Kadimas
Geheimnis
Uri Avnery, 11. 2. 06
NUR
NOCH ein Erdbeben kann einen überwältigenden Sieg
Kadimas bei den nächsten Wahlen verhindern.
Schließ dies aber nicht aus! Während dieser Wahlkampagne
haben sich schon vier Erdbeben ereignet. Das erste:
Labor wählte einen in Marokko geborenen Führer vom
linken Flügel. Zweitens: Ariel Sharon spaltete den Likud
und schuf die Kadima-Partei. Drittens: Sharon erlitt
einem massiven Schlaganfall und verließ die politische
Bühne. Viertens:
Hamas gewann bei den palästinensischen Wahlen einen
entscheidenden Sieg.
Was
könnte nach vier solch überwältigender Umbrüche eine
fünfte stoppen? Aber im Augenblick ist es sogar
ziemlich schwierig, sich etwas vorzustellen, das
Kadimas vorherrschende Stellung in der Wahlkampagne in
Frage stellt.
ES
SIEHT fast wie Magie aus. Was ist es um Kadima, dass sie
so phantastisch in Führung liegt?
Zunächst glaubte man, dass sie nach der anfänglichen
Begeisterung auf normale Proportionen zusammenschrumpfen
werde. Die Voraussage ( auch die meinige) war, dass am
Ende drei mehr oder weniger gleich große Finger
auftauchen: der Likuk, Kadima und Labor, die alle etwa
25 Sitze bekommen.
Nach
den Meinungsumfragen läuft es aber ganz anders.
Zunächst wurde gesagt, es sei die massive Figur von
Ariel Sharon, die Kadima an der Spitze halten werde.
Nach dem Gazaabzug und besonders nach den
melodramatischen Fernseh-Shows der Evakuierung der
Siedlungen, hat seine Popularität schwindelnde Höhen
erreicht. Als er dann in ein Koma fiel, erwartete man,
dass das Los der Partei auch fallen werde - vielleicht
erst nach ein paar Tagen Mitleid. Denn wer – um Himmels
Willen – ist dieser Ehud Olmert? Nichts als ein
unpopulärer, zweitklassiger politischer Parteihengst.
Eine Partei unter seiner Führung geht den Bach hinunter.
Doch
dies ist bis jetzt auch nicht geschehen.
Im
Gegenteil. Es scheint so, als benötige die Sharon-Partei
Sharon gar nicht. Und der unpopuläre Olmert erlangte
übernacht erstaunliche Popularität.
(So
etwas war schon einmal geschehen: Nach dem plötzlichen
Tod von Ministerpräsident Levy Eshkol 1969 folgte Golda
Meir - damals eine sehr unpopuläre Parteipolitikerin.
Nachdem sie Ministerpräsidentin geworden war, stieg ihr
Popularitätsgrad praktisch übernacht von 3% (drei) auf
80 % ( achzig).
Vor
ein paar Tagen geschah etwas noch Seltsameres: Olmert
verlor ein paar Popularitätsgrade, während die von
Kadima tatsächlich stieg. Es sah so aus, als ob sie
selbst dann zunehmen würde, wenn Caligulas Pferd die
Führung übernehmen würde.
Im
Augenblick – 48 Tage vor der Wahl – wird nach den
Umfragen die Verteilung der Sitze in der nächsten
Knesset folgendermaßen vorausgesagt: 40-45 Sitze für
Kadima, etwa 20 für Labor, rund 17 für den Likud. Der
Rest von 120 – etwa 40 Sitze – wird unter die kleineren
9-10 Parteien aufgeteilt werden.
Falls dies von den Wahlurnen bestätigt wird, wird Olmert
in der Lage sein, eine Koalition nach Belieben zu
bilden. Da gibt es viele Möglichkeiten: mit der Likud
und den rechtesten Parteien, mit Labor und den linken
Parteien, mit Labor und mit Likud, mit den rechten und
den religiösen Parteien. Mindestens ein Dutzend
verschiedene Möglichkeiten.
WORIN LIEGT also die magische Qualität, die Kadima vor
allem Schaden bewahrt und sie fast unbesiegbar
erscheinen lässt?
Es
ist nicht das erste Mal, dass in Israel am Vorabend von
Wahlen eine neue Partei auftaucht, sich in die Mitte
platziert und Stimmen von links und rechts einsammelt.
Es ist auch nicht das erste Mal, dass sich eine neue
Partei mit der augenblicklichen allgemeinen Stimmung
verbindet und mehr als den erwarteten Erfolg hat. 1965
war es so mit der neuen Rafi-Partei von David
Ben-Gurion, Moshe Dayan und Shimon Peres, die 10 Plätze
gewann. 1977 gewann die neue Dash-Partei von Yigal Yadin
und seine Bande von Generälen überraschende 15 Sitze.
Bei den letzten Wahlen gewann die Shinui-Partei auf
Anhieb auch 15 Sitze. Aber keine näherte sich dem jetzt
erwarteten Erfolg von Kadima.
Wie
kommt es, dass Kadima von Null auf 40 springt und diese
leitende Position trotz der Schicksalsschläge hält –
trotz Sharons Verschwindens, trotz Hamas’ Sieg, trotz
der Polizeipferde, die Amonas Siedler angriffen, (wie
man im Fernsehen verfolgen konnte), trotz der Angriffe
von Links und Rechts ?
Nun,
Kadima hat eine gute Mischung von Politikern vom rechten
und vom linken Flügel angezogen, die sich gut ergänzen.
Zaki Hanegbi, ein rechter Hooligan, der jetzt wie ein
Staatsmann aussieht, ergänzt den weltberühmten, äußerst
erfolglosen Shimon Peres, Zipi Livni vom rechten Flügel
mit einer anständigen, vernünftigen Fassade ergänzt Haim
Ramon vom linken Flügel mit einer Geschichte politischen
Abenteurertums.
Kadima aber ist eine Entität, die über den sie
zusammen setzenden Persönlichkeiten steht: Sie stellt
genau das dar, was die meisten Israelis zu diesem
Zeitpunkt empfinden. Sie liefert einen Fokus für den
israelischen Konsens vom Anfang dieses Jahre. Das ist
die Hauptsache.
Dieser Konsens lautet:
- Der große Unterschied
zwischen reich und arm ist tatsächlich bedauerlich, aber
nicht so wichtig. Amir Peretz ist es nicht gelungen,
dieses zum zentralen Thema zu machen.
-
- Die Mehrheit will ein Ende
des Konfliktes und hasst die Siedlungen. Der Hamassieg
in Palästina hat keine Panik ausgelöst. Darum hatte
Binyamin Netanyahu mit seiner Kampagne keinen Erfolg.
-
- Die Öffentlichkeit vertraut
den Arabern nicht und will nichts mit ihnen zu tun
haben. Deshalb ist sie an Kadimas Hauptgedanken
interessiert: dass man einen „einseitigen“ Frieden
machen kann.
Klar, ein „einseitiger Frieden“ ist ein Widerspruch in
sich selbst. Olmerts bekanntestes Versprechen – die
Siegesformel – lautet: „Lasst uns die bleibenden Grenzen
Israels einseitig bestimmen“. Das ist natürlich völliger
Unsinn. Weder die Palästinenser noch die arabische Welt
, noch die USA und die Familie der Nationen wird eine
Grenze anerkennen, die ohne Abkommen festgelegt wurde.
Sie wird keinen Frieden bringen, sondern für die
nächsten Generationen nur eine Fortsetzung des blutigen
Konfliktes.
So
wäre es, wenn es nach der Logik ginge. Aber bei Wahlen
handelt man oft nicht logisch, sondern emotional.
Olmerts Versprechen, „sich von den Palästinensern zu
trennen“ ist nur eine elegantere Wendung des vulgären
Satzes: „Bringt die Palästinenser aus den Augen!“ – und
das ist im Moment populär.
Olmert stellt klar fest, wo die Grenze auf Dauer
einseitig festgelegt verlaufen soll. Das Prinzip heißt:
ein jüdischer Staat so groß wie möglich mit so wenig
Arabern wie möglich. Er beabsichtigt, die
„Siedlungsblöcke“, Groß-Jerusalem, nicht genau
bezeichnete „Sicherheitszonen“ und das Jordantal zu
annektieren.
Unter den Siedlungsblöcken erwähnt er Ariel, Modi’in
Illit, Maaleh Adumim und Etzion.
Wie
ein Wunder passt genau dies zur Mauer- und Zaunanlage,
die gerade gebaut wird (und bestätigt damit, was wir
die ganze Zeit behaupteten: der Zaun/ die Mauer verläuft
nicht wegen Sicherheitsgründen so, sondern genau nach
der Annexionskarte.)
Olmerts Karte ist natürlich mit der Karte Sharons
identisch. Im Gegensatz zu Sharon sagt er nur offen und
im Detail. Sie annektiert 58 % der Westbank. Was sie den
Palästinensern noch lässt (zusammen 11% des Palästinas
von vor 1948) sind von der Welt abgeschnittene und
isolierte Enklaven.
Yossi Beilin, der Initiator der „Siedlungsblöcke“-Idee,
hat schon angekündigt, dass seine linke Meretz-Partei
sich der zukünftigen Olmert-Koalition anzuschließen
wünscht. Labor hat dies noch nicht offen verkündigt,
aber sie hofft dies ziemlich deutlich. Sicherlich werden
sie noch mit Olmert über die endgültige Festlegung der
Grenze streiten. Sie akzeptieren aber allgemein seine
Auffassung.
Es
gab einmal eine scherzhafte Bemerkung, die in Amerika
die Runde machte: „Was ich am meisten hasse, sind
Rassisten und Nigger“. Nun wünscht der durchschnittliche
Israeli „Frieden ohne Araber“. Kadimas „einseitige“
Einstellung spiegelt damit genau diese Position wieder
- und es ist leider das Geheimnis ihres Erfolges.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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