Der Mord
Uri Avnery, 16.11.13
VOM ERSTEN Augenblick an hatte ich nicht den leisesten
Zweifel daran, dass Yasser Arafat ermordet wurde.
Es war eine Angelegenheit einfacher Logik.
Auf dem Rückweg von der Beerdigung traf ich zufällig Gamal
Zahalka, ein Knesset-Mitglied von der national-arabischen
Balad Partei, einen hoch qualifizierten Pharmazeut mit
Doktortitel. Wir tauschten unsere Ansichten aus und kamen zu
derselben Schlussfolgerung.
Die Untersuchungsergebnisse der Schweizer Experten von
letzter Woche bestätigten nur meine Überzeugung.
ZUNÄCHST EINE simple Tatsache: Menschen sterben nicht ohne
Grund.
Ein paar Wochen, bevor dies geschah, besuchte ich Arafat.
Er schien durchaus bei guter Gesundheit zu sein. Als wir
gingen, bemerkte ich zu Rachel, meiner Frau, er scheine mehr
auf Draht und aufgeweckter zu sein als während unseres
letzten Besuches.
Als er plötzlich sehr krank wurde, gab es keinen
offensichtlichen Grund. Die Ärzte im französischen
Militärhospital, zu dem er auf Drängen seiner Frau Suha
gebracht wurde und wo er starb, fanden keine Erklärung für
seinen Zustand. Sie fanden keine Krankheit. Absolut nichts.
Was an sich sehr seltsam war: Arafat war der Führer seines
Volkes, der de facto Oberhaupt eines Staates war, und man
kann sicher sein, dass die französischen Ärzte keinen Stein
auf dem andern ließen, um zu diagnostizieren.
Da blieb nur Strahlung und Gift. Warum wurde kein Gift bei
der Autopsie entdeckt? Die Antwort ist einfach: um ein Gift
zu entdecken, muss man wissen, nach welchem man sucht. Die
Giftliste ist fast unbegrenzt, und die Routinesuche ist auf
eine kleine Zahl begrenzt.
Arafats Leiche wurde nicht nach radioaktivem Polonium
untersucht.
WER HATTE die Gelegenheit, ihm das Gift zu verabreichen?
Praktisch jeder.
Während meiner vielen Besuche bei ihm, wunderte ich mich
immer über die laschen Sicherheitsvorkehrungen.
Bei unserm ersten Treffen im belagerten Beirut wunderte ich
mich über sein Vertrauen mir gegenüber. Zu jener Zeit war
bekannt, dass Dutzende von Mossad-Agenten und
Phalangisten-Spione die Stadt nach ihm durchkämmten. Er
konnte nicht sicher sein, dass ich selbst ein verdeckter
Mossad –Agent sein könnte oder dass mir einer folgte oder
dass ich nicht irgendein Gerät mit mir trug, das den Ort
verraten würde..
Später in Tunis war die Sicherheitskontrolle seiner Besucher
flüchtig. Die Sicherheitsvorkehrungen des israelischen
Ministerpräsidenten sind unermesslich strenger.
In der Mukata’a in Ramallah wurden keine
Sicherheitsmaßnahmen hinzugefügt.
Ich hatte mehrmals mit ihm gegessen und wunderte mich wieder
über seine Unbekümmertheit. Amerikanische und andere
ausländische Gäste, die pro-palästinensische Aktivisten
waren (oder so taten, als wären sie es), wurden von ihm
frei eingeladen, saßen neben ihm und hätten ihm leicht Gift
ins Essen streuen können. Arafat scherzte mit seinen Gästen
und fütterte sie oft mit der eigenen Hand mit
Fleischstückchen.
Gewisse Gifte benötigen keine Lebensmittel. Ein leichter
physischer Kontakt genügt.
DOCH DIESER Mann war einer der bedrohtesten Personen auf der
Welt. Er hatte viele Todfeinde; ein halbes Dutzend
Geheimdienste waren auf seine Vernichtung aus. Wie konnte
er nur so leichtsinnig sein?
Als ich mit ihm demonstrierte, erzählte er mir, er glaube,
er stünde unter göttlichem Schutz.
Als er einmal in einer Privatmaschine von Tschad nach Libyen
flog, verkündete der Pilot, dass das Benzin ausgegangen sei
und sie mitten in der Wüste notlanden müssten. Arafats
Leibwächter bedeckten ihn mit Kissen und bildeten einen Ring
um ihn. Sie wurden alle getötet; aber er überlebte fast ohne
einen Kratzer.
Seitdem wurde er sogar noch fatalistischer. Er war ein
frommer Muslim – wenn auch ein unauffälliger. Er glaubte,
dass Allah ihm die Aufgabe anvertraut habe: das
palästinensische Volk zu befreien.
WER ALSO hat den Mord begangen?
Für mich kann es keinen wirklichen Zweifel geben.
Wenn auch viele ein Motiv hatten, so hatte nur eine Person
die nötigen Mittel und einen tiefen und andauernden Hass
gegen ihn: Ariel Sharon.
Sharon war wütend, als Arafat ihm in Beirut durch die Finger
entwischte. Hier war sein Opfer so nah und so fern. Der
arabisch-amerikanische Diplomat Philip Habib brachte es
fertig, dass man den PLO-Kämpfern samt Arafat erlaubte, sich
ehrenhaft mit allen Waffen aus der Stadt zurückzuziehen. Ich
lag auf dem Dach eines Hangars im Beiruter Hafen, als die
Jeeps der PLO-Kämpfer mit fliegenden Fahnen zu den
Schiffen eilten.
Ich konnte Arafat nicht sehen. Seine Männer versteckten ihn
in ihrer Mitte.
Seitdem machte Sharon kein Hehl aus seiner Entscheidung, ihn
zu töten. Und wenn er sich zu etwas entschlossen hatte, es
zu tun, dann gab er niemals auf. Selbst bei viel kleineren
Dingen, wenn sein Plan durchkreuzt wurde, kam er immer
wieder auf ihn zurück, bis er Erfolg hatte.
Ich kannte Sharon gut. Ich kannte seine Entschlossenheit.
Als ich zweimal das Gefühl hatte, dass sich Sharon seinem
Ziel nähere, ging ich mit Rahel und einigen Kollegen in die
Mukata’a, um als menschliche Schutzschilder zu dienen.
Später befriedigte es uns, in den Zeitungen ein Interview
mit Sharon zu lesen, in dem er sich beklagte, dass er nicht
in der Lage gewesen sei, den geplanten Mord durchzuführen,
weil „einige Israelis dort waren.“.
DIE LIQUIDIERUNG Arafats war mehr als eine persönliche
Rache. Es war ein nationales Ziel.
Für Israelis war Arafat die Verkörperung des
palästinensischen Volkes, ein Objekt abgrundtiefen Hasses.
Er wurde mehr gehasst als jedes andere menschliche Wesen,
außer Adolf Hitler und Adolf Eichmann. Der generationen
-lange Konflikt mit dem palästinensische Volk war durch
diesen Mann personifiziert.
Es war Arafat, der die moderne nationale palästinensische
Bewegung ins Leben gerufen hatte, deren oberstes Ziel es
war, den zionistischen Traum zu vereiteln: das ganze Land
zwischen Meer und Jordan zu besitzen. Er war es, der den
bewaffneten Kampf (Terrorismus) führte, und als er sich zu
einem friedlichen Abkommen wandte, den Staat Israel
anerkannte und das Oslo Abkommen unterzeichnete, wurde er
noch mehr gehasst. Frieden war an die Rückgabe von viel
Gebieten an die Araber gebunden, und was könnte schlimmer
sein?
Der Hass gegen Arafat hatte längst aufgehört, rational zu
sein. Für viele war er eine totale physische Zurückweisung,
eine tödliche Mischung von Hass, Aversion, Feindschaft,
Mistrauen. Seit er in den 60ern auf der politischen Bühne
auftauchte, waren Milliarden von Worten über ihn in Israel
geschrieben worden. Ich habe wahrlich nie ein einziges
positives Wort über ihn gesehen.
Während all dieser Jahre führte eine Armee bezahlter
Propagandaschreiberlinge eine unnachgiebige
Dämonisierungskampagne gegen seine Person. Jede vorstellbare
Anklage wurde gegen ihn vorgebracht. Die Behauptung, dass er
AIDS habe, was jetzt wieder in den israelischen verdeckten
Propagandabemühungen steckt, sowie die Behauptung dass er
Homosexuell sei, wurde schon damals erfunden, um alle
homophoben Vorurteile gegen ihn zu mobilisieren. Es ist
unnötig zu sagen, es wurde nie ein Beweis darüber vorgelegt.
Die französischen Ärzte fanden keine Spur von AIDS.
IST DIE israelische Regierung fähig, sich zu entscheiden,
solch eine Tat auszuführen? Es ist eine bewiesene Tatsache,
dass sie es ist.
Im September 1997 wurde eine israelische Exekutionsgruppe
nach Amman gesandt, um Chalid Mishal, den Hamas Führer, zu
ermorden. Das gewählte Mittel Levofentanyl, war ein
tödliches Gift, das auch keine Spuren hinterlässt und
Wirkungen hervorruft, die wie ein Herzanfall aussehen. Es
wurde durch eine leichte physische Berührung am Ohr
ausgelöst.
Die Tat war vermasselt. Die Killer wurden von Passanten
verfolgt; sie flohen in die israelische Botschaft, wo sie
belagert wurden. König Hussein - allgemein ein
israelischer Kollaborateur - war wütend. Er drohte damit,
die Täter aufzuhängen, wenn nicht das lebensrettende
Gegengift sofort geliefert würde. Der damalige
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gab sofort nach und
sandte den Mossad-Chef mit dem geforderten Gegengift nach
Amann. Mishal wurde gerettet.
2010 wurde ein anderer Trupp mit einem Mordauftrag in ein
Hotel nach Dubai gesandt: ein anderer Hamas-Mitarbeiter,
Mahmoud al-Mabhouh, war diesmal das Ziel. Sie verpfuschten
auch diesen Auftrag – obwohl es ihnen gelang, ihre Beute zu
töten, indem sie sie erst mit einem geheimen Gift lähmten
und dann erstickten. Auch dieses Gift hinterließ keine
Spuren. Sie wurden aber von den Hotelkameras entdeckt und
ihre Identität entschlüsselt.
Gott weiß, wie viele nicht vermasselte Morde auf diese Weise
ausgeführt worden sind?
Israel ist natürlich nicht allein auf diesem Feld. Zuvor
wurde ein russischer Spion, Alexander Litvinenko, schlecht
beraten und missfiel Vladimir Putin. Er wurde mit
demselben radioaktiven Polonium vergiftet wie Arafat, aber
bevor er starb, entdeckte ein aufmerksamer Arzt das Gift.
Zuvor wurde ein bulgarischer Dissident vergiftet, indem er
mit einem winzigen Pellet berührt wurde, das von einem
Regenschirm abgefeuert wurde.
WARUM TÖTETE Sharon Arafat nicht früher? Schließlich waren
die palästinensischen Führer sehr lang in seinem
Ramallah-Compound belagert. Ich selbst sah, wie israelische
Soldaten nur wenige Meter von seinem Büro entfernt waren.
Die Antwort ist politisch. Die USA fürchteten, dass wenn
Israel als derjenige angesehen wird, der den PLO-Chef, -
für Millionen in der ganzen arabischen Welt als Held
betrachtet,- getötet wird, die Region gegen die
US-Bush-Regierung explodieren würde. George Bush junior
verbot dies. Die Antwort war, dies in einer Weise zu tun,
dass es nicht auf Israel hinweisen würde.
Dies war übrigens für Sharon ganz normal. Ein paar Wochen
vor der Invasion in den Libanon 1982 erzählte er dem
US-Außenminister Alexander Haig von seinem Plan. Haig
verbot es ihm - wenn es nicht eine glaubwürdige Provokation
geben würde. Siehe da, ein niederträchtiger Mordversuch
wurde auf das Leben von Israels Botschafter in London
gemacht. Die Provokation war unerträglich, und der Krieg
begann.
Aus demselben Grund leugnete die Netanjahu-Regierung jetzt
energisch eine Beteiligung an der Ermordung von Arafat.
Statt mit Prahlerei über den erfolgreichen Mord behauptet
unsere Propagandamaschine, dass die Schweizer Experten
inkompetent seien oder gelogen hätten (Wahrscheinlich sind
sie alle Antisemiten) und dass die Schlussfolgerungen falsch
seien. Ein geachteter israelischer Professor kam mit der
Erklärung, alles sei Unsinn. Selbst die alte Geschichte
über AIDS wird wieder erzählt.
Sharon in seinem endlosen Koma kann nicht reagieren. Aber
seine alten Assistenten sind erfahrene Lügner und
wiederholen ihre verlogenen Geschichten.
FÜR MICH ist der Mord an Arafat ein Verbrechen an Israel.
Arafat war der Mann, der bereit war, Frieden zu machen, und
in der Lage war, alle Teile des palästinensischen Volkes
dahin zu bekommen, ihn zu akzeptieren. Er legte auch die
Termine fest: einen palästinensischen Staat mit Grenzen auf
der Grünen Linie mit seiner Hauptstadt Ost-Jerusalem.
Dies ist genau, was sein Mord verhindern sollte.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)