Weine,
geliebtes Land!
Uri Avnery, 24. Oktober 2015
MANCHMAL KANN ein kleiner Vorfall die Dunkelheit durchdringen und
ein erschreckendes Bild enthüllen. Dies geschah am letzten Sonntag
in Beersheba, der Hauptstadt der Negev. Das Bild war in der Tat
erschreckend.
DER VORFALL begann als Routineangriff, einer von vielen, an die wir
uns in den letzten Wochen gewöhnt haben. Einige nennen dies „Die 3.
Intifada“, einige sprechen von einer Terrorwelle; einige sind
zufrieden mit „Eskalation“ Es ist ein neues Stadium des alten
Konfliktes. Sein Symbol ist die individuelle Messerstecherei eines
einzelnen Palästinensers – entweder in Ost-Jerusalem, der Westbank
oder selbst in Israel.
Sie ist mit keiner palästinensischen Partei verbunden. Vor der Tat
hat der Angreifer keine Verbindung zu irgendeiner militanten Gruppe.
Er oder sie waren dem israelischen Sicherheitsdienst völlig
unbekannt. Deswegen ist es unmöglich, solche Aktionen zu verhindern.
Eines Morgens wacht der zukünftige Märtyrer auf; er fühlt, dass
jetzt die Zeit gekommen ist, nimmt ein großes Küchenmesser, geht in
einen jüdischen Vorort und sticht in den nächsten israelischen
Juden, vorzugsweise einen Soldaten - aber wenn keine Soldaten in der
Nähe sind – irgend einen jüdischen Zivilisten, einen Mann, eine Frau
oder sogar ein Kind . Der Angreifer weiß sehr wohl, dass er
höchstwahrscheinlich auf der Stelle getötet werden wird. Er will ein
Märtyrer werden, buchstäblich „ein Glaubenszeuge.“
Bei früheren Intifadas waren die Angreifer gewöhnlich Mitglieder von
Organisationen oder Zellen. Diese Zellen waren ausnahmslos von
bezahlten Verrätern infiltriert, und fast alle Täter wurden früher
oder später gefangen. Viele solche Taten wurden verhindert. Der
jetzige Ausbruch ist anders. Da sie von einzelnen Individuen
ausgeführt werden, ihnen sind keine Spione bewusst. Diese Akten
können nicht im Voraus gestoppt werden. Sie können irgendwo, an
jedem Ort geschehen – in Jerusalem, in den andern besetzten
Gebieten, mitten in Israel selbst. Jeder Israeli kann irgendwo mit
dem Messer angegriffen werden.
Um das ganze Bild des Vorfalles zu bekommen, muss man dieser Steine
werfenden Gruppe palästinensischer Jugendlicher und Kindern an den
Schnellstraßen hinzufügen. Die Gruppe bildet sich plötzlich,
spontan, gewöhnlich zusammengesetzt aus lokalen Teenagers, die
Steine und Brandbomben auf vorbeifahrende Wagen wirft– Natürlich
versichert man sich als erstes, ob es auch jüdische Israelis sind.
Oft schließen sich ihnen noch mehr Kinder an, die eifrig ihren Mut
beweisen wollen und ihre Hingabe an Allah. Einer der Gefangenen war
13 Jahre alt. Steine werfende Vorfälle führen zuweilen zum Tod des
Fahrers, der die Kontrolle über seinen Wagen verliert. Die Armee
antwortet mit Tränengas, Gummi-ummantelten Stahlkugeln, (die großen
Schmerz verursachen, aber selten töten und mit scharfer Munition.
DER AUSBRUCH – dem noch kein endgültiger Name gegeben worden ist -
begann vor mehreren Wochen in Ost-Jerusalem. Wie gewöhnlich – könnte
man hinzufügen. Das Zentrum der arabischen Alt-Stadt ist die heilige
Stätte, die die Juden „ den Tempelberg“ nennen und die Araber Haram
al Sharif – den heiligen Schrein. Es ist dort, wo einst die alten
jüdischen Tempel standen. Nachdem auch der Zweite Tempel von den
Römern vor etwa 1945 Jahren zerstört wurde, wurde der Platz von den
Christen entheiligt, als sie diesen in einen Düngehaufen
verwandelten. Als er von den Muslimen 635 erobert wurde, befahl der
humane Khalif Omar, ihn zu reinigen. Zwei heilige muslimische
Gebäude wurden errichtet - der wunderschöne Felsendom mit seiner
auffallend goldenen Kuppel und der sogar noch heiligeren
Al-Aqsa-Moschee, die dritt-heiligste Moschee im Islam.
Wenn man also Unruhe schaffen will, dann ist dies der Ort, an dem
man beginnt. Der Schrei, dass Al-Aqsa in Gefahr ist, lässt jeden
Palästinenser und jeden Muslim rund um die Welt aufstehen. Es regt
moderate religiöse Muslime (Wie die meisten Araber) auf, als auch
religiöse Fanatiker. Es ist ein Ruf zu den Waffen, zum Selbstopfer.
Das geschah mehrmals in der Vergangenheit. Die schrecklichen
„Ereignisse“ von 1929, während der die alte jüdische Gemeinschaft in
Hebron massakriert wurde, fand durch eine jüdische Provokation an
der Westmauer statt, ein Teil der Mauer, die den Berg umgibt. Die
zweite Intifada brach aus, weil Ariel Scharon eine provokative
Demonstration auf den Berg führte – mit der ausdrücklichen
Genehmigung des damaligen Labor-Partei-Ministerpräsidenten Ehud
Barak.
Die gegenwärtige Unruhe begann mit Besuchen des jüdischen Führers
des extrem rechten Flügels, einschließlich eines Ministers und
Knesset-Mitgliedern auf dem Tempelberg. Dies ist an sich nicht
verboten. Außer nach Orthodoxem jüdischen Gesetz. Weil es
gewöhnlichen Juden nicht erlaubt ist, das zu betreten, wo einst das
Heilige des Heiligsten stand. Der Berg ist eine Touristen-Attraktion
von höchstem Rang. Um die Dinge zu regeln, wurde etwas geschaffen,
das man den Status quo nannte. Als die israelische Armee
Ost-Jerusalem 1967 im Sechs-Tage-Krieg eroberte, wurde entschieden,
dass die Tempelberganlage, obwohl jetzt unter israelischer
Herrschaft, unter muslimischer und jordanischer Jurisdiktion stünde
(Warum jordanisch? Weil Israel nicht mit palästinensischer
Jurisdiktion einverstanden war) Den Juden war es erlaubt, die Anlage
zu betreten, aber nicht dort zu beten.
Benjamin Netanjahu behauptet, dass der Status Quo aufrecht erhalten
ist. Aber in letzter Zeit haben Gruppen fanatischer Israelis vom
rechten Flügel die Anlage betreten, beschützt von der israelischen
Polizei und dort gebetet. Für die Muslime war das ein Bruch des
Status Quo. Außerdem ist jüdischen Gruppen viel Publizität gegeben
worden, die sich darauf vorbereiten, den jüdischen Tempel neu
aufzubauen, nachdem die muslimische Moschee zerstört worden ist. Die
Priestergewänder und die in der Bibel beschriebenen Instrumente sind
von den Fanatikern schon vorbereitet und nicht jetzt von jüdischen
Siedlern vorbereitet worden.
In normalen Zeiten, an einem normalen Ort könnte dies friedlich
geregelt werden. Aber nicht auf dem Tempelberg und nicht jetzt mit
jüdischen Siedlern, die damit begonnen haben, sich in den arabischen
Dörfern rings um den Tempelberg gewaltsam anzusiedeln. Über die
besetzten Gebiete und unter den arabischen Bürgern Israels ging der
Schrei um: Die Heiligen Stätten sind in Gefahr. Die israelischen
Führer schrien zurück, dass dies alles ein Pack von Lügen sei.
Junge Palästinenser nahmen Messer und begannen, damit Israelis
anzugreifen, obwohl sie sehr wohl wussten, dass sie wahrscheinlich
auf der Stelle tot geschossen würden. Israelische Führer riefen
jüdische Bürger auf, immer Waffen zu tragen und zu schießen, sobald
sie sehen, dass ein Angriff stattfindet. Nun gibt es täglich mehrere
solcher Angriffe. Zusammen sind in diesem Monat acht Juden getötet
worden, zusammen mit 18 Verdächtigen und 20 anderen Palästinensern.
Dies ist der Hintergrund zu der Gewalttat in Beersheba.
ES GESCHAH im zentralen Busbahnhof der Wüstenhauptstadt, einer Stadt
mit 250 000 Juden, meistens mit orientalischem Hintergrund, umgeben
von zahlreichen Beduinenstädten- und --Lagern. Drei Personen waren
in den Vorfall verwickelt. Der erste war ein 19jähriger Soldat, Omri
Levi. Er stieg aus dem Bus aus und betrat das große Bahnhofsgebäude,
als er von einem Araber angegriffen wurde, der nach seiner Waffe
griff. Wir wissen sehr wenig über den Soldaten, nur dass er ein nett
ausseheder 19Jähriger war.
Die zweite Person war der Angreifer, der 21jährige Muhammad al-Okbi.
Überraschenderweise war er ein Beduine aus der Umgebung mit keiner
Sicherheitsrisiko-Vergangenheit. Überraschend deshalb, weil viele
Beduinen freiwillig zur israelischen Armee gehen oder in der Polizei
dienen und an der Beersheba-Universität studieren. Dies hindert die
israelische Regierung nicht am Versuch, das Land der Beduinenstämme
zu rauben und sie in übervölkerte kleine Städte umzusiedeln. Keiner
weiß, warum dieser Junge aus der Wüste beim Aufwachen an diesem Tag
entschied, ein Shahid zu werden und einen Amoklauf zu machen. Seine
Großfamilie scheint so perplex zu sein wie jeder andere auch. Es
scheint, dass er sehr religiös geworden war und auf die
Al-Aqsa-Vorfälle reagierte. Wie alle Beduinen im Negev war er
sicherlich auch über die Bemühungen der Regierung, sie zu enteignen,
wütend. Also schoss er auf die Passanten – entweder mit einer
Pistole in seinem Besitz oder mit der Waffe, die er dem Soldaten
weggenommen hat. Nach zehntausenden von Worten bin ich mir nicht
sicher.
ABER DIE Person, die die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog, war
nicht der Soldat noch der Angreifer, sondern das dritte Opfer. Sein
Name war Haftom Zarhiim, ein 29Jähriger Flüchtling aus Eritrea –
einer der etwa 50 000 Afrikaner, die illegal die Grenze in den Negev
überschritten haben. Er war völlig unschuldig. Er betrat nur
zufällig das Gebäude hinter dem Angreifer und einige Passanten
hielten ihn für einen Komplizen. Er sah nicht jüdisch aus. Er wurde
angeschossen und verletzt. Während er blutend und hilflos auf dem
Boden lag, umgab ihn der Mob und trat ihn von allen Seiten, manche
traten seinen Kopf. Im Krankenhaus kam er tot an. Die ganze Szene
wurde schadenfroh von einem Passanten mit seinem Smartphone
fotografiert und in allen TV-Nachrichten gezeigt.
Da gibt es keine andere Erklärung: es war ein reiner und simpler
Vorfall von bösartigem Rassismus. Eine barbarische Behandlung eines
verwundeten palästinensischen Angreifers durch einen aufgeregten Mob
kann noch irgendwie verstanden werden – nicht entschuldigt, nicht
geduldet aber mindestens verstanden werden. Wir haben einen
Konflikt, der schon länger als 130 Jahre dauert; auf beiden Seiten
mehrere Generationen, die zu gegenseitigem Hass erzogen wurden.
Und Asylsucher? Sie werden fast universal gehasst. Warum? Nur weil
sie Ausländer sind, keine Juden. Nicht einmal ihre Hautfarbe kann
hier eine volle Erklärung geben – nach dem wir jetzt eine ganze
Anzahl dunkelhäutiger äthiopischer Juden haben, die als „die
unsrigen“ akzeptiert werden.
Das grausame Lynchen des sterbenden Haftorn war vollkommen hässlich,
absolut abscheulich. Es könnte einen zur Verzweiflung über Israel
bringen - Hätte es nicht einen anonymen Passanten – mittleren Alters
gegeben - der zwei Tage später zu der Szene zurückkehrte und die
Geschichte im TV noch einmal erzählte und zugab, dass er seitdem
nicht schlafen könnte - und weinte.
(Aus dem Engl- Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
|