Der Zauberlehrling
Uri Avnery, 22. August 2015
MAN MUSS
wählen: Ist Benjamin Netanjahu unglaublich gewitzt oder unglaublich
töricht.
Nehmen wir seine
Iranpolitik. Tatsächlich gibt es da wenig zu wählen. Netanjahu hat
keine andere Politik, über die man reden kann.
Nach ihm stellt der
Iran eine tödliche Gefahr für Israel dar. Falls er eine nukleare
Waffe erhält. Gott bewahre, er würde sie benützen, um Israel zu
vernichten. Das muss mit allen Mitteln verhindert werden, am besten
durch eine bewaffnete amerikanische Intervention.
Die kann ganz falsch
sein (Wie ich glaube). Aber es macht Sinn.
Was hat Netanjahu
also getan?
SEIT JAHREN
hat er die Welt alarmiert. Jeden Tag hörte man den Schrei: Rettet
Israel! Verhindert die Zerstörung des jüdischen Staates! Verhindert
einen zweiten Holocaust! Hindert den Iran daran, DIE BOMBE zu
bauen!
Die Welt nahm
keinerlei Notiz davon. Sie war mit vielen anderen Dingen
beschäftigt. Massenweise gibt es ständig überall Krisen.
Wirtschaftliche Depressionen, Seuchen, den Klimawandel, die
unzähligen Flüchtlinge (ca 750 000!!)…
Aber Netanjahu gab
nicht auf. Er benützte jede Rednertribüne von der Knesset bis zum
US-Kongress, um seine Botschaft hinauszuschreien. Endlich achtete
eine müde Welt darauf. OK, die Juden warnen vor der iranischen
Bombe. Also lasst uns etwas tun, um dies zu verhindern. Nicht
irgendetwas. Nein. Rufen wir alle Großmächte der Welt zusammen, um
den Iran zu zwingen, mit diesem Unsinn aufzuhören.
Und sie taten dies.
Die USA, Russland, China, England, Frankreich und Deutschland –
praktisch, die ganze Welt – befahl dem Iran, mit Verhandlungen zu
beginnen.
Da gab es nur ein
einziges Problem: den Iran daran hindern, die Bombe zu bekommen.
Nichts sonst war von Bedeutung. Verglichen mit diesem riesigen
Problem, war alles andere unbedeutend.
Und dann geschah
etwas Unerwartetes. Irans politisches System ersetzte ihren
Großmaul- Präsidenten und setzten einen neuen völlig anderen ein:
einen leise sprechenden, vernünftigen Politiker. Die Verhandlungen
begannen, und der Iran sandte einen mit noch leiserer Stimme, einen
besonders vernünftigen Diplomaten, um sie zu leiten. Die
ausländischen Minister der Welt waren begeistert.
Nach schwierigen
Verhandlungen akzeptierte der Iran. Die Welt bekam mehr oder
weniger alles, was sie wünschte. Lange Zeit keine Bombe. Sehr
wirksame Inspektionen (Sie wären wirklich nicht nötig. Die up to
date-Spionagetechnik kann schnell jede Bewegung in Richtung einer
Bombe beizeiten aufdecken)
JEDER WAR
glücklich. Jeder, d.h. außer Netanjahu. Er war wütend.
Welche Art von
Abkommen ist das?
Die Iraner werden die
Bombe bekommen. Wenn nicht jetzt, dann in 15 Jahren. Oder in 25.
Oder in 50.
Die Iraner werden
betrügen! Die Perser betrügen immer. Sie können nicht anders. Es
liegt in ihrem Blut! (Nicht wie wir, die wir Dutzende von Atombomben
im Geheimen gebaut haben. Aber nach dem Holocaust ist uns erlaubt,
solche Dinge zu tun.)
Auf jeden Fall,
selbst wenn sie die Bombe nicht erhalten, so bekommen die Iraner die
Legitimierung. Und Geld. Sie werden damit die anti-israelischen
Terroristen wie die Hisbollah und die Hamas unterstützen. (Das
klingt nicht sehr überzeugend, nachdem Netanjahu verlangt hatte,
sich auf die Bombe – und auf nichts anders - zu konzentrieren.)
Die riesige
israelische Propagandamaschine wurde in Bewegung gesetzt. Das
schreckliche Abkommen wird von jedem Dach gebrandmarkt. Natürlich
wussten wir die ganze Zeit, dass Barack Obama ein Antisemit ist und
John Kerry auch. Nun haben wir den Beweis.
Tatsächlich ist das
Spiel vorüber. Das von der ganzen Welt unterzeichnete Abkommen kann
nicht mit einem Stoß durch Bibi zum Verschwinden gebracht werden. Es
ist da, selbst wenn der US-Kongress dagegen stimmen und das Veto des
Präsidenten außer Kraft setzen wird. Die Welt hat Netanjahus Launen
satt. Der Mann bekam, was er wünschte, was nun noch?
Ich glaube, dass die
Iraner die Bombe gar nicht sehr wünschten. Entsprechend jedem
erreichbaren Beweis, hat das Abkommen in den Straßen Athens Jubel
verursacht. Die vorherrschende Stimmung scheint folgende zu sein:
„Dankt Allah, endlich sind wir diesen ganzen Unsinn los!“
ABER DIE
nicht vorhandene Bombe hat gegenüber Israel riesigen Schaden
angerichtet. Viel größeren, als wenn sie in irgendeinem
unterirdischen Versteck existieren würde.
Alle Israelis stimmen
darin überein, dass das eine höchste Gut, das Israel hat, seine
besondere, beispiellose Beziehung mit den US ist. Sie ist
einzigartig.
Einzigartig und
kostenlos. Militärisch ausgedrückt: Israel bekommt die neuesten
Waffensysteme praktisch für nichts. Nicht weniger bedeutsam ist,
dass Israel keinen Krieg länger als ein paar Tage ohne den
Lufttransport von Munition und besonderen Ersatzeilen aus den USA
führen kann.
Aber das ist nur ein
kleiner Teil unserer nationalen Sicherheit. Noch wichtiger ist das
Wissen, dass man Israel nicht bedrohen kann, ohne dass man die ganze
Macht der US gegen sich hat. Dies ist ein wunderbarer Schutzschirm -
der Neid der ganzen Welt.
Außerdem weiß jedes
Land der Welt, dass wenn man etwas aus Washington DC wünscht - und
besonders vom US-Kongress - geht man am besten über Jerusalem und
zahlt einen Preis. Was ist das wert?
Und dann ist da noch
das Veto. Nicht das kleine Veto, das Obama benützt, um ein
Kongress-Veto gegen das Abkommen zu neutralisieren, sondern das
große Veto, das jede einzelne UN-Sicherheitsrat-Resolution
blockiert, das Israel zensiert, sogar für eine Aktion, die gegen
den Himmel schreit. Eine 49 Jahre lange alte Besatzung. hunderte
Tausende von Siedlern , die dem Internationalen Recht widersprechen.
Das fast tägliche Töten.
Verurteile Israel?
Vergiss es! Sanktionen gegen Israel? Dass wir nicht lachen. So
lange, wie die allmächtigen US Israel schützen, kann es tun, was es
will.
All dies wird jetzt
in Frage gestellt. Vielleicht hat sich der Schaden schon
eingestellt, wie verborgene Risse in den Grundmauern eines
Gebäudes. Der Schadensgrad kann erst im Laufe der kommenden Jahre
sichtbar werden.
Ein anderer Riss ist
die Kluft zwischen Israel und einem großen Teil der Juden in aller
Welt, besonders in den US. Israel behauptet, der „Nationalstaat des
jüdischen Volkes“ zu sein. Alle Juden in aller Welt schulden ihm
bedingungsloser Gehorsam. Ein mächtiger Apparat der „Jüdischen
Organisationen“ kontrolliert die Untertanen. Weh dem Juden, der es
wagt, dagegen zu sein.
Nicht mehr. Eine
Kluft öffnete sich innerhalb der Welt-Judenheit, die wahrscheinlich
nicht repariert werden kann. Sollte amerikanische Juden befohlen
werden, zwischen ihrem Präsidenten und Israel zu wählen, zögen viele
amerikanische Juden ihren Präsidenten vor oder würden gar nicht
mitmachen.
Wer ist der
Antisemit, der es fertigbrachte, all dies Üble zu verursachen? Kein
anderer als der Ministerpräsident von Israel selbst.
SORGT SICH
die Welt darum? Aber es ist nicht wirklich so.
Wir Israeli glauben,
dass wir der Mittelpunkt der Welt seien. Aber es ist nicht so.
Während Israel von
der iranischen Bombe besessen war, hat sich in der Region ein großer
Wandel vollzogen. Die fast vergessene 13 Jahrhunderte alte Kluft
zwischen den sunnitischen und den schiitischen Muslimen ist
plötzlich wieder überall aufgetaucht. Diese Kluft fast so alt wie
der Islam selbst, war durch die künstliche Grenzziehung durch das
berüchtigte, kolonialistische Sykes-Pikot-Abkommen während des 1.
Weltkrieges verdeckt worden.
Was jetzt geschieht,
ist ein politisches Erdbeben. Die Landschaft verändert sich
dramatisch. Berge verschwinden, neue bilden sich. Die schiitische
Achse von Iran über den Irak und Syrien bis zur Hisbollah im Libanon
übernimmt den sunnitischen Block von Saudi-Arabien und den
Golfstaaten. In Libyen und dem Jemen herrscht Chaos. Ägypten sehnt
sich zurück zu seiner glorreichen pharaonischen Vergangenheit und in
der Mitte von allem erhebt eine neue Macht ihren Kopf – das
islamische Kalifat von Daesh (IS), das junge Muslime aus aller Welt
anzieht.
Inmitten dieses
wütenden Sturms befindet sich Netanjahu, ein Mann der Vergangenheit,
eine Person, deren Sichtweise sich vor Jahrzehnten in einer anderen
Welt bildete. Statt sich dieser neuen Welt mit ihren neuen Gefahren
und großen Möglichkeiten zuzuwenden, tappt er mit einer nicht
existierenden Bombe herum.
Die US und andere
westliche Mächte verändern vorsichtig ihre Einstellung. Sie fürchten
sich vor Daesh, wie es angebracht ist. Sie erkennen, dass ihre
Interessen sich eher denen des Iran nähern und sich von denen Saudi
Arabiens entfernen. Das neue Nuklear-Abkommen passt zu diesem Bild.
Netanjahu, der permanente Unruhestifter passt nicht in dieses Bild.
WIRD DIES
in Israel diskutiert? Natürlich nicht. Es geht immer um die Bombe,
die Bombe, die Bombe. Die kleinen Auseinandersetzungen zwischen den
Muslimen werden mehr oder weniger ignoriert.
Sunniten, Schiiten –
sie sind alle gleich. Antisemiten. Holocaust-Leugner. Israel-Hasser.
Doch gibt es gute
Gelegenheiten. Saudi Arabien und seine Verbündeten vom Golf, wie
auch Ägypten deuten daraufhin, dass sie mit Israel zusammenarbeiten
könnten – natürlich in größter Heimlichkeit. Keiner kann öffentlich
Israel die Hand reichen, solange täglich arabische Massen im
Fernsehen die Untaten der Siedler, das Töten der Besatzungsarmee,
die Demütigung der palästinensischen Brüder miterleben. Wie ein
schweres Gewicht, das am Fuß eines Schwimmers hängt, so verhindert
die Besatzung uns daran, auf einen Wandel in der Region zu reagieren
In letzter Zeit hat
es überzeugendere Gerüchte über geheime Verhandlungen zwischen
Netanjahu und der Hamas wegen eines acht bis zehn Jahre langen
Waffenstillstandes gegeben, der zu einem inoffiziellen
Friedensabkommens führen könnte. Er würde einen winzigen
palästinensischen Ministaat schaffen, während Mahmoud Abbas und der
größte Teil der Palästinenser, der sich auf den arabischen
Friedensplan festgelegt hat, noch isolierter wären.
Und wozu all dies? Um
die Siedlungen zu vergrößern und womöglich einen weiteren Teil der
Westbank (Zone C) zu annektieren.
Ist der Mann also
gewitzt oder töricht? Ein Zauberer oder nur ein Zauberlehrling?
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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