Blutiger Frühling
Uri Avnery, 11. August 2012
AUF EINEM Flug nach London hatte ich 1961 ein
einzigartiges Erlebnis.
Unterwegs machte das Flugzeug einen Zwischenstop in
Athen und eine Gruppe Araber stieg zu. Dies war als solches schon
ein Erlebnis. In jenen Tagen trafen Israelis kaum jemals auf
Menschen aus arabischen Ländern.
Diese drei jungen Araber saßen in der Reihe hinter
mir, und irgendwie gelang es mir, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
Ich erfuhr, sie seien Syrer. Ich erwähnte die vor kurzem
geschehene Auflösung der Vereinten Arabischen Republik, die Union
von Ägypten und Syrien unter der panarabischen Führung von Gamal
Abd-al-Nassar.
Meine drei Nachbarn waren sehr glücklich über die
Trennung. Einer von ihnen zog einen Pass aus seiner Tasche und
reichte ihn mir. Es war ein völlig neues Dokument von der
Arabisch-Syrischen Republik herausgegeben.
Man konnte sich über den enormen Stolz nicht irren,
mit dem dieser junge Syrer mir - einem israelischen Feind – diesen
Beweis von Syriens neu gegründeter Unabhängigkeit zeigte. Hier war
ein syrischer Patriot - ganz einfach.
EINES DER Bücher, das in meiner Jugend einen sehr
großen Einfluss auf mich ausübte, war Philip Hittis „Eine Geschichte
Syriens“.
Hitti, ein maronitischer Christ, aus dem, was heute
der Libanon ist, hat die Schule im ottomanischen Beirut besucht und
wanderte in die USA aus, wo er der Vater der modernen arabischen
Studien (Sprachen und Kultur) wurde.
Sein bahnbrechendes Buch gründete sich auf die
Behauptung, dass Syrien ein Land von der Sinaiwüste bis zu den
türkischen Bergen, vom Mittelmeer bis zu den Grenzen des Irak sei.
Dieses Land, das auf arabisch Sham heißt, schließt die gegenwärtigen
Staaten Libanon, Israel, Palästina und Jordanien ein.
Hitti erzählte die Geschichte dieses Landes aus der
früh-historischen Zeit bis zur (damalig) gegenwärtigen Zeit, Schicht
um Schicht, einschließlich jeder Periode und jeder Region, wie das
biblische Israel und das Petra der Nabatäer. Alles war Teil der
großartigen, reichen Geschichte von Sham.
Das Buch änderte meine eigene geographische und
kulturelle Ansicht unseres Platzes in der Welt. Noch bevor der Staat
Israel geschaffen wurde, sprach ich mich dafür aus, dass in unseren
Schulen die vielseitige Geschichte Palästinas durch die
Jahrhunderte (und nicht nur die jüdische Geschichte) gelehrt würde.
(Das hätte Hitti wütend gemacht. Er leugnete, dass es
ein Land mit Namen Palästina gab. In einer langen öffentlichen
Debatte mit Albert Einstein, einem engagierten Zionisten, behauptete
Hitti, dass die Entität, die Palästina genannt wurde, von den
Briten erfunden worden sei, um das Gedächtnis der Leute dafür
dingfest zu machen, dass Juden einen Anspruch darauf hätten.)
VON HITTI erfuhr ich zum ersten Mal von den vielen
ethnisch-religiösen Gruppen im heutigen Syrien und Libanon.
Muslimische Sunniten und Schiiten, Drusen, Maroniten, Melkiten und
viele andere alte und moderne christliche Konfessionen im Libanon;
Sunniten, Alawiten, Drusen, Kurden, Assyrer und ein Dutzend
christlicher Konfessionen in Syrien.
Die europäisch-imperialistischen Mächte, die das
Ottomanische Empire nach dem 1. Welt-krieg aufbrachen, hatten kaum
Respekt für die Vielfalt ihres neuen Erwerbs. Doch beide übernahmen
das Prinzip des „divide et impera“ (Teile und herrsche). Die
Franzosen übertrafen damit sich selbst.
In Syrien mit einer heftigen nationalistischen
Opposition und einem bewaffneten Aufstand durch die Drusen
konfrontiert, teilten sie das Land in kleine
religiös-ethnisch-geographische Splitterstaaten. Sie spielten mit
den Feindseligkeiten zwischen Damaskus und Aleppo, zwischen den
Muslimen und Christen, Sunniten und Alawiten, Kurden und Arabern,
Drusen und Sunniten, indem sie jedem einen eigenen „Staat“ gaben.
Ihr weitreichendstes Unternehmen, die Teilung
zwischen einem von Christen dominierten „Groß-Libanon“ und dem Rest
von Syrien, hatte einen dauerhaften Effekt. (Es wurde Groß-Libanon
genannt, weil die Franzosen in dieses nicht nur rein christliche
Regionen einschlossen, sondern auch muslimische – die Schiiten im
Süden und die Sunniten in den Hafenstädten.)
ALS DIE Franzosen schließlich zum Ende des 2.
Weltkrieges aus der Region verjagt wurden, blieb die Frage, ob und
wie Syrien und der Libanon als Nationalstaaten überleben könnten.
In beiden gab es einen integrierten Widerspruch
zwischen dem einigenden Nationalismus und der teilenden
ethnisch/religiösen Tendenz . Sie adoptierten zwei verschiedene
Lösungen.
Die Antwort des Libanon war die delikate Struktur
eines Staates, der sich auf eine Balance zwischen den Gemeinschaften
gründete. Jede Person „gehört“ zu einer Gemeinschaft. Praktisch ist
jeder ein Bürger seiner Gemeinschaft, und der Staat ist nur eine
Föderation der Gemeinschaften.
(Dies ist teilweise ein Erbe des byzantinischen und
ottomanischen Empires, aber ohne Kaiser oder Sultan. Dies
existiert auch in Israel – Juden, Sunniten, Drusen und Christen
haben ihre eigenen Gerichte für Personenstandsangelegenheiten, und
Mischehen können nicht geschlossen werden.)
Das libanesische System ist eine Negation der „eine-Person
– eine-Stimme“-Demokratie, aber es hat einen brutalen Bürgerkrieg
überlebt, mehrere Massaker, eine Anzahl israelischer Invasionen und
einen Wandel der Schiiten vom letzten zum ersten Platz. Es ist
robuster, als man hätte vermuten können.
Die syrische Lösung war sehr anders – eine Diktatur.
Eine Reihe von starken Männern folgten einander, bis die
al-Assad-Dynastie sie übernahm. Ihre überraschende Langlebigkeit
hängt von der Tatsache ab, dass viele Syrer aller Gemeinschaften
anscheinend einen brutalen Tyrannen einem Auseinanderbrechen des
Staates in Chaos und Bürgerkrieg vorzogen.
JETZT, WIE es scheint, nicht mehr. Der syrische
Frühling ist ein Spross des Arabischen Frühlings, aber unter anderen
Bedingungen.
Ägypten ist viel anders als Syrien, als dass man
einen Vergleich ziehen könnte. Die Einheit Ägyptens ist seit
Tausenden von Jahren unbestritten gewesen. Ägyptischer Nationalstolz
ist fast greifbar. Die von israelischen Kommentatoren erhobene
Frage, ob der neue Präsident zuerst ein Muslim-Bruder ist oder
zuerst ein Ägypter, klingt für einen Ägypter irrelevant. Die
ägyptische Muslimbruderschaft ist natürlich zuerst ägyptisch. So
auch die ägyptischen Kopten, die ziemlich große christliche
Minderheit. (Ihr Name wie das Wort „Ägypten“ selbst kommt vom alten
Namen des Landes.)
Die Einheit Ägyptens wie die Tunesiens und sogar
Libyens nach dem Sturz der Diktatoren hängt offensichtlich mit dem
nationalen Bewusstsein dieser Völker zusammen. Dies ist in Syrien
keine gegebene Tatsache.
Wird Syrien, wenn das Monster von Damaskus
schließlich gestürzt wird, überleben?
Im allen westlichen Ländern und auch in Israel sagen
alle Experten hämisch voraus, das Land werde auseinanderfallen, mehr
oder weniger nach dem Vorbild des kolonialen französischen
Vorgängers.
Das ist gut möglich. Eine der wenigen Optionen, die
Bashar al-Assad geblieben sind, ist, die Alawiten in seiner Armee
zu sammeln und sich in die alawitische Festung im Nordwesten des
Landes zurückzuziehen und diesen vom Rest Syriens abzutrennen.
Dies würde zu viel Blutvergießen führen. Die
Alawiten würden sicher alle Sunniten ihrer Region vertreiben, und
die Sunniten würden alle Alawiten aus allen anderen Regionen
vertreiben. Es würde den schrecklichen Ereignissen in Indien
während der Teilung des Subkontinents und der Schaffung Pakistans
gleichen, wenn auch in einem viel kleineren Maßstab.
Die Drusen im Süden Syriens würden ihren eigenen
Staat gründen (ein alter Traum in Israel). Die Kurden im Nordosten
des Landes würden dasselbe tun, vielleicht sich dem benachbarten
kurdischen Halbstaat im Irak anschließen (ein türkischer Alptraum).
Was von Syrien übrig bleiben würde, würden sich die ewig mit
einander konkurrierenden Städte Damaskus und Aleppo teilen.
Das ist möglich, aber nicht unvermeidlich. Es würde
der bedeutendste Test für den syrischen Nationalismus sein. Besteht
er überhaupt? Wie stark ist er? Stark genug, um die Trennung der
Gemeinschaften zu überwinden?
Ich wage nicht zu prophezeien . Ich kann nur hoffen.
Ich hoffe, dass die verschiedenen Elemente der syrischen Opposition
sich einigen, um den gegenwärtigen brutalen Bürgerkrieg zu gewinnen
und ein neues Syrien zu gründen.
Anders als die israelischen Kommentatoren fürchte ich
mich nicht vor einer „Islamisierung“ Syriens. Es stimmt, dass die
syrische Muslim-Bruderschaft immer gewalttätiger war als die
ursprünglich ägyptische Organisation. Durch ihre Aktionen damals
halfen sie mit, das schreckliche Massaker in Hama zu provozieren,
das Hafez al-Assad ausführen ließ. Aber wie man in Kairo sieht, hat
die politische Macht eine mäßigende Wirkung.
FÜR MICH bleibt ein Rätsel. Ich sehe im Internet,
dass viele wohlmeinende Leute in aller Welt, besonders auf Seiten
der Linken, Bashar unterstützen.
Dies ist ein Phänomen, das sich wiederholt. Da
scheint es eine Art von linken Monsterfreunden zu geben. Dieselben
Leute, die Slobodan Milosevic, Hosni Mubarak und Moammar Qaddafi
umarmten, umarmen nun Bashar al-Assad und protestieren laut gegen
amerikanisch imperialistische Pläne gegen diesen „allgemeinen
Wohltäter“.
Offen gesagt, dies scheint mir ein bisschen verrückt
zu sein. Es stimmt, Großmachtpolitik beeinflusst, was in Syrien
geschieht, so wie sie es überall in der Welt tut. Aber der Charakter
und die Aktionen von Bashar, die denen seines Vaters folgen, lassen
keinen Zweifel aufkommen. Er ist ein Monster, der sein Volk
abschlachtet, und der so schnell wie möglich entfernt werden muss,
am besten unter UN-Führung. Wenn dies auf Grund des russischen und
chinesischen Vetos unmöglich ist - warum, um Gottes Willen?! –
dann müssen die syrischen Freiheitskämpfer so viel wie möglich
unterstützt werden.
ICH HOFFE aus tiefstem Herzen, dass ein freies,
vereinigtes, demokratisches Syrien
aus diesem Chaos auftauchen wird: noch ein Spross
des arabischen Frühlings.
In sha Allah, wenn Gott will, wie unsere Nachbarn
sagen würden.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)