Divide et Impera
Uri Avnery
21. Juli 2012
WAS IST mit der israelischen sozialen Protestbewegung
geschehen?
Eine gute Frage. Sie wird nicht nur im Ausland,
sondern auch in Israel gestellt.
Im letzten Jahr erreichte die Bewegung ihren
Höhepunkt in einer gigantischen Demonstration. Hunderttausende
marschierten durch Tel Aviv.
Die Regierung tat, was Regierungen in solchen
Situationen tun: sie ernannte eine Kommission, die von einem
geachteten Professor mit Namen Manuel Trajtenberg geleitet wurde.
Die Kommission machte einige gute, aber begrenzte Vorschläge; und
ein kleiner Teil davon wurde tatsächlich durchgeführt.
Mittlerweile hielt die Protestbewegung einen
Winterschlaf. Aus keinen guten Gründen war akzeptiert worden, eine
Protestbewegung solle nur im Sommer agieren . (Ich persönlich
ziehe Winterdemos vor. Die Sommer sind wirklich
verdammt heiß.)
ALS DER Sommer 2012 kam – und es ist ein besonders
heißer Sommer – kam auch die Protestbewegung in Gang.
Daphni Leef, die im letzten Jahr damit begonnen
hatte, rief zu einer Demonstration auf. Sie sammelte etwa 10 000
Leute um sich, eine beachtliche Zahl, aber viel weniger als im
letzten Jahr. Und das aus einem guten (oder schlechten) Grund:
genau zur selben Stunde fand kaum einen Kilometer entfernt eine
andere Demonstration statt. Es ging um den Militärdienst (mehr
darüber später).
Am letzten Samstagabend rief Daphni zu einer zweiten
Protestdemo auf und versammelte wieder 10 000 um sich. Warum nicht
mehr? Weil ganz genau an diesem Tag und genau zur selben Stunde
eine andere Demo an Tel Avivs Küstenstraße statt fand.
Was war der Unterschied zwischen beiden? Es gab
keinen. Beide behaupteten, der legitime Nachfolger des Protestes des
letzten Jahres zu sein. Sie benützten dieselben Slogans. Nur ein
paar Hundert erschienen auf der Küstenpromenade.
Gewöhnlich beteilige ich mich nicht an
Verschwörungstheorien. Aber dieses Mal ist es schwierig, nicht den
Verdacht zu haben, dass eine verborgene Hand die alte römische
Maxime „divide et impera!“ – „teile und herrsche“
anwendet. ( Sie scheint nicht von den Römern geprägt zu sein,
sondern von König Ludwig XIV., der sagte: „diviser pour regner“)
DER ERFOLG von Daphnis Demonstration am letzten
Samstag wurde durch ein Ereignis gefördert, das keiner voraussehen
konnte.
Als der Marsch das Regierungsviertel von Tel Aviv
(das frühere Dorf von Sarona, das von deutschen religiösen Siedlern
Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet wurde) erreicht hatte,
ereignete sich etwas Schockierendes. Einer der Demonstranten
mittleren Alters aus Haifa zündete sich selbst an und erlitt
schreckliche Verbrennungen.
Juden sind keine buddhistischen Mönche und nichts
dergleichen war vorher geschehen. Verzweifelte Menschen begehen
Selbstmord, aber nicht öffentlich und nicht mit Feuer. Ich denke,
seit konvertierte Juden von der spanischen Inquisition verbrannt
wurden, verabscheuen Juden diese Art von Tod.
Der Mann, Moshe Silman, hatte eine Leidensgeschichte
durchgemacht. Letztes Jahr war er aktiv in der Protestbewegung. Er
war ein kleiner Unternehmer, der zweimal pleite machte, mehrere
Schlaganfälle durchlitt und dem nichts als große Schulden blieben .
Er war dabei, aus seiner kleinen Wohnung hinausgeworfen zu werden.
Bevor er obdachlos würde, beschloss er , nachdem er den Leuten rund
um sich einen Abschiedsbrief gegeben hatte, sich das Leben zu
nehmen.
Die meisten Anhänger der amerikanischen Lebensweise
würden wahrscheinlich sagen, sein Scheitern sei seine eigene Schuld
und keiner ihm helfen müsse. Die jüdische Ethik ist anders und
verlangt, einer verzweifelten Person sollte, auch wenn sie sich
selbst in diese Situation gebracht hat, vom Staat ein Minimum
zugesichert werden, wie es mit der menschlichen Würde vereinbar
ist.
Benjamin Netanjahu, ein leidenschaftlicher Bewunderer
des freien Marktes, veröffentlichte ein Statement, bei dem er dies
Ereignis als „persönliche Tragödie“ abtut. Die Demonstranten
antworteten mit Postern: „Bibi, du bist unsere persönliche
Tragödie!“
Silman ist zu einem nationalen Symbol geworden . Er
hat der Protestbewegung einen mächtigen Anstoß verliehen und sie
hat im öffentlichen Bewusstsein wieder ihren Platz eingenommen hat.
DOCH DIE Nachrichten beherrscht im Augenblick ein
konkurrierender Protest – der den Militärdienst betrifft.
Es geht nicht darum, den Dienst in der Armee wegen
der Besatzung zu verweigern. Solche Verweigerer sind wenig, und ihre
mutigen Aktionen finden leider kein Echo.
Nein, es geht um eine ganz andere Sache: die
Tatsache, dass 6000 gesunde und kräftige orthodoxe junge Leute jedes
Jahr vom Militär- und vom Zivildienst befreit werden. Jene jungen
Leute, die drei volle Jahre in der Armee Dienst tun und dann noch
jedes Jahr einen Monat in der Reserve Dienst tun, haben die Nase
voll. Sie verlangen „gleiche Verteilung der Pflichten“. Unter der
säkularen Mehrheit und selbst unter der zionistischen religiösen
Jugend ist dies ein außerordentlich beliebtes Schlagwort.
Die Beliebtheit der Bewegung kann an der Tatsache
gemessen werden, dass Itzik Shmuli da ist. Shmuli ist der ehrgeizige
Studentenführer, der sich im letzten Jahr Daphni angeschlossen und
sie dann im Stich gelassen hat. Vor kurzem wurde bekannt, einer von
Israels reichsten Magnaten habe ihm 200 000 Dollar für ein Projekt
gegeben.
Die Orthodoxen träumen nicht vom Militärdienst. Sie
haben sehr gute Gründe. Zum Beispiel sei das Studium der Thora
offensichtlich bedeutender für die Sicherheit des Staates als der
Militärdienst, da Gott – wie jeder weiß – uns so lange beschützt,
wie diese Studien weitergehen. (Ich sprach einmal mit Ariel Sharon
darüber, und zu meiner Überraschung und Bestürzung stimmte er mit
dieser Theorie überein) .
Der wahre Grund für die Orthodoxen ist natürlich ihre
Entschlossenheit, unter allen Umständen jeden Kontakt zwischen ihren
Jungen und Mädchen und gewöhnlichen Israelis zu vermeiden, die von
Alkohol, Verbrechen, Sex und Drogen durchdrungen seien.
Netanjahu konnte leicht ohne die Orthodoxen regieren
und sich auf seine säkularen Partner verlassen. Aber er weiß, dass
in schlechten Zeiten die Orthodoxen zu ihm halten, während sich die
anderen davonschleichen.
In dieser Woche träumte sein produktiver Geist
fieberhaft von einem Kompromiss, der alles ändern würde, während der
Status quo vollkommen unverändert bleiben würde. Zum Beispiel wurde
vorgeschlagen, alle religiösen Männer einzuziehen, aber nicht im
Alter von 18 Jahren wie alle anderen, sondern erst im Alter von 26,
wenn tatsächlich alle orthodoxen Männer schon verheiratet sind und
vier Kinder haben, was ihre Einberufung zum Militär unmöglich macht
oder enorm teuer wäre.
VOR NUR 70 Tagen schloss sich die Kadima-Partei
schnell der Regierungskoalition an. Ihre Rechtfertigung war, eine
Koalition, die 80% der Knesset ausmacht, würde Netanjahu die
notwendige Sicherheit geben, das militärische
Einberufungsausnahmesystem total zu überholen.
Der wirkliche Grund war, dass der Kadima keine raison
d’etre übrig geblieben war. Noch ist sie die größte Fraktion in der
Knesset mit einem Sitz mehr als der Likud, war aber bei den nächsten
Wahlen mit völliger Vernichtung bedroht. Ein Streit mit den
verhassten Orthodoxen könnte all dies verändern.
In der vergangenen Woche, am 70. Tag ihrer
Mitgliedschaft in der ruhmreichen Koalition, verließ sie sie wieder.
Sie kann nun auf die bevorstehenden Wahlen unter dem stolzen Banner
des „Gleicher Dienst für alle“ zugehen.
DIE GESCHICHTE hat noch eine andere Seite.
Die Orthodoxen sind nicht die einzigen, die vom
Militär- und Zivildienst befreit sind. Auch die arabischen Bürger,
doch aus völlig anderen Gründen.
Die israelische Armee wollte nie die Araber einziehen
und ihnen – Gott bewahre – militärisches Training und Waffen geben.
Nur die Drusen, eine religiös-ethnische Gemeinde mit schwacher
Verbindung zum schiitischen Islam machen Militärdienst , wie auch
ein paar Beduinen.
Jetzt mit den überhandnehmenden Slogans „ Gleicher
Dienst für alle“ kommt auch diese Ausnahme wieder zur Sprache. Warum
machen Araber keinen Militärdienst? Warum werden sie nicht
wenigstens zum Zivildienst einberufen?
Die arabischen Bürger weigern sich natürlich.
Militärdienst gegen ihr eigenes Volk – ihre palästinensischen und
arabischen Landsleute - kommt nicht in Frage. Sie verweigern auch
den Zivildienst und behaupten, der Staat, der sie auf so viele Art
und Weise diskriminiere, habe überhaupt kein Recht, sie überhaupt
einzuberufen. Sogar wenn sozialer Dienst innerhalb der eigenen
Gemeinde angeboten würde, weigern sie sich und verursachen viel
Groll unter jüdischen Jugendlichen, die zur Armee müssen, während
Araber im selben Alter zur Universität gehen oder durch Arbeiten
gutes Geld verdienen können.
So ist die Bewegung für „gleichen Dienst“ in der
glücklichen Lage, die beiden von der Mehrheit am meisten gehassten
Gemeinschaften: die Orthodoxen und die Araber anzugreifen.
Bigotterie und Rassismus – alles im Namen der Gleichheit. Wer könnte
sich mehr wünschen?
Die soziale Protestbewegung dagegen will a l le -
auch die Orthodoxen und Araber -einschließen
NETANJAHU IST nun mit seiner früheren kleinen
Mehrheit geblieben. Er muss eine schnelle Lösung für den
Militärdienst der Orthodoxen finden, da der Oberste Gerichtshof ihm
im Nacken sitzt . Das gegenwärtige Einberufungsgesetz, das vom
Gericht zurückgewiesen wurde, wird Ende des Monats ungültig. Bis
dahin muss ein neues Gesetz her.
Für Netanjahu wären frühe Wahlen, vielleicht im
nächsten Februar, die bevorzugte Lösung. Da im Augenblick niemand
da ist, der mit seiner Beliebtheit konkurrieren könnte, wäre ihm
das sehr recht. Um neue Parteien zu gründen , dazu wäre keine Zeit
mehr vorhanden.
Aber Netanjahu ist kein Spieler. Er mag kein Risiko
eingehen. Bei Wahlen und bei Kriegen weiß man nie ganz sicher, wie
sie ausgehen. Alles Mögliche und Unmögliche kann passieren.
Eine ausgezeichnete Alternative wäre die, die Kadima
zu spalten. Die hat gerade angefangen, die süßen Früchte der
Regierung zu kosten, einige ihrer Mitglieder mögen sich abgeneigt
fühlen, sie gehen zu lassen. Der Likud wäre nur zu glücklich, wenn
er sie in seine Reihen aufnehmen könnte.
Divide et impera ist noch
immer eine nützliche Maxime.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)