Ein
Schweizer Käse
Uri Avnery, 19.5.2007
DIE VINOGRAD
Untersuchungskommission ist nicht Teil der Lösung. Sie ist ein Teil
des Problems.
Jetzt, nachdem die
erste Aufregung, die durch die Veröffentlichung von Teilen des
Berichtes ausgelöst wurde, abgeebbt ist, ist es möglich, die Arbeit
der Kommission auszuwerten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass
sie bei weitem mehr Schaden angerichtet hat, als Gutes zu bewirken.
Die positive Seite
ist wohlbekannt. Die Kommission hat die drei Regisseure des Krieges
– den Ministerpräsident, den Verteidigungsminister und den
Oberbefehlshaber – einer Vielzahl von Fehlern angeklagt. Das
Lieblingswort der Kommission lautet „Versagen“.
Es ist lohnenswert,
ein wenig über dieses Wort nachzusinnen. Was meint es eigentlich?
Eine Person „versagt“, wenn sie ihre Aufgabe nicht erfüllt hat. Das
Versagen bezieht sich nicht auf die Aufgabe selbst, sondern auf die
Tatsache, dass sie nicht erfüllt wurde.
Der innerhalb des Berichtes so weit
verbreitete Gebrauch des Wortes „Versagen“ ist eigentlich ein
Versagen der Kommission. Das von Protestgruppen erfundene neue
hebräische Wort – ungefähr zu übersetzen mit „die Unfähigen“
– trifft auf jedes der fünf Kommissionsmitglieder zu.
Wenn wir der
Darstellung der Kommission folgen, in welchem Sinne haben dann die
drei Musketiere der Kriegsführung versagt?
Auf folgende Weise:
die Entscheidung, den Krieg zu führen, wurde in zu großer Hast
geführt. Die vom Ministerpräsidenten angekündigten Kriegsziele waren
unrealistisch. Es gab keinen detaillierten und durchgesehenen
militärischen Plan. Die Arbeit der Stabsführung war mangelhaft. Die
Regierung akzeptierte den improvisierten Vorschlag des
Oberkommandierenden wie er war, ohne Alternativen angeboten zu
bekommen oder einzufordern. Der Oberbefehlshaber dachte, er könne
durch Bombardement und Beschuss allein siegen. Eine Bodenoffensive
war nicht geplant. Die Reservetruppen wurden nicht rechtzeitig
einberufen. Die Bodenoffensive kam erst sehr spät in Gang. In den
Jahren vor dem Krieg, wurden die Truppen nicht ordnungsgemäß
trainiert. In den Vorratslagern für Notfälle fehlte vielerlei an
Ausrüstung. Die große Bodenattacke, die so viele Leben kostete,
begann erst, als man sich in der UN bereits auf die Bedingungen für
eine Waffenruhe geeinigt hatte.
Starke Medizin. Wie
lautet die Zusammenfassung? Dass wir die Dinge rasch reparieren
müssen, bevor wir den nächsten Krieg beginnen.
Und tatsächlich ist
genau das der Schluss, den ein großer Teil der Öffentlichkeit
schloss: die drei „Unfähigen“ müssen entfernt werden, ihr Platz muss
mit verantwortlicheren und „erfahreneren“ Führungspersönlichkeiten
ersetzt werden, und dann sollten wir den Libanonkrieg III beginnen,
um den durch den Libanonkrieg II verursachten Schaden zu reparieren.
Die Armee hat ihre
Abschreckungskraft verloren? Wir werden sie im nächsten Krieg
zurück erlangen. Die Bodenoffensive war nicht erfolgreich? Wir
werden es das nächste Mal besser machen. Im nächsten Krieg werden
wir tiefer ins Land vordringen.
Das ganze Problem
ist ein rein technisches. Neue Führer mit militärischer Erfahrung,
ordentliche Stabsarbeit, feinsäuberliche Vorbereitungen, ein
Armeechef aus den Rängen der Bodentruppen, statt eines
Fliegerkommandanten – und dann wird alles in Ordnung sein.
DER WICHTIGSTE Teil
des Berichtes ist nicht der, der da ist, sondern der, der nicht da
ist. Der vorgelegte Bericht ist voller Löcher, wie der
sprichwörtliche Schweizer Käse.
Nirgendwo wird die
Tatsache erwähnt, dass es sich von Anfang an um einen überflüssigen,
sinnlosen und hoffnungslosen Krieg handelte.
Solch ein Vorwurf
wäre sehr schwerwiegend. Ein Krieg verursacht Tod und Zerstörung auf
beiden Seiten. Ein solcher darf nicht begonnen werden, sofern nicht
eine klare Existenzbedrohung des Staates vorliegt. Laut Bericht,
hatte der Zweite Libanonkrieg keine besondere Zielsetzung. Das
bedeutet, dass der Krieg nicht aus einer unmittelbaren Bedrohung
entsprang. Solch ein Krieg ist ein Verbrechen.
Wofür zog das Trio
in den Krieg? Theoretisch: um die zwei gefangen genommenen Soldaten
zu befreien. In dieser Woche hat Ehud Olmert öffentlich zugegeben,
dass er sehr wohl wusste, dass die Soldaten nicht durch Kriegsmittel
befreit werden können. Das bedeutet, dass er das Volk auf
unverfrorene Weise belogen hat, als er beschloss, in den Krieg zu
ziehen. Ein kleiner George Bush.
Die Hisbollah stellt
keine Existenzbedrohung des Staates Israel dar. Einen Grund zur
Beunruhigung? Ja. Ein provokanter Feind? Absolut. Eine
Existenzbedrohung? Sicherlich nicht.
Für beide Probleme
können politische Lösungen gefunden werden. Es war damals so klar
wie heute, dass die Gefangenen durch einen Austausch befreit werden
müssen. Die Hisbollah kann nur mit politischen Mitteln verdrängt
werden, da ihre Existenz auf politischen Gründen beruht.
DIE KOMMISSION
beschuldigt die Regierung, dass sie keine militärischen Alternativen
zu den Vorschlägen des Oberbefehlshabers prüfte. Aber die Kommission
selbst kann beschuldigt werden, keine politischen Alternativen zu
der Regierungsentscheidung für den Krieg zu prüfen.
Die Hisbollah ist
eine politische Organisation, ein Teil der komplexen Realität des
Libanon. Jahrhunderte lang, wurden die Schiiten im Südlibanon von
stärkeren Gemeinschaften niedergetrampelt – den Maroniten, Sunniten
und Drusen. Als die israelische Armee 1982 in den Libanon
einmarschierte, empfingen die Schiiten sie als Befreier. Als es dann
offensichtlich wurde, dass unsere Armee nicht die Absicht hatte,
auch wieder abzuziehen, führten die Schiiten einen Befreiungskrieg
gegen sie. Erst dann, im Laufe eines langen und erfolgreichen
Guerillakrieges, wurden die Schiiten zu einer der
Haupteinflusskräfte in der Region. Wenn es Gerechtigkeit in der Welt
gäbe, würde die Hisbollah ein Denkmal für Ariel Sharon errichten.
Um ihre Position zu
stärken, bedurften die Schiiten der Hilfe. Sie bekamen sie vom Iran,
dem natürlichen Schirmherren aller Schiiten in der Region. Aber noch
bedeutender war die von Syrien geleistete Hilfe.
Und warum kam das
sunnitische Syrien der schiitischen Hisbollah zur Hilfe? Weil es
eine doppelte Bedrohung schaffen wollte: einerseits gegen die
Regierung in Beirut, andererseits gegen die in Jerusalem.
Syrien hat niemals
seine Ansprüche im Libanon aufgegeben. In den Augen der Syrer, ist
der Libanon ein integraler Bestandteil ihrer Heimat, der ihnen durch
die französischen Kolonisten entrissen wurde. Ein Blick auf die
Karte genügt, um zu verstehen, warum der Libanon für Syrien so
bedeutend ist, und zwar sowohl wirtschaftlich als auch militärisch.
Hisbollah versorgt Syrien mit einem Ankerhaken auf libanesischem
Gebiet.
Die Bedrohung
Israels durch die Hisbollah ist sogar noch bedeutender für Syrien.
Damaskus will die Golanhöhen wieder erringen, die von Israel 1967
erobert wurden. Dies ist für die Syrer eine umfassende nationale
Aufgabe, eine Sache des nationalen Stolzes, und sie werden diese um
keinen Preis aufgeben. Sie wissen, dass sie im Moment keinen Krieg
gegen Israel gewinnen können. Die Hisbollah bietet da eine
Alternative: kontinuierliche Nadelstiche sollen Israel von Zeit zu
Zeit daran erinnern, dass es vielleicht doch sinnvoll wäre, den
Golan zurückzugeben.
Jeder, der diesen
politischen Hintergrund leugnet und die Hisbollah als ein
militärisches Problem betrachtet, offenbart damit seine Ignoranz. Es
wäre Aufgabe der Kommission gewesen, dies deutlich zu sagen, anstatt
über „ordentliche Stabsarbeit“ und „militärische Alternativen“
herumzuquasseln. Dafür, dass die drei Inkompetenten die politische
Alternative zu einem Krieg nicht abwogen, hätte die Kommission ihnen
die rote Karte zeigen müssen. Diese politische Alternative hätte
darin bestanden, mit Syrien über den Abzug der Hisbollah-Bedrohung
im Rahmen eines israelisch-libanesisch-syrischen Abkommens zu
verhandeln. Die Golanhöhen wären der Preis gewesen.
Indem die Kommission
dies nicht tat, verbreitete sie folgende Botschaft: es gibt keine
Alternative zu einem dritten Libanonkrieg. Aber bitte, Leute,
strängt Euch das nächste Mal ein bisschen mehr an.
EIN VERDÄCHTIGES
Loch im Bericht betrifft den internationalen Hintergrund des
Krieges.
Der Anteil der
Vereinigten Staaten an diesem Krieg war von Anfang sichtbar. Olmert
hätte diesen Krieg nicht ohne explizite amerikanische Zustimmung
begonnen. Wenn die USA dies verboten hätten, hätte Olmert nicht
davon geträumt, dem entgegenzuhandeln.
George Bush war
daran interessiert, dass dieser Krieg geführt wurde. Er war (und
ist) im irakischen Morast versackt. Er versucht, die Schuld dafür
Syrien zuzuschieben. Daher wollte er einen Schlag gegen Damaskus
führen. Außerdem wollte er die libanesische Opposition brechen, um
den amerikanischen Gefolgsleuten in Beirut zu helfen. Er war sich
sicher, das es sich um einen Sonntagsspaziergang für die israelische
Armee handeln würde.
Als der erwartete
Sieg so lange auf sich warten ließ, tat die amerikanische Diplomatie
alles irgend mögliche, um eine Waffenruhe zu verhindern, um somit
der israelischen Armee „Zeit zu lassen“ zu gewinnen. Dies wurde
beinahe unverhüllt so ausgeführt.
In welchem Maße
diktierten die Amerikaner Olmert die Entscheidung, den Krieg zu
beginnen, den Libanon zu bombardieren (aber nicht die Infrastruktur
der Siniora-Regierung ), den Krieg zu verlängern und eine
Bodenoffensive im letzten Moment zu starten? Wir wissen es nicht.
Vielleicht hat die Kommission sich mit diesen Fragen im geheimen
Teil des Berichtes beschäftigt. Aber ohne diese Fakten ist es
unmöglich zu verstehen, was geschehen ist, und daher ist der Bericht
auf langen Strecken untauglich für das Verständnis des Krieges.
WAS FEHLT außerdem
noch in dem Bericht? Schwer zu glauben, aber es findet sich nicht
ein Wort, das das schreckliche Leiden der libanesischen Bevölkerung
erwähnt.
Unter dem Einfluss
des Oberbefehlshabers, akzeptierte die Regierung eine Strategie, die
besagte: lasst uns den Libanon bombardieren, das Leben der Libanesen
in eine Hölle verwandeln, als Resultat werden sie Druck auf ihre
Regierung in Beirut ausüben, die dann wiederum die Hisbollah an die
Kette legen wird. Es handelte sich um eine sklavische Nachahmung der
amerikanischen Strategie im Kosovo und in Afghanistan.
Diese Strategie
tötete eintausend Libanesen, zerstörte ganze Nachbarschaften,
Brücken und Straßen, und zwar nicht nur in schiitischen Gebieten.
Vom militärischen Standpunkt aus, war das leicht zu bewerkstelligen,
aber der politische Preis war immens. Über Wochen dominierten die
Bilder des durch Israel verursachten Todes und der Zerstörung die
Nachrichten der Welt. Es ist unmöglich, den Schaden abzuschätzen,
der dadurch für Israels Image in den Augen der Weltöffentlichkeit
entstanden ist, ein nicht wieder gut zu machender Schaden, der
dauerhafte Konsequenzen haben wird.
All dies
interessierte die Kommission nicht. Sie beschäftigte sich
ausschließlich mit dem militärischen Aspekt. Die politische Seite
war nicht von Interesse, mit Ausnahme der Bemerkung, dass der
Außenminister nicht zu den wichtigen Konsultationen geladen wurde.
Die moralische Seite des Ganzen wurde überhaupt nicht erwähnt.
Auch die Besatzung
wurde nicht erwähnt. Die Kommission ignoriert ein Faktum, das zum
Himmel schreit: dass einen Armee nicht in der Lage sein kann, einen
modernen Krieg zu führen, wenn sie 40 Jahre lang als
kolonialistische Polizeimacht in besetzten Gebieten tätig ist. Ein
Offizier, der wie ein betrunkener Kosak gegenüber unbewaffneten
Friedensaktivisten und Steine werfenden Kindern agiert, wie diese
Woche im Fernsehen zu sehen war, kann keine militärische Einheit in
einem echten Krieg führen. Dies ist eine der bedeutendsten Lektionen
des zweiten Libanonkrieges: die Besatzung hat die israelische Armee
bis ins Mark korrumpiert. Wie kann das ignoriert werden?
DIE KOMMISSION
beurteilt Olmert und Peretz aufgrund ihrer mangelnden „Erfahrung“ –
gemeint ist militärische Erfahrung – als ungeeignet. Dies kann zu
der Schlussfolgerung führen, dass die israelische Demokratie sich
nicht auf zivile Führer verlassen kann, dass sie Generäle als
Führung braucht. Sie zwängt dem Land eine militärische Agenda auf.
Das könnte sich als sehr gefährlich herausstellen.
Diese Woche sah ich
im Internet eine gut gemachte Ausstellung der „Reservisten“, einer
Gruppe verbitterter Reservesoldaten, die versucht, den Protest gegen
die drei Unfähigen anzuführen. Sie zeigt Bild für Bild das Versagen
der Kriegsführung auf und erreicht ihren Gipfel in der Behauptung,
die inkompetente politische Führung hätte der Armee nicht die
Erlaubnis gegeben zu gewinnen.
Die jungen
Produzenten dieser Präsentation sind sich sicherlich nicht des
gewissen Geruchs bewusst, den dieses Argument verströmt, des
„Dolchstoß in den Rücken“- Geruchs. Andernfalls hätten sie
wahrscheinlich nicht dieses Argument gewählt, dass vor nicht allzu
langer Zeit als Kampf- und Versammlungsruf den deutschen Faschisten
diente.
(Aus dem Englischen
übersetzt: Christoph Glanz, autorisiert vom Verfasser)
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