Der mit guten Vorsätzen
gepflasterte Weg
Uri Avnery, 26.3.05
Vor einer Woche
hielten einige der israelischen Friedensorganisationen eine
Demonstration, um Ariel Sharons Abzugsplan zu unterstützen. Ich
quälte mich tagelang, ob ich mitmachen sollte oder nicht. Die
Frage beschäftigt mich weiterhin. Und die Diskussionen über
dieses Problem gehen weiter wegen einer wichtigen Abstimmung in
der Knesset, die in der nächsten Woche abgehalten wird.
Um eine Antwort
darauf zu finden, ist es vielleicht am besten, wenn die Pros
und Kontras gegenseitig abgewogen werden.
Beginnen wir
mit den Kontras:
Ich vertraue
Sharon nicht. David Ben Gurion, der ihn sehr liebte, betrachtete
ihn als zwanghaften Lügner. „Wenn Sharon seine Fehler ablegen
würde, wie z.B. nicht die Wahrheit zu sagen, ...wäre er ein
vorbildlicher Militärführer,“ schrieb Ben Gurion am 29. Januar
1960 in sein Tagebuch.
Seit einem Jahr
hat er nun über den Abzug gesprochen, für den Abzug
gearbeitet, Himmel und Erde für den Abzug bewegt. Aber bis zum
heutigen Tag hat er außer ein paar Verwaltungsmaßnahmen
überhaupt nichts getan, um den Plan zu erfüllen. Im Gegenteil:
in diesen Tagen wurden Millionen in die Siedlungen investiert,
damit die Häuser in Gush Kativ besser verteidigt werden können,
die Häuser von Bewohnern, die in ein paar Wochen evakuiert
werden sollen
Warum soll man
ihm Glauben schenken und ihn unterstützen, bevor die Ausführung
des Abzugsplans überhaupt begonnen hat?
Heißt das,
dass er den Plan gar nicht erfüllen will?
Ich glaube,
dass er jetzt keinen Rückzieher mehr machen kann. Sein großes
Ego hat sich nun mit dieser Operation identifiziert. Er hat
inzwischen seine Partei gespalten, ist ein Feind der Siedler
geworden und stellt das ganze politische System auf den Kopf.
Wenn er jetzt seinen Plan zurückzöge, würde dies seine
Selbstachtung und sein öffentliches Image zerstören.
Den Rückzug
zurückzuziehen, würde auch den Zorn von Präsident Bush nach sich
ziehen. Sharon hat für Nicht-Juden nur Verachtung übrig und
denkt, sie zu betrügen, sei eine nationale Pflicht – aber er
weiß auch, wo Israel ohne die unbegrenzte Unterstützung der USA
sein würde.
Nur ein
welt-erschütterndes Ereignis, wie eine amerikanische Invasion in
Syrien und dem Iran oder der Kollaps seiner Regierung, könnte
ihm erlauben, aus der schwierigen Situation herauszukommen
Wenn es also
wahrscheinlich ist, dass Sharon den Abzug durchführen wird,
warum sollte man ihn nicht unterstützen.
Weil
ich an den Tag danach denke.
Ich mache mir
keine Illusionen über Sharons Absichten, soweit es die Westbank
betrifft. Er beabsichtigt 58% zu annektieren und den
Palästinensern ein paar Enklaven zu lassen, von denen jede von
Siedlungen und Militäreinrichtungen umzingelt sein wird.
Höchstens wird er – um Bushs Forderung, das Gebiet des
Palästinastaates sollte zusammenhängen, nach zu kommen - diese
Enklaven mit Hilfe von Brücken und Tunnel unter einander
verbinden.
Außer seinem
Sohn Omri ist der Anwalt Dov Weissglas die ihm nächste Person.
Als dieser Mann erklärte, Sharon werde nach dem Abzug den
Friedensplan „in Formaldehyd“ legen, hat er - ausnahmsweise –
die Wahrheit gesagt.
Sharon
unterstützen, würde gleichzeitig bedeuten, diesen Plan auch zu
unterstützen.
Aber das
betrifft die Zukunft. Im Augenblick zählt die Operation des
Abzugs. Warum Sharon jetzt nicht unterstützen und den Kampf für
die Zukunft einen Tag danach beginnen?
Weil es
keineswegs nur eine Sache der Zukunft ist. Während dies hier
geschrieben wird, fährt Sharon fort, die Trennungsmauer zu
bauen, die bis jetzt 7% der Westbank annektiert hat. Die Gebiete
zwischen der Mauer und der Grünen Linie werden mit neuen
Siedlungen gefüllt. In der letzten Woche wurde verkündet, dass
er in Ma’ale Adumim 3500 Wohnungseinheiten bauen lassen will. Es
ist die gefährlichste Siedlung für die Westbank, die sie
tatsächlich in zwei Teile schneidet.
Die
Erweiterungen der Siedlungen und die Errichtung von Außenposten
gehen jetzt überall in der Westbank mit großer Geschwindigkeit
weiter.
Letzte Woche
veröffentlichte die Anwältin Talia Sasson ihren Bericht über die
Methoden, wie in der Westbank die Außenposten errichtet werden.
Die Aufgabe war ihr sogar von Sharon selbst zugewiesen worden.
Es muss daran erinnert werden, dass Sharon Bush versprochen
hatte, alle Siedlungen und Außenposten, die in seiner Amtszeit
seit 2001 errichtet wurden, abzureißen.
Sassons Bericht
stellt fest, dass alle diese Außenposten – genau wie die
früheren– illegal aufgebaut wurden und dass alle Ministerien und
Abteilungen der zionistischen Organisation zusammengearbeitet
und auf einen Wink hin, das Gesetz gebrochen haben. Und was
geschah? Nichts. Keiner wurde angeklagt, alles geht weiter wie
bisher. Der Bericht wurde noch am Tag, an dem er erschien,
begraben.
Dies sind die
Gründe, um Sharon nicht zu unterstützen. Sehen wir uns die
Gründe an, um ihn zu unterstützen.
Es gibt ein
Sprichwort// Man sagt, „der Weg zur Hölle sei mit guten
Vorsätzen gepflastert“. Aber auch das Gegenteil stimmt: Der Weg
zum Himmel ist mit bösen Vorsätzen gepflastert. Es ist möglich,
dass Sharons böse Absichten positive Ergebnisse hervorbringen,
von denen er nicht träumte, als er den Plan verkündigte. Er
wurde fast zufällig ersonnen, um einige Probleme des Augenblicks
zu lösen, ohne über die nächsten Schritte nachzudenken.
Sharon hatte
sich nicht vorstellen können, dass ihn sein Plan in eine direkte
Konfrontation mit den Siedlern bringen würde.
Er ist ein
General und seine Logik ist militärisch. Der Abzugsplan bringt
es mit sich, dass eine zweitrangige Sache aufgegeben wird, um
eine erstrangige voranzutreiben: d.h. ein paar kleine,
unwichtige Siedlungen in abgelegener Gegend aufzugeben, um
wichtigere Siedlungen in der Westbank zu konsolidieren und zu
stärken. Ein Stückchen Wüste - 6% der besetzten Gebiete – mit
1,25 Millionen Bewohnern aufgeben – um 58% der Westbank zu
annektieren. Diese Regionen, wie das Jordantal und die Wüste
Juda – sind von palästinensischer Bevölkerung nur dünn
besiedelt.
Er war
erstaunt, dass die Siedler diese Logik nicht verstanden. Sie
haben eine andere Einstellung. Sie glauben, dass die Evakuierung
von nur einer einzigen Siedlung, so klein und entlegen sie sein
mag, ein Präzedenzfall wäre und einen Prozess einleiten würde,
der nicht mehr anzuhalten wäre. Sie sind sich akut der Tatsache
bewusst, dass die große Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit
gegen sie ist und dass viele sie als Plage betrachten.
Die Siedler
sind Sharons Schützlinge. Er hat die Siedlungen nicht nur selbst
geplant und eine zentrale Rolle bei der Errichtung gespielt,
ihre Führer sind auch seine persönlichen Freunde und
regelmäßigen Besucher bei ihm zu Hause. Deshalb betrachten sie
ihn als einen Verräter, während er sich von ihnen unverstanden
fühlt.
All dies hat
seinen Einfluss auf meine Entscheidung: die entschlossene
Opposition der Siedler und ihrer Verbündeten gibt dem Abzug eine
Bedeutung, die sie nicht von Anfang an hatte.
Wir sind am
Anfang eines Bürgerkrieges. Wir wissen nicht, ob es ein
Blutvergießen gibt oder nicht. Aber selbst wenn es keine Toten
oder Verwundeten geben wird, wird dieser Krieg über die Zukunft
Israels bestimmen.
Es wird ein
Kampf zwischen der Mehrheit sein, die zum größten Teil säkular,
liberal und demokratisch ist, und einer fanatisierten
Minderheit, die zum größten Teil nationalistisch, von
messianischer Religiosität getrieben und grundsätzlich
antidemokratisch ist und die die Vorschriften ihrer Rabbiner
mehr respektiert als die Gesetze der Knesset. Die Ergebnisse
werden nicht nur darüber entscheiden, ob wir uns den
Palästinensern und der arabischen Welt in einem Frieden nähern,
sondern auch über das Wesen des Staates Israel selbst.
Wünscht
Sharon einen säkularen, demokratischen Staat?
Der Gedanke
ist natürlich absurd. Seine grundsätzliche Einstellung ist
verwirrt und verschwommen. Er ähnelt vielen Israelis: ganz
säkular in ihrem Alltag, aber davon überzeugt, dass Religion
nötig sei. Er ist gewiss kein großer Demokrat, glaubt aber
daran, dass der Staat demokratisch sein müsse. Er ist ein
extremer Nationalist, der für einen homogenen jüdischen Staat im
ganzen Land vom Meer bis zum Jordan kämpft. Aber jetzt wird er
von Umständen gezwungen, gegen seinen Glauben zu handeln.
Deutsche Philosophen nennen dies die „List der Vernunft“.
Die wichtige
Frage hier ist nicht, was und woran Sharon glaubt, sondern,
welche Ergebnisse seine Aktionen haben werden. So wie es im
Augenblick aussieht, scheint es, dass er gegen seinen Willen und
ohne seine Absicht auf eine schicksalsschwere Entscheidung
zusteuert.
Es ist
natürlich möglich, dass all dies nicht geschehen wird, dass
Sharon und die Siedler im letzten Augenblick einen Kompromiss
finden werden – wie es in der Politik gewöhnlich geschieht.
Nichts ist im voraus bestimmt. Aber man muss auf Grund dessen,
was als vernünftig erwartet werden kann, zu einer Entscheidung
kommen .
Am Ende
entschloss ich mich, mich der Demonstration anzuschließen, nicht
Sharon zu liebe, sondern um den Kampf gegen die Siedler zu
unterstützen.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |