schriftsteller und Künstler haben
öffentlich dazu aufgerufen für Meretz zu stimmen. (Die Partei tat
sich schwer, in diese Liste auch Linke ohne klare „zionistische“
Referenzen aufzunehmen.)
Im Großen und Ganzen
gesehen, ist Meretz unter den gegebenen Umständen noch die beste
Wahl. Eine bedeutende Zunahme ihrer Präsenz in der Knesset würde
wenigstens Hoffnung für die Zukunft wecken.
UND ES ist die
Zukunft, die zählt. Am Tag nach diesen katastrophalen Wahlen sollten
die Bemühungen, eine andere Wahllandschaft zu schaffen, beginnen.
Niemals wieder sollten wir mit solch einem Dilemma konfrontiert
werden.
Hoffen wir, dass wir
in nächster Zeit – die sehr bald sein könnte – die Chance haben, mit
Begeisterung eine dynamische Partei zu wählen, die unsere
Überzeugungen und Hoffnungen verkörpert.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)