TRANSLATE
Zu den Küsten von Tripolis
Uri
Avnery 27.August 2011
OBWOHL UNS die Bibel sagt „Freue dich
nicht über den Fall deines Feindes“ (Sprüche 24), konnte ich nicht
anders, als mich freuen.
Muammar al-Gaddafi war der Feind jeder
anständigen Person in der Welt. Er war einer der schlimmsten
Tyrannen in jüngster Vergangenheit.
Diese Tatsache war verborgen hinter
einer Fassade von Clownerie. Er liebte es, sich selbst als Philosoph
darzustellen (s. das „Grüne Buch“), als visionärem Staatsmann
(Israelis und Palästinenser müssen sich zum Staat Isratin vereinen),
selbst als unreifem Teenager (seine unzähligen Uniformen und
Kostüme). Aber hauptsächlich war er ein erbarmungsloser Diktator,
umgeben von korrupten Verwandten und Freunden, die den großen
Reichtum Libyens verschwendeten.
Das war für jeden offensichtlich, der
sehen wollte. Leider gab es nicht wenige, die ihre Augen
verschlossen hielten.
ALS ICH meine Unterstützung für die
internationale Intervention zum Ausdruck brachte, erwartete ich, von
wohlmeinenden Leuten angegriffen zu werden. Ich wurde nicht
enttäuscht.
Wie konnte ich nur? Wie konnte ich die
amerikanischen Imperialisten und die grässliche NATO unterstützen?
War mir denn nicht klar, dass es nur ums Öl ging?
Ich war nicht überrascht. Ich habe dies
schon einmal erlebt. Als die Nato begann, das serbische Gebiet zu
bombardieren, um den Verbrechen des Slobodan Milosevic im Kosovo ein
Ende zu bereiten, wandten sich viele meiner politischen Freunde
gegen mich.
War mir denn nicht klar, dass dies alles
nur eine imperialistische Verschwörung war? Dass die hinterhältigen
Amerikaner Jugoslawien (oder Serbien) nur auseinander reißen
wollten? Dass die Nato eine böse Organisation war? Dass Milosevic,
auch wenn er ein paar Fehler haben mag, eine progressive
Menschlichkeit vertrat?
Dies wurde gesagt, als die grausamen
Akte des Massenmordes in Bosnien für jeden offensichtlich waren, als
Milosevic schon als kaltblütiges Monster bloßgestellt war. Ariel
Sharon bewunderte ihn.
Wie können also anständige, wohlmeinende
Linke, Menschen mit makelloser humanistischer Vorgeschichte, solch
eine Person umarmen? Meine einzige Erklärung war, dass ihr Hass auf
die USA und die NATO so stark, so leidenschaftlich war, dass jeder,
der von ihnen angegriffen wurde, gewiss ein Wohltäter der Menschheit
sein muss und alle Anklagen gegen sie reine Erfindungen waren. Sogar
Pol-Pot.
Nun geschah es noch einmal. Ich wurde
bombardiert mit Mails von wohlmeinenden Leuten, die Gaddafi für alle
seine guten Taten lobten. Man hat den Eindruck bekommen können, dass
er ein zweiter Nelson Mandela, wenn nicht gar ein zweiter Mahatma
Gandhi war.
Während die Rebellen sich schon durch
seine große ummauerte Anlage kämpfen, lobte ihn der sozialistische
Führer Venezuelas Hugo Chavez als wahres Modell aufrichtiger
Menschlichkeit, ein Mann, der es wagt, sich gegen die amerikanischen
Aggressoren zu stellen.
Nun, tut mir leid, da mache ich nicht
mit. Ich habe diese irrationale Abscheu vor blutigen Diktatoren, vor
völkermörderischen Massenmördern, vor Führern , die gegen ihr
eigenes Volk Krieg führen. Und bei meinem fortgeschrittenen Alter
ist es schwierig, sich zu ändern.
Ich bin bereit, sogar den Teufel zu
unterstützen, wenn es nötig ist, diese Art Grausamkeit zu beenden.
Ich würde nicht einmal nach seinen genauen Motiven fragen. Was immer
man auch über die USA und/oder die NATO denken mag – wenn sie einen
Milosevic oder einen Gaddafi entwaffnen, dann haben sie meinen
Segen.
WIE GROSS ist die Rolle der NATO bei der
Niederlage des libyschen Diktators?
Die Rebellen hätten Tripolis nicht
erreicht, gewiss nicht bis heute, wenn sie nicht die
NATO-Unterstützung aus der Luft gehabt hätten. Libyen ist eine große
Wüste. Die Offensive war auf eine lange Straße angewiesen. Ohne die
technische Beherrschung der Luft, würden die Rebellen massakriert
worden sein. Jeder, der während des 2.Weltkrieges lebte und den
Feldzügen Rommels und Montgomery folgte, weiß dies.
Ich vermute, dass die Rebellen auch
Waffen und Rat erhalten haben, der ihre Offensive erleichterte.
Aber ich bin gegen die gönnerhafte
Behauptung, dass dies alles ein Sieg der NATO war. Es ist die alte
kolonialistische Haltung in neuer Gestalt. Natürlich konnten diese
armen, primitiven Araber nicht alles ohne den Weißen Mann machen..
Aber Kriege werden nicht mit Waffen
gewonnen, sie werden von Menschen gewonnen. „Mit Stiefeln auf dem
Boden“, wie die Amerikaner dies nennen. Selbst mit all der Hilfe,
die die libyschen Rebellen erhielten, so unorganisiert und schlecht
bewaffnet sie waren, so haben sie doch einen erstaunlichen Sieg
errungen. Dies wäre so nicht ohne wirkliche revolutionäre
Leidenschaft, ohne Tapferkeit und Entschlossenheit geschehen. Es ist
ein libyscher Sieg, kein englischer oder französischer.
Dies ist von den internationalen Medien
heruntergespielt worden. Ich habe keine einzige echte
Kampf-Reportage gesehen (und ich weiß, wie das aussieht).
Journalisten haben sich nicht mit Ruhm bekleckert. Sie zeigten
exemplarische Feigheit, blieben in sicherem Abstand von der Front,
sogar während des Falles von Tripolis. Im Fernsehen sahen sie mit
ihren großen Helmen lächerlich aus, als sie von barhäuptigen
Kämpfern umgeben waren.
Was herüber kam, war endloser Jubel über
den Sieg, der scheinbar vom Himmel gefallen war. Aber das waren
Heldentaten, die vom Volk begangen worden waren – ja von einem
arabischen Volk.
Dies ist für unsere israelischen
„Militärkorrespondenten“ und unsere „Experten von arabischen
Angelegenheiten“ besonders ärgerlich. Daran gewöhnt, „die Araber“ zu
verachten oder zu hassen, schrieben sie dem Sieg der Nato zu. Es
scheint, dass das Volk von Libyen eine kleinere Rolle gespielt hat,
wenn überhaupt eine.
Nun plappern sie endlos über die
„Stämme“, die Demokratie und eine ordentliche Regierung in Libyen
unmöglich machen werden. Libyen sei kein wirkliches Land. Es war
,bevor es eine italienische Kolonie wurde, nie ein geeintes Volk. So
etwas wie ein libysches Volk gibt es gar nicht. ( Man erinnere sich,
was die Franzosen über die Algerier und Golda Meir über die
Palästinenser sagten).
Nun, dafür, dass ein Volk nicht
existiert, kämpften die Libyer sehr gut. Und was die „Stämme“ angeht
– wie kommt es, dass es nur in Afrika und Asien Stämme gibt, niemals
unter Europäern? Warum nicht ein walisischer Stamm oder ein
bayrischer Stamm?
(Als ich 1986 vor dem Friedensvertrag
Jordanien besuchte, wurde ich von einem sehr zivilisierten,
hochrangigen jordanischen Beamten eingeladen. Nach einer
interessanten Unterhaltung beim Mittagessen überraschte er mich, als
er erwähnte, er würde zu einem bestimmten Stamm gehören. Am nächsten
Tag, als ich mit einem Pferd nach Petra ritt, fragte mich der Reiter
neben mir mit leiser Stimme, ob ich „zum Stamm“ gehören würde. Ich
brauchte eine Zeitlang, bis ich verstand, dass er mich fragte, ob
ich Jude sei. Es scheint, dass amerikanische Juden über sich selbst
in dieser Weise sprechen.)
Die „Stämme“ von Libyen würden in Europa
„ethnische Gruppen“ genannt und in Israel „Kommunen“. Der Terminus
„Stamm“ hat eine herablassende Assoziation. Wir sollten diesen
Ausdruck nicht mehr benützen.
ALL JENE, die die Intervention der NATO
verdammen, sollten auf eine einfache Frage antworten: Wer hätte denn
sonst diesen Job getan?
Die Menschheit des 21.Jahrhunderts kann
keine Akte von Genoziden und Massenmorden tolerieren, egal, wo sie
geschehen. Sie können nicht zusehen, wenn Diktatoren ihr eigenes
Volk abschlachten. Die Doktrin des „Nicht-eingreifens“ in die
inneren Angelegenheiten souveräner Staaten“ gehört in die
Vergangenheit. Wir Juden, die wir die Menschheit angeklagt haben,
untätig abseits gestanden zu haben, während Millionen Juden,
einschließlich deutscher Bürger, von der legitimen deutschen
Regierung vernichtet wurden, schulden der Welt gewiss eine Antwort.
Ich habe einige Male erwähnt, dass ich
für eine Art effektiver Weltregierung sei und erwarte, dass es sie
am Ende dieses Jahrhunderts gibt. Dies würde eine demokratisch
gewählte Welt-Exekutive einschließen, die auch militärische Kräfte
zu ihrer Verfügung hat, die eingreifen können, wenn ein
Weltparlament dies entscheidet.
Damit dies geschieht, müssen die Vereinigten
Nationen vollkommen umorganisiert werden. Die Veto-Macht muss
verschwinden. Es ist unerträglich, dass die US mit einem Veto die
Aufnahme Palästinas als Mitgliedstaat verhindern oder dass Russland
und China mit einem Veto eine Intervention in Syrien verhindern
kann.
Gewiss sollten die Stimmen der
Großmächte wie die der USA und Chinas gewichtiger sein als - sagen
wir mal – Luxemburg oder die Fidschi-Inseln, aber eine
Zwei-Drittel-Mehrheit in der Vollversammlung sollte die Macht haben,
Washington, Moskau und Peking zu überstimmen.
Das mag Zukunftsmusik sein oder, wie
andere sagen, ein Hirngespinst. Was die Gegenwart betrifft, so
leben wir in einer sehr unvollkommenen Welt und müssen mit den uns
zur Verfügung stehenden Mitteln auskommen. Die NATO ist leider eines
davon. Die EU ist ein anderes, obwohl in diesem Fall das arme, ewig
von schlechtem Gewissen geschlagene Deutschland sie gelähmt hat.
Wenn Russland oder China sich ihr anschließen würden, wäre dies gut.
Dies ist kein fernes Problem. Gaddafi
ist am Ende, aber Bashar al-Assad ist es nicht. Er schlachtet sein
Volk ab, während Sie dies lesen, und die Welt sieht hilflos zu.
Gibt es Freiwillige, die bereit sind zu
intervenieren?
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
|