Der Marsch der Torheit
Uri Avnery,
8.September 2012
NICHTS
KÖNNTE beängstigender sein, als der Gedanke, dass dieses Duo –
Benjamin Netanjahu und Ehud Barak - in einer Position ist, den
Beginn eines Krieges zu entscheiden, dessen Dimensionen und Folgen
unberechenbar sind.
Es ist nicht nur beängstigend wegen ihrer
ideologischen Fixierungen und psychischen Eigenschaften, sondern
auch wegen ihres Intelligenzgrades.
Der letzte Monat gab uns ein kleines Beispiel. Dies
allein wäre nur eine flüchtige Episode. Aber als Illustration für
ihre Entscheidungsfähigkeit war es erschreckend genug.
DIE ROUTINE-Konferenz der Bewegung der blockfreien
Staaten sollte in Teheran stattfinden. 120 Staaten versprachen zu
kommen, viele von ihnen durch ihren Präsidenten oder ihre
Ministerpräsidenten vertreten.
Das waren für die israelische Regierung schlimme
Nachrichten. Sie hatte während der letzten drei Jahre viele ihrer
Energien den hartnäckigen Bemühungen gewidmet, den Iran zu
isolieren – während der Iran sich nicht weniger hartnäckig darum
bemühte, Israel zu isolieren.
Als ob der Konferenzort nicht schon schlimm genug
wäre, verkündete der UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon, er werde auch
daran teilnehmen. Und als ob dies noch nicht schlimm genug wäre,
versprach der neue Präsident Ägyptens Mohammed Mursi, auch er werde
kommen.
Netanjahu sah sich einem Problem gegenüber: wie
sollte er reagieren?
WENN EIN weiser Experte gefragt worden wäre, hätte
der zurückgefragt: Warum überhaupt reagieren?
Die Blockfreien- Bewegung ist eine leere Nussschale.
Sie wurde vor 51 Jahren gegründet, auf der Höhe des Kalten Krieges,
von Nehru von Indien, Tito von Jugoslawien, Sukarno von Indonesien
und Abd-al-Nasser von Ägypten. 120 Nationen verbündeten sich. Sie
wollten einen Kurs zwischen dem amerikanischen und dem Sowjet-Block
nehmen.
Seit damals haben sich die Umstände vollständig
verändert. Die Sowjets sind verschwunden, und die USA sind auch
nicht mehr, was sie waren. Tito, Nasser und Sukarno sind alle tot.
Die Blockfreien haben keine richtige Funktion mehr. Aber es ist viel
leichter, eine internationale Organisation aufzubauen, als sie
wieder aufzulösen. Ihr Sekretariat liefert Jobs, ihre Konferenzen
liefern Foto-Gelegenheiten, die Weltführer reisen und reden gern.
Wenn Netanjahu still gewesen wäre, hätten die
Weltmedien das Nicht-Ereignis einfach ignoriert. CNN und Aljazeera
mochten ihm aus Höflichkeit volle drei Minuten gewidmet haben, und
das wär’s dann gewesen.
Aber für Netanjahu ist, still zu sein, keine Option.
Also tat er etwas ausgesprochen Törichtes:
Er sagte zu Ban Ki-Moon, er solle nicht nach Teheran
gehen. Genauer gesagt, er befahl ihm, nicht hinzugehen.
Der vorhin erwähnte weise Experte – falls er
existiert – hätte Netanjahu gesagt: Tu es nicht! Die Blockfreien
sind mehr als 60% der UN-Mitglieder. Ban möchte zu gegebener Zeit
wieder gewählt werden, und er wird 120 Wähler auch nicht
beleidigen, genau so, wie du nicht 80 Mitglieder der Knesset
beleidigen würdest. Seine Vorgänger haben an allen früheren
Konferenzen teilgenommen. Er kann sich jetzt nicht weigern –
besonders nicht, nachdem du öffentlich einen Befehl gegeben hast.
Dann war Mursi dort. Was soll mit ihm geschehen?
Wenn ein anderer weiser Experte – dieses Mal für
Ägypten – gefragt worden wäre, so hätte er denselben Rat gegeben:
Lass es sein!
Ägypten will seine Rolle als Führer der arabischen
Welt wieder gewinnen und zwar als Akteur auf der internationalen
Bühne. Der neue Präsident, ein Mitglied der Muslimischen
Bruderschaft will sicher nicht als jemand angesehen werden, der
israelischem Druck nachgibt.
Also ist es besser, einen Frosch zu verschlingen –
oder sogar zwei – als töricht zu handeln, wie es eine hebräische
Redensart ausdrückt.
ABER NETANJAHU könnte solchem Ratschlag nicht folgen.
Es wäre gegen seine Natur. Also proklamieren er und sein Assistent
laut – sehr laut - dass die 120 anwesenden Länder Irans Bemühungen,
Israel zu vernichten, unterstützen und dass Ban und Mursi für einen
zweiten Holocaust werben.
Statt den Iran zu isolieren, hilft Netanjahu dem
Iran, Israel zu isolieren.
Um so mehr als Ban und Mursi die Teheranbühne
benützen, um die iranische Führung und deren syrische Verbündeten zu
geißeln. Ban verurteilte Ahmadinejads Leugnung des Holocaust als
auch seine erklärten Hoffnungen für das Verschwinden der
„zionistischen Entität“. Mursi ging sogar noch weiter und geißelte
das mörderische syrische Regime, Irans Hauptverbündeten.
(Diese Rede wurde live im iranischen Fernsehen
übertragen. Der Übersetzer rief allgemeine Bewunderung für seine
Geistesgegenwärtigkeit hervor. Wann immer Mursi auf arabisch von
„Syrien“ sprach, sagte der Übersetzter auf persisch „Bahrain“.)
DIESE GANZE Episode ist nur insoweit wichtig, als es
die unglaubliche Torheit von Netanjahu und seiner nahen Berater
illustriert (alle sind von seiner Frau Sarah, der unbeliebtesten
Person im Land, sorgfältig ausgewählt worden). Sie scheinen von der
realen Welt abgeschnitten zu sein und in einer phantasierten
eigenen Welt zu leben.
In dieser Fantasiewelt ist Israel das Zentrum des
Universums, und Netanjahu kann den Staatsführern von Barak Obama und
Angela Merkel bis Mohammed Mursi und Ban Ki-Moon Befehle erteilen.
Nun, wir sind nicht das Zentrum der Welt. Wir haben
eine Menge Einfluss dank unserer Geschichte. Wir sind eine
Regionalmacht, weit über unsere tatsächliche Größe hinaus. Aber um
wirklich effektiv zu sein, benötigen wir Verbündete, einen guten
Ruf und die Unterstützung der internationalen öffentlichen Meinung
wie jeder andere auch. Ohne dies kann Netanjahus Lieblingsprojekt,
den Iran anzugreifen, um sich einen Platz in den Geschichtsbüchern
zu sichern, nicht ausgeführt werden.
Ich weiß, dass viele Augenbrauen hochgegangen sind,
als ich kategorisch feststellte, dass weder Israel noch die USA den
Iran angreifen würden. Es schien, dass ich meinen Ruf riskiert habe
– so wie er ist – während Netanjahu und Barak sich auf die
unvermeidliche Bombardierung vorbereiteten. Als das Gerede über den
bevorstehenden Angriff lauter wurde, waren meine wenigen
Sympathisanten ernsthaft besorgt.
Doch während der letzten paar Tage hat es hier einen
kaum wahrnehmbaren Wandel im Ton gegeben. Netanjahu erklärte, die
„Familie der Nationen“ müsse sich eine „rote Linie“ und einen
Zeitplan zurechtlegen, um Irans Bemühungen, Nuklearwaffen zu
entwickeln, zu stoppen.
In einfaches Hebräisch bzw. Deutsch übersetzt: es
wird keinen israelischen Angriff geben, wenn er nicht von den USA
gebilligt wird. Solch eine Zustimmung ist vor den bevorstehenden
US-Wahlen unmöglich. Es ist auch danach höchst unwahrscheinlich aus
den Gründen, die ich darzustellen versuchte. Geographische,
militärische, politische und wirtschaftliche Umstände machen dies
unmöglich. Diplomatie ist hier gefragt. Ein Kompromiss, der sich auf
gemeinsame Interessen und gegenseitigen Respekt gründet, kann das
beste Resultat bringen.
Ein israelischer Kommentator hat den interessanten
Vorschlag gemacht, der Präsident der USA solle – nach den Wahlen –
persönlich nach Teheran reisen und sich an das iranische Volk
wenden. Das ist nicht unwahrscheinlicher als Richard Nixons
historischer Besuch in China. Ich würde dem Vorschlag hinzufügen,
wenn er schon hier ist, solle er auch nach Jerusalem kommen, um den
Kompromiss zu besiegeln.
VOR ANDERTHALB Jahren wagte ich auch, anzudeuten, der
Arabische Frühling wäre gut für Israel.
In jener Zeit war es in Israel und im ganzen Westen
eine allgemeine Vermutung, die arabische Demokratie würde zu einem
Anschwellen des politischen Islam führen, und dies würde eine
tödliche Gefahr für Israel bedeuten. Der erste Teil der Vermutung
war richtig, der zweite Teil falsch.
Die obskure Dämonisierung des Islam kann gefährlich
in die Irre führen. Die Beschreibung des Islam als eine mörderische,
von Natur aus antisemitische Religion, kann zu zerstörenden
Konsequenzen führen. Zum Glück werden die verheerenden Vorhersagen
täglich widerlegt.
In der Heimat des Arabischen Frühlings, in Tunesien,
hat ein moderates islamisches Regime Wurzeln gefasst. In Libyen, wo
Kommentatoren Chaos voraussahen und einen anhaltenden Bürgerkrieg
zwischen den Stämmen, wachsen die Chancen für eine wachsende
Stabilität. So sind auch die Chancen , dass die Islamisten in Syrien
eine positive Rolle im Nach-Assad-Syrien spielen werden.
Und am wichtigsten – die Muslimische Bruderschaft in
Ägypten benimmt sich mit beispielhafter Vorsicht. Sechstausend Jahre
ägyptischer Weisheit hat mäßigenden Einfluss auf die Brüder,
einschließlich Bruder Morsi. In den wenigen Wochen seines Regimes
hat er schon eine bemerkenswerte Fähigkeit zum Kompromiss mit
unterschiedlichen Interessen gezeigt - mit den säkularen Liberalen
und dem Armeekommando in seinem eigenen Land, mit den USA, sogar mit
Israel. Er ist jetzt mit Bemühungen beschäftigt, die Dinge mit den
Sinai-Beduinen in Ordnung zu bringen, indem er ihren
(gerechtfertigten) Groll anspricht und die militärische Aktionen
gestoppt hat.
Es ist natürlich viel zu früh, darüber zu reden, aber
ich glaube, dass eine erneuerte arabische Welt, in der moderate
islamische Kräfte eine bedeutende Rolle spielen (wie in der Türkei)
eine Umgebung für israelisch-arabischen Frieden
schaffen. Falls wir Frieden wollen.
Damit dies geschieht, müssen wir aus Netanjahus
Fantasiewelt ausbrechen und in die reale Welt zurückkehren, in die
aufregende, sich verändernde, herausfordernde Welt des 21.
Jahrhunderts.
Andernfalls werden wir dem brillanten Buch der
verstorbenen Barbara Tuchman ein weiteres trauriges Kapitel
hinzufügen: dem Buch „ Der Marsch der Toren“.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)