"Wenn er ja sagt, was meint
er dann?"
Uri Avnery 20.6.09
"Na, sie haben ja sicher was zu
feiern", sprach mich der Reporter einer populären Radio-Station
nach Netanyahus Rede an. "Er nimmt ja den Plan an, den Sie vor 42
Jahren formuliert haben!" (Es war vor 60 Jahren, aber wer zählt
noch.)
Gideon Levy schrieb auf der Titelseite
der "Haaretz", " Der mutige Aufruf Uri Avnerys und seiner Freunde
vor vier Jahrzehnten hallt heute wider, obschon schwach, von einem
Ende (des politischen Spektrums in Israel) zum anderen.
Ich würde lügen, würde ich den Moment
der Befriedigung leugnen, aber er war schnell vorbei. Es war keine
"historische" Rede. Es war nicht einmal eine "große" Rede. Es war
eine schlaue Rede.
Sie enthielt einige Scheinheiligkeiten,
um Barak Obama zufrieden zu stellen, gefolgt von einer gehörigen
Portion genau entgegengesetzter Punkte, um die extrem Rechten in
Israel zu beruhigen. Nicht viel mehr.
NETANYAHU ERKLÄRTE "wir reichen unsere
Hand zum Frieden".
In meinen Ohren hörte sich das bekannt
an: Im Sianai-Krieg 1956 war einer meiner Redaktionsmitarbeiter in
die Einheit eingezogen worden, die Sharm-Al-Sheikh eroberte. Er, der
in Ägypten aufgewachsen und der arabischen Sprache mächtig war,
interviewte den ranghöchsten der gefangenen ägyptischen Offiziere,
einen Oberst. "Jedes Mal, wenn Ben Gurion verkündete, er reiche
seine Hand zum Frieden", sagte der Ägypter, "waren wir in höchster
Alarmbereitschaft."
Das war tatsächlich Ben Gurions
Methode. Vor jeder Provokation verkündete er, "wir reichen unsere
Hand zum Frieden", und fügte dann Bedingungen hinzu, von denen er
wusste, dass sie für die Araber auf keinen Fall akzeptabel waren. So
entstand eine für ihn ideale Situation: Israel erschien in den Augen
der Welt als friedliebend, während die Araber wie notorische
Friedens-Verweigerer aussahen. Damals machte in der israelischen
Führung der Scherz die Runde: Die arabische Ablehnung ist unsere
Geheimwaffe.
Diese Woche hat Netanyahu diese Methode
aufgewärmt.
ICH UNTERSCHÄTZE natürlich nicht die
Tatsache, dass der Chef der Likud-Partei die Worte
"palästinensischer Staat" ausgesprochen hat.
Worte tragen politisches Gewicht.
Einmal ausgesprochen, entwickeln sie ihr eigenes Leben. Man kann sie
nicht, wie einen Hund, zurück rufen.
In einem beliebten israelischen Lied
fragt der Junge das Mädchen: "Wenn Du Nein sagst, was meinst Du
dann?" Man könnte genauso gut fragen: Wenn Netanyahu Ja sagt, was
meint er dann?
Auch wenn die Worte "palästinensischer
Staat" von Netanyahu nur unter Druck und ohne jede Absicht, sie in
die Tat umzusetzen, ausgesprochen wurden, hat die Tatsache Gewicht,
dass das Regierungsoberhaupt und der Chef der Likud-Partei gezwungen
war diese Worte auszusprechen. Die Idee des palästinensischen Staats
ist nun zu einem Teil des nationalen Konsens geworden, und nur eine
Hand voll von Ultra-Rechten lehnt sie weiterhin direkt und
unverblümt ab. Das ist aber erst der Anfang. Der Haupt-Kampf wird
sein, die Idee in die Tat umzusetzen.
DIE GESAMTE Rede war nur an einen
gerichtet: Barak Obama. Sie war nicht dazu gedacht, sich an die
Palästinenser zu wenden. Klar war, dass die Palästinenser nur ein
passives Gesprächsobjekt darstellen zwischen dem Präsidenten der USA
und dem Premierminister Israels. Außer in einigen abgedroschenen
Klischees sprach Netanyahu über sie, nicht zu ihnen.
Seinen Worten nach ist Netanyahu
bereit, mit der "palästinensischen Öffentlichkeit" zu verhandeln,
natürlich "ohne Vorbedingungen". Will sagen: ohne Vorbedingungen von
Seiten der Palästinenser. Von Netanyahus Seite gibt es allerdings
jede Menge Vorbedingungen, von denen jede einzelne für sich schon
versichert, dass kein Palästinenser, kein Araber und kein Moslem
zustimmen würde, in Verhandlung zu treten.
1. Bedingung: Die Araber müssen
anerkennen, dass der Staat Israel der "Nationalstaat des jüdischen
Volkes" ist (nicht "jüdischer Staat", wie irrtümlich von der
örtlichen und weltweiten Presse verbreitet wurde). Wie schon Husni
Mubarak verkündet hat: Kein Araber wird so etwas akzeptieren, denn
es würde bedeuten, dass anderthalb Millionen arabische Bürger
Israels an diesem Staat nicht teilhaben, und sie würde von vorne
herein die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge verneinen –
die Trumpfkarte der arabischen Seite.
Hier muss erinnert werden: als die
Vereinten Nationen 1949 die Teilung in einen "jüdischen Staat" und
einen "arabischen Staat" beschloss, beabsichtigten sie nicht, den
Charakter dieser Staaten zu definieren. Sie stellten nur Tatsachen
fest: Es gibt im Land zwei rivalisierende Bevölkerungen, deshalb
muss das Land zwischen ihnen aufgeteilt werden. (Jedenfalls wären 40
% der Bevölkerung des "jüdischen" Staats arabisch gewesen.)
2. Bedingung: Die palästinensische
Autonomiebehörde muss vorher ihre Herrschaft über den Gazastreifen
festigen. Wie? Die israelische Regierung verhindert ja jeden
Durchgang von der Westbank zum Gazastreifen, und keine
palästinensische Truppe kann von hier nach da. Die Möglichkeit, das
Problem durch eine palästinensische Einheitsregierung zu lösen, ist
auch verwehrt: Netanyahu erklärte ein für alle mal, es gäbe keine
Verhandlungen mit einer palästinensischen Führung, die "Terroristen"
mit einschließe, "die uns vernichten wollen" – seine Art, Hamas zu
beschreiben.
3. Bedingung: Der palästinensische
Staat wird entmilitarisiert sein. Das ist keine neue Idee. Fast in
allen bisher vorgelegten Friedensplänen ist von
Sicherheits-Vorkehrungen die Rede, die Israel vor palästinensischen
Angriffen und Palästina vor israelischen Angriffen schützen. Aber
nicht das hat Netanyahu im Sinn: Er sprach nicht von
Gegenseitigkeit, sondern von Einseitigkeit. Von einem
palästinensischen Staat, dessen Luftraum und Grenzübergänge von
Israel kontrolliert würden, also einer Art vergrößertem
Gazastreifen. Dabei wahrte er Überheblichkeit und Demütigung;
allein das Wort "Demilitarisierung" sollte genügen, die
Palästinenser zum "Nein" zu bewegen.
4. Bedingung: Das ungeteilte Jerusalem
bleibt unter israelischer Herrschaft. Dies wurde nicht als
israelische Ausgangsposition zu Verhandlungen präsentiert, sondern
als endgültige Entscheidung. Das allein genügt, zu versichern, dass
kein Palästinenser, kein Araber und kein Moslem diesen Vorschlag
annehmen kann.
In den Oslo-Verträgen steht, Israel
werde um Jerusalems Zukunft verhandeln. Es ist ein allgemein
gültiger juristischer Grundsatz, dem nach einer, der in
Verhandlungen tritt, sich verpflichtet, dies bona fide zu tun, auf
der Basis von Geben und Nehmen. Deshalb beinhalten alle
existierenden Friedenspläne die Rückkehr Ostjerusalems – ganz oder
teilweise – unter arabische Kontrolle.
5. Bedingung: Zwischen Israel und dem
palästinensischen Staat werden "verteidigbare Grenzen" festgelegt.
Dies ist das Code-Wort für ausgeweitete Annexionen. Seine Bedeutung:
Keine Rückkehr zu den Grenzen von 1967, auch nicht mit
Gebietsaustausch, der Israel erlauben würde, einige der großen
Siedlungen seinem Gebiet zuzuschlagen. Um "verteidigbare Grenzen"
fest zu legen, muss ein beträchtlicher Teil der besetzten Gebiete
(die insgesamt nur 22 % des Gebiets des mandatorischen Palästina vor
1948 ausmachen) israelisches Gebiet werden.
6. Bedingung: Das Flüchtlingsproblem
wird "außerhalb israelischen Territoriums" gelöst. Das heißt: Nicht
ein einziger Flüchtling wird zurückkehren dürfen. Tatsächlich
stimmen alle überein, dass nicht Millionen von Flüchtlingen nach
Israel zurückkehren. Nach der arabischen Friedensinitiative soll
eine Lösung "von beiden Seiten akzeptiert" werden, – das heißt,
Israel muss zustimmen. Man geht davon aus, dass die Parteien der
Rückkehr einer symbolischen Anzahl von Flüchtlingen zustimmen. Dies
ist eine äußerst beladene und empfindliche Angelegenheit, wer
Frieden will, muss sich ihrer mit Vorsicht und größtmöglicher
Empfindsamkeit annehmen. Netanyahu tut genau das Gegenteil: Seine
provokative Feststellung, ohne jede Empathie, soll automatisch zur
Ablehnung führen.
7. Bedingung: Kein Einfrieren des
Siedlungsbaus. Das "normale Leben" der Siedler wird fortgeführt. Das
heißt – es wird weiter gebaut, sozusagen für die "natürliche
Vermehrung". Der palästinensische Verhandler Michael Tarasy
illustriert diesen Umstand so: "Wir verhandeln, wie wir uns die
Pizza teilen, während dessen isst Israel sie auf."
Das war die ganze Rede. Nicht weniger
interessant ist, was nicht in ihr gesagt wurde. Zum Beispiel
Begriffe wie: Road Map, Annapolis, die arabische
Friedensinitiative, Besatzung, Palästina, (palästinensische)
Souveränität, Öffnung der Grenzübergänge (nach Gaza), die
Golanhöhen, und vor allem: Es fand sich in der ganzen Rede nicht ein
Anflug von Respekt gegenüber dem Feind, der , so besagt das alte
jüdische Sprichwort, in einen Freund verwandelt werden muss.
WAS IST ALSO wichtiger? Was überwiegt?
Die verbale Anerkennung eines "palästinensischen Staates" durch
Netanyahu, oder die Bedingungen, die diese Worte inhaltlich
entleeren?
Die Reaktion der Öffentlichkeit ist
interessant. In der ersten Umfrage am Tag nach der Rede bekunden 71
% der Befragten Unterstützung, aber 55 % glauben, Netanyahu habe
sich "amerikanischem Druck gebeugt", 70 % glauben nicht, dass in den
kommenden Jahren ein palästinensischer Staat entsteht.
Was genau unterstützen diese 71 % ?
Die Lösung "palästinensischer Staat", oder die Bedingungen, die
seine Entstehung verhindern, oder gar beides ?
Es gibt natürlich eine extrem rechte
Minderheit, die einen Kollisionskurs mit den Vereinigten Staaten dem
Verzicht auf Gebiete zwischen Mittelmeer und Jordan vorzieht. An der
Straße nach Jerusalem hängen große Plakate mit einer Bildkollage
Obamas, dem man eine Keffieh, die traditionelle arabische
Kopfbedeckung, aufgesetzt hat. (Sie macht jeden schauern, der sich
an genau die gleiche Kollage mit dem Bild von Yitzhak Rabin
erinnert.) Aber die Mehrheit der Bevölkerung versteht, dass ein
Bruch mit den USA auf jeden Fall vermieden werden muss.
Netanyahu und der rechte Flügel hatten
gehofft, dass die Rede von den Palästinensern geradewegs abgelehnt
würde, und sie so als notorische Friedens-Verweigerer da stünden,
während die israelische Regierung sich als derjenige präsentieren
könne, der den ersten, kleinen aber bedeutenden Schritt in Richtung
Frieden tut. Sie sind sich sicher, dass es diesen Preis umsonst und
gratis gibt: Keine Errichtung eines palästinensischen Staates,
keinerlei Zugeständnisse von Seiten der israelischen Regierung, die
Besatzung bleibt wie sie ist, der Siedlungsbau geht weiter, und
Obama wird alles akzeptieren.
DIE FRAGE IST also: Wie wird Obama
reagieren ?
Die erste Reaktion war minimal. Eine
höflich positive.
Obama legt es nicht auf einen frontalen
Zusammenstoss mit der israelischen Regierung an. Es sieht so aus,
als wolle er "sanften" Druck ausüben, vorsichtig, nachdrücklich,
aber ruhig. Ich meine, es ist eine kluge Einstellung.
Kurz vor der Rede traf ich mich mit dem
Ex-Präsidenten Jimmy Carter im Hotel "American Colony" in
Ost-Jerusalem. Das Treffen war von Gush Shalom organisiert worden,
es nahmen Vertreter einiger israelischer Friedensorganisationen
daran teil. In meinen einleitenden Worten erinnerte ich daran, dass
wir uns im selben Zimmer befanden, in dem sich vor sechzehn Jahren,
als in Washington die Oslo-Verträge unterschrieben wurden,
israelische Friedensaktivisten und führende Palästinenser aus
Jerusalem trafen und Champagner-Flaschen öffneten. Die Euphorie
dieser Momente ist spurlos verschwunden.
Israelis und Palästinenser haben die
Hoffnung verloren. Auf beiden Seiten wünscht sich die überwältigende
Mehrheit ein Ende des Konflikts, glaubt aber nicht, dass Friede
möglich ist – und beide Seiten beschuldigen die jeweils andere,
dafür verantwortlich zu sein. Unsere Aufgabe ist es, den Glauben,
dass er möglich ist wieder zu beleben.
Dafür brauchen wir ein dramatisches
Ereignis, einen belebenden elektrischen Schock – wie den Besuch
Anwar Sadats in Jerusalem 1977. Ich schlug vor, Obama solle nach
Jerusalem kommen, um sich direkt an die israelische Öffentlichkeit
zu wenden, vielleicht sogar vom Rednerpult der Knesset, wie Sadat.
Nachdem er allen Teilnehmern zugehört
hatte, ermutigte uns der ehemalige Präsident und präsentierte einige
eigene Vorschläge.
DER ENTSCHEIDENDE PUNKT sind in diesem
Moment natürlich die Siedlungen. Wird Obama auf einem absoluten
Baustopp beharren oder nicht ?
Netanyahu hofft, sich aus dieser Sache
unbeschadet heraus zu winden. Er hat jetzt wieder einen neuen Gag:
Begonnene Projekte müssen zu Ende geführt werden. Man kann ja nicht
mitten drin aufhören. Die Pläne sind schon genehmigt. Die Mieter
warten auf den Einzug, die muss man ja nicht leiden lassen.
Überhaupt wird der Oberste Gerichtshof einen Baustopp nicht
erlauben. (Ein besonders lächerliches Argument, wie: Das Gericht
gestattet dem Dieb, noch ein bisschen von dem gestohlenen Geld
auszugeben, bevor er verurteilt wird.)
Wenn Obama darauf herein fällt, muss er
sich nicht wundern, wenn er, verspätet, herausfindet, dass diese
Projekte 100 000 Wohn-Einheiten mit einschließen.
Und das bringt uns zur wichtigsten
Tatsache in dieser Woche: Die Siedler haben nach Netanyahus Rede
nicht protestiert. Hie und da wurde halbherzig Kritik geübt, aber
der größte Teil dieser Bevölkerung in Waffen schwieg.
Was uns an den unvergessenen Sherlok
Holmes erinnert, der erzählte, wie er einen geheimnisvollen Fall
löste, indem er auf das "seltsame Verhalten des Hundes in der Nacht"
aufmerksam machte.
"Aber der Hund hat ja nachts gar nichts
getan!" erwiderte jemand.
"Eben das genau ist seltsam", bemerkte
Holmes.
(dt. Weichenhan-Mer G., vom
Verfasser autorisiert)
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