1967 – ein persönliches Zeugnis
Uri Avnery, Juni 2007
AM 25. MAI 1967, zwölf Tage vor dem Sechs-Tage-Krieg
veröffentlichte ich in Haolam Hazeh, in dem von mir
damals herausgegebenen Nachrichtenmagazin, einen
Artikel mit dem Titel „Nasser ist in eine Falle
geraten“. Das klang verrückt, weil in jener Zeit ganz
Israel vor Angst zitterte.
Ein paar Monate früher war ich zu einem Vortrag in einen
Kibbuz im Norden eingeladen. Nach dem Vortrag war ich
noch zu einer Tasse Kaffee mit ein paar Kibbuzniks
eingeladen. Dort sagte mir mein Gastgeber im Vertrauen,
dass der Chef des nördlichen Kommandos, General David
(„Dado“) Elazar erst vor einer Woche da gewesen sei. Im
selben Raum hatte er denselben vertrauenswürdigen
Mitgliedern verraten: „Jede Nacht bete ich vor dem
Schlafengehen, Nasser möge seine Truppen in der
Sinaiwüste konzentrieren. Dort werden wir sie
vernichten.“
Als Nasser Mitte Mai 1967 im Sinai seine Truppen im
Sinai konzentrierte, schien dies wie die Erhörung dieses
Gebetes. Während jeder um mich herum vor Angst zitterte,
blieb ich unbesorgt..
Diese Angst war real. Es wurde viel über einen zweiten
Holocaust geredet. Von Beginn der Krise an bis zum
Kriegsanfang – drei Wochen lang - wurde die Angst, von
der Israel gepackt worden war, von Tag zu Tag
schlimmer. Die „Stimme des Donners“, die Radiostation
Kairo, die in schlechtem Hebräisch Nachrichten
verbreitete und bis dahin nicht ernst genommen worden
war, äußerte nun grauenhafte Drohungen. Gamal
Abd-al-Nasser selbst - der sich in Wirklichkeit vor
einem israelischen Angriff zu Tode fürchtete und
überhaupt nicht daran dachte, anzugreifen. - glaubte,
mit der Drohung, Israel ins Meer zu werfen, er würde
uns von der Idee des Krieges abbringen. Sie hatte
natürlich die entgegengesetzte Wirkung.
DIE REIHE von Ereignissen, die den Krieg unvermeidbar
machten, ähneln in gewisser Hinsicht denen, die dem
1.Weltkrieg vorausgingen, dem Krieg, „den keiner
wollte“.
Syrien unterstützte den palästinensischen Guerillakrieg
Yasser Arafats an seiner Grenze. Israel reagierte mit
scharfen Drohungen. Der Generalstabschef Yitzhak Rabin
drohte öffentlich damit, Damaskus zu besetzen und das
Regime zu stürzen. Die Syrer bekamen Angst und baten
Ägypten um Beistand.
Kurz vor Beginn der Krise bat mich der sowjetische
Botschafter Chubakhin, ihn in seiner Botschaft in Ramat
Gan zu besuchen. Er erzählte mir, dass Israel einen
Angriff auf Syrien plante und schon seine Truppen an der
Grenze konzentrieren würde. Er sah dies als einen Teil
eines großen US-Planes an, überall in dieser Region
pro-amerikanische Regime aufzubauen, was mit dem
kürzlichen Staatsstreich der Offiziere in Griechenland
(im April 1967) und den amerikanischen Intrigen im Iran
begonnen hatte. Der Botschafter wollte, dass ich meine
Position als Mitglied der Knesset und als Herausgeber
eines bekannten Magazins nutzte, um die israelische
Öffentlichkeit zu warnen.
Ich fürchte, dass meine Antwort ziemlich zynisch war:
„Wenn Sie so etwas fürchten, warum bitten Sie nicht
Ihren Botschafter in Damaskus, dass Ihre syrischen
Freunde mit den Guerilla-Angriffen auf Israel
wenigstens eine Zeitlang aufhören. Warum unserer
Regierung einen Vorwand für einen Krieg geben?“
Chubakhins Antwort verblüffte mich: „Glauben Sie, dass
irgendjemand in Damaskus auf unsern Botschafter hört?“
Die Geschichte von Israels „Truppenmassierung an der
Grenze“ war natürlich lächerlich. Ein Sowjetgeneral mag
glauben, dass vor dem Start einer Offensive Truppen an
der Grenze massiert werden müssen. Aber in dem winzigen
Gebiet von Israel war das Konzentrieren von Militär
unmöglich und überflüssig.
Mit der syrischen Forderung um Unterstützung
konfrontiert, und den sowjetischen Geschichten vom
Massieren israelischer Truppen, sah Nasser eine
Gelegenheit, seine Führungsrolle in der arabischen Welt
zu behaupten. Er sandte sein Militär in den Sinai.
Wenn er wirklich beabsichtigt hätte, einen Krieg zu
beginnen, dann hätte er dies so geheim wie möglich
gemacht. Aber seine Truppen fuhren am hellerlichtem
Tage durch Kairo – dies ist ein Beweis dafür, dass er
nur eine Show abziehen wollte.
Zufällig traf ich Ezer Weizman, der bis vor kurzem der
Kommandeur der israelischen Luftwaffe war, bei einer
Party. Er sagte mir, er wäre erstaunt gewesen. Der
israelische Militärnachrichtendienst wäre vom
ägyptischen Truppenaufmarsch im Sinai vollkommen
überrascht gewesen. Sie waren davon überzeugt gewesen,
dass die ganze ägyptische Armee im entfernten Yemen
stationiert wäre, wo Nasser in einem Bürgerkrieg
intervenierte. Tatsächlich hatte die Fähigkeit der
ägyptischen Luftwaffe, ihre Truppen dort zu versorgen,
neidvolle Bewunderung bei Weizmann erregt.
Am 23. Mai verkündete Nasser (irreführend), er habe den
Seeweg nach Eilat mit Minen gesperrt. Das war für
Israel ein Casus belli. Eilat ist Israels Tor nach
Osten. Die freie Durchfahrt hat eine enorm emotionale
Bedeutung weit über ihren tatsachlichen Wert hinaus. Ich
erinnere mich, als ich damals von einer Knessetsitzung
kam und meinen Kollegen der Neuen- Kraft-Partei-Führung
sagte: „Der Krieg ist unvermeidlich,“ und noch
hinzufügte: „Dieser Krieg wird alles verändern.“
Um seine Schritte zu dramatisieren, bat Nasser den
UN-Generalsekretär U-Thant, die UN-Truppen
zurückzuziehen – aber nur von einem bestimmten
Abschnitt. (Diese Truppen waren seit dem Sinaikrieg 1956
dort an der Grenze stationiert).
U Thant, der die Situation völlig missdeutete zog
alle seine Truppen zurück. Nun mit der Möglichkeit
eines Präventivschlages konfrontiert und seiner eigenen
Propaganda glaubend, Israel sei nur eine Marionette der
USA, sandte Nasser seinen Botschafter in die USA, um sie
dafür zu gewinnen, Israel zu stoppen. Die Israelis sahen
in der Zwischenzeit die Bedrohung und glaubten, dass sie
jeden Moment angegriffen werden könnten.
Ich kann etwas von der Stimmung bis in die höchsten
Kreise bezeugen. Ein paar Tage vor dem Krieg zog mich
Menachem Begin in der Knesset zur Seite. „Uri,“ sagte
er sehr erregt, „wir haben zwar verschiedene Meinungen,
aber in einer existentiellen Krise haben wir doch
dasselbe Ziel: Israel zu retten. Sie und Ihr Magazin
haben großen Einfluss auf die jungen Leute. Bitte,
benützen Sie es, um ihre Moral zu stärken!“
In meiner letzten Rede vor der Knesset vor dem Krieg
sagte ich: „ Genau in solch einer Stunde - kurz vor dem
Ausbruch eines Krieges - könnte ein großer israelischer
Staatsmann die revolutionäre Initiative ergreifen und
einen direkten Dialog beginnen – vielleicht geheim,
vielleicht auch öffentlich und dramatisch, der zu einem
grundlegenden Wechsel unserer Position in diesem Raum
führen könnte.“
ZU DER allgemeinen Verzweifelung kam noch die
Persönlichkeit Levy Eshkol, David Ben-Gurions Nachfolger
als Ministerpräsident und Verteidigungsminister. Er
schien - zu Unrecht – ein stümperhafter,
unentschlossener und inkompetenter Führer zu sein. Bei
einer wichtigen Rede im Radio stolperte er über ein
Wort, das im letzten Augenblick von einem seiner Berater
eingesetzt worden war – er schien zu stottern.
Im Laufe dieser „Tage der Angst“, wie sie seitdem
genannt wurden, stand Eshkol unter großem Druck.
Prominente Generäle (unter ihnen auch Matti Peled, der
später mein Freund im Friedenslager wurde,) gingen zu
Eshkol, überreichten ihm so etwas wie ein Ultimatum und
forderten einen sofortigen Angriff. Mit fast der ganzen
männlichen Bevölkerung mobilisiert und an der Grenze
wartend, war das normale Leben tatsächlich zu einem
Stillstand gekommen. Das ganze Land hielt den Atem an.
ICH ERHIELT fast täglich Berichte darüber, was im
Kabinett vor sich ging. Meine Quelle war Yigal Allon.
Allon, der frühere Kommandeur der Palmach
(Haganah-Schocktruppen) und der Kommandeur der südlichen
Front von 1948, war jetzt Arbeitsminister. Wir waren
nach dem Krieg 1948 Freunde geworden. Als 1967 die
Krise begann, entschied ich mich, eine temporäre
Tageszeitung zu veröffentlichen, die „Daf“ (Seite)
genannt wurde. Doch war keine Druckerei bereit und in
der Lage, sie zu drucken, außer einer, die zu Allons
Kibbuzbewegung gehörte.
Während der Krisis traf ich mich fast täglich mit Allon,
um darüber zu verhandeln. Bei diesen Gelegenheiten
schüttete er mir sein Herz aus. Seine zweitrangige
Position in der Regierung war für den Helden der
Soldaten von 1948 frustrierend. Er hoffte, ins
Verteidigungsministerium zu kommen – die schlimmer
werdende Krisis brachte die Gelegenheit.
Täglich wuchs fast wahrnehmbar die Forderung, Eshkol
möge sein Amt als Ministerpräsident abgeben oder
wenigstens das Ministerium für Verteidigung aufgeben.
Anfangs wurden etliche Namen als Kandidaten für das Amt
des Verteidigungsministers erwähnt. Allon war auf der
Liste ziemlich weit oben. Andere zuverlässige Kandidaten
waren der alte Ben Gurion, der 1948 agierende
Generalstabschef General Yigal Yadin, der frühere
Stellvertreter des Verteidigungsministers Shimon Peres
und Moshe Dayan.
Allon war zuversichtlich, dass er das Amt erhalten
würde, da er schon ein Mitglied der Regierung war und
ein erfolgreicher General im Krieg. Von Tag zu Tag
strahlte er mehr. In der israelischen Öffentlichkeit
wurde die Liste immer kleiner, bis sich am Ende die
Forderung auf Moshe Dayan konzentrierte. Eine Gruppe
Frauen ( die sofort den Spitznamen „die lustigen Weiber
von Windsor“ erhielten.) demonstrierten für ihn vor dem
Hauptbüro der Laborpartei .
Ende Mai, als ich Allon das nächste Mal sah, war er wie
geschlagen. Er hatte gerade gehört, dass Eshkol
nachgegeben und Dayan ernannt hatte. Allon verachtete
den berühmten General. Wie die meisten der Kommandeure
von 1948 betrachteten sie Dayan als schlechten
Soldaten, unfähig, eine ordentliche Stabsarbeit zu
leisten und durch und durch unverantwortlich.
(Tatsächlich hörte ich einmal, wie Dayan sich seiner
„Verantwortungslosigkeit“ rühmte.)
Dayan hatte wenig Einfluss auf den Kriegsplan, aber er
hatte einen großen Einfluss auf die Moral der Soldaten –
charismatisch und mit einem Ruf als waghalsiger,
aggressiver Kommandeur, eine Art israelischer Rommel.
Die mobilisierten Reservetruppen, die nur warteten und
weiter warteten, begrüßten seine Ernennung mit
Begeisterung. Sie begriffen, dass das lange Warten fast
zu Ende war.
ALS UNSERE Armee angriff, war es, als ob eine zu sehr
angespannte Sprungfeder losgelassen worden war.
Am ersten Kriegstag nach einer parlamentarischen
Notsitzung war ich im Luftschutzbunker der Knesset,
während die jordanische Artillerie aus Ost-Jerusalem uns
bombardierte, als mir ein Freund ins Ohr flüsterte: „Wir
haben den Krieg schon gewonnen. Die Luftwaffe hat die
ägyptischen Flugzeuge auf dem Boden zerstört.“
Diese Information wurde der Öffentlichkeit noch
vorenthalten. Alle Berichte über unsere unglaublichen
Siege wurden vom Zensor zurückgehalten, weil die
Regierung fürchtete, wenn dies bekannt würde, dann würde
die UN eine Feuerpause verhängen, die die Armee jetzt
nicht wollte. Also waren die Menschen der absurden
Übertreibung der „Stimme des Donners“ aus Kairo
ausgeliefert, nach der Tel Aviv brannte.
Viele der Gebiete wurden fast zufällig erobert. Es gab
einen militärischen Plan für die Zerstörung der
ägyptischen Truppen im Süden, aber es gab keine Pläne
für einen umfassenden Krieg. Dayan war nicht nur gegen
die Besetzung des Gazastreifens, sondern auch
Ost-Jerusalems. Die Westbank wurde bei einer
improvisierten Operation erobert, nachdem König Hussein
unerwarteterweise das Feuer eröffnen ließ, um seine
Solidarität mit Ägypten zu bekunden. Anfangs war Dayan
sogar gegen eine Operation gegen Syrien – aus Angst, die
Sowjetunion könnte eingreifen. Deshalb gab es auch
keinen Plan für die Zukunft der großen Bevölkerung in
den besetzten Gebieten.
AM FÜNFTEN Tag des Krieges, kurz nachdem unsere Armee
die Westbank und den Gazastreifen erobert hatte, schrieb
ich einen offenen Brief an Levy Eshkol und schlug ihm
vor, die historische Gelegenheit zu ergreifen und dem
palästinensischen Volk die Chance einzuräumen, einen
eigenen Staat zu errichten. Ich hatte diesen Gedanken
seit 1949 vertreten, aber ich war überzeugt, dass dieser
Augenblick, in dem die ganze Region sich in einem
Schockzustand befand, der richtige Zeitpunkt war, um mit
den Palästinensern Frieden zu schließen, indem man ihnen
ein historisches Angebot macht.
Direkt nach dem Krieg lud mich Eshkol zu einem privaten
Gespräch ein. Er hörte mir geduldig zu, während ich ihm
meine Idee erklärte. „Uri, was für eine Art
Geschäftsmann bist Du?“ sagte er mit mildem Lächeln,
„Bei Verhandlungen beginnt man, indem man ein Minimum
anbietet und das Maximum fordert. Nach und nach kommt
man mit dem anderen zu einem Kompromiss, der sich
irgendwo in der Mitte befindet. Was Du vorschlägst, ist
alles anzubieten, noch bevor die Verhandlungen überhaupt
begonnen haben.“
„Das stimmt, wenn man ein Pferd verkauft,“ antwortete
ich, „Aber nicht, wenn man einen historischen Frieden
erreichen will.“
Ganz im Gegensatz zu dem Eindruck, den er erweckte, war
Eshkol in Wirklichkeit ein zäher Bursche. Er verbarg
dies hinter einem freundlichen Wesen, einem jiddischen
Sinn für Humor und einer Ausdrucksweise, die die
Stenographen der Knesset zur Verzweiflung brachte. Er
hat sein ganzes Leben für den Bau von Siedlungen
eingesetzt, und nun konnte er eine große Ausdehnung des
Landes sehen, die für neue Siedlungen verwendet werden
könnten.
In den folgenden Monaten und Jahren hielt ich Dutzende
von Reden in der Knesset (abgesehen von den Artikeln in
der Wochenzeitschrift Haolam Hazeh) und setzte mich für
die Idee eines palästinensischen Staates in den neu
besetzten Gebieten ein. In einer meiner Reden berichtete
ich, ich hätte mit allen prominenten Führern in der
Westbank und im Gazastreifen gesprochen, einschließlich
denen, die als „Anhänger Jordaniens“ bekannt waren. Sie
vertrauten mir alle an, dass sie einen eigenen
palästinensischen Staat der jordanischen Herrschaft
vorziehen würden. Sowohl Eshkol als auch Dayan
verleugneten das. Aber Eshkol sandte mir seinen Berater
für die besetzten Gebiete, Moshe Sassoon, der mich
privat über meine Informationen ausfragte. Am 13. August
1969 schrieb Sassoon einen Bericht an den
Ministerpräsidenten (mit einer Kopie an mich), in dem er
bestätigte, dass seine eigenen Informationen mit denen
von mir übereinstimmten.
Zu meinem Erstaunen fand ich, dass ich in den oberen
Rängen der Armee eine ganze Anzahl von Unterstützern
hatte.
Generäle – so wird gesagt – bereiten sich immer auf den
letzten Krieg vor. Sie sehen auch den letzten Frieden.
1956 hatten Präsident Eisenhower und die Führer der
Sowjetunion Ben Gurion gezwungen, alle im Sinai-Krieg
eroberten Gebiete an Ägypten zurückzugeben. Nun
erwartete man, dass dasselbe wieder geschehen würde. Mit
dieser Möglichkeit konfrontiert, zogen viele Generäle
den Gedanken eines demilitarisierten Palästinas neben
Israel der Aussicht, dass die Gebiete Jordanien
zurückgegeben werden, vor. Sonst würde ein viel größerer
Staat entstehen, der dazu dienen könnte, die Armeen
Jordaniens, Syriens, des Irak und Saudi Arabien als
Aufmarschgelände zu dienen. Bei öffentlichen
Meinungsumfragen erreichte der Gedanke eines
palästinensischen Staates neben Israel erstaunliche
37%.
Diese Phase verging sehr schnell. Die USA, die am
Vorabend des Krieges unsere Regierung im Geheimen
informiert hatten, dass sie nicht gegen einen Angriff
unsrerseits wären, taten nun nichts, Israel zu zwingen,
alles zurück zu geben. Nach und nach wurde der
israelischen Führung bewusst, dass es keinen
internationalen Druck gibt, etwas zurückzugeben. Dazu
kamen die „drei Neins“, die im September 1967 beim
Gipfel der gedemütigten arabischen Führer in Khartum
(„Kein Frieden, keine Anerkennung und keine
Verhandlungen“) angenommen wurden – sie spielten in die
Hände israelischer Annexionisten.
Gruppen aus der Kibbuzbewegung schwärmten schon in die
Westbank und sahen nach geeigneten Örtlichkeiten. Man
fand sie im Jordantal – flach, für Traktoren geeignet
und vom Fluss her zu bewässern. Unmittelbar nach dem
Krieg wurde eine große Anzahl von Flüchtlingen von 1948
aus dem riesigen Flüchtlingslager bei Jericho, nahe dem
Jordan, vertrieben. Das Siedlungsunternehmen, das die
Landkarte vollkommen veränderte, war auf dem Weg.
FAST AUTOMATISCH wurden Aktionen ethnischer Säuberung
ausgeführt. Es wurde niemals in Erfahrung gebracht, wer
die Befehle gegeben hat. Sie wurden mündlich
weitergegeben. Über allen schwebte der Geist Moshe
Dayans.
Direkt nach den Kämpfen kam der Schriftsteller Amos
Kenan zu mir. Er befand sich in einem Schockzustand und
erzählte mir, dass er gerade Zeuge geworden war, wie
Tausende von Bewohnern der drei Dörfer im Raum Latrun
vertrieben worden waren. Ich bat ihn, sich hinzusetzen
und einen Bericht über das zu schreiben, was er
gesehen hatte. Es war ein erschreckendes Dokument. Ich
fuhr gleich danach zum Dorf Imwas (vielleicht der
biblische Ort Emmaus) und sah, wie Bulldozer ein Haus
nach dem anderen einebneten. Als ich versuchte, Photos
zu machen, trieben mich die Soldaten weg.
Von dort eilte ich zur Knesset und verteilte an mehrere
Minister Kopien des Berichtes - auch an Begin und die
Mapan-Minister und die Assistenten des
Ministerpräsidenten. Es half nichts. Die Arbeit wurde
abgeschlossen, bevor jemand intervenieren konnte. Heute
steht in dieser Gegend der Kanadapark.
In jener Zeit glaubte noch jeder, Israel würde gezwungen
werden, die eroberten Gebiete zurückzugeben. Die Dörfer
bei Latrun lagen in einer Art Ausbuchtung der Grünen
Linie und beherrschten die Hauptstraße zwischen Tel
Aviv und Jerusalem. Aus diesem Grund hatte jemand
entschieden, eine vollendete Tatsache zu schaffen, die
den Druck nehmen würde, dieses Gebiet zurückzugeben .
Fast zur gleichen Zeit wurde mir berichtet, dass die
Armee damit begonnen hat, die Stadt Kalkilia zu
zerstören. Aus der Nähe dieser Stadt hatte jordanische
Artillerie versucht, Tel Aviv zu beschießen – es liegt
nur etwa 25km entfernt. Ich eilte dorthin und sah wie
ein Stadtteil schon fast vollkommen zerstört worden war.
Wieder ging ich zur Knesset, um den Ministerpräsidenten
und die andern Minister dahin zu bringen, zu
intervenieren. Tatsächlich wurde die Zerstörung gestoppt
und die schon zerstörten Häuser wieder aufgebaut. Ich
weiß nicht, welch genaue Rolle meine Intervention hier
gespielt hat. Aber seitdem habe ich jedes Mal, wenn ich
den Ort passiere, ein Gefühl der Befriedigung. (Auch
wenn Kalkilia jetzt durch die monströse Mauer
abgeschnitten ist).
Bald danach kam ein Soldat - einem Nervenzusammenbruch
nahe - in mein Büro. Er erzählte mir, dass jede Nacht
Flüchtlinge versuchen würden, den Jordan zu überqueren,
um nach Hause zurückzukehren. Es war befohlen worden,
jeden auf der Stelle zu töten, auch Frauen und Kinder.
Ich schrieb einen langen Brief an den Generalstabschef
Yitzhak Rabin und erhielt eine Antwort von seinem
Bürochef Shmuel Gal, der vom 29. Oktober 1967 datiert
ist. Darin steht, dass die Armee diese Sache untersuchen
würde und „daraus die Schlussfolgerung ziehen würde, die
daraus gezogen werden müsse“. So viel ich weiß, haben
die systematischen Massaker daraufhin aufgehört.
(Vor ein paar Tagen traf ich diesen Soldaten wieder. Er
spielte auf der Straße Flöte.)
AM ERSTEN Tag des Kampfes war es ein
Verteidigungskrieg. Dayan erklärte, dass wir nicht die
Absicht hatten, Land zu erobern. Fast alle Israelis
dachten auch so. Ein Tag, nachdem der Kampf vorüber war,
war er zu einem Krieg der Expansion und der Annektierung
geworden. Die Öffentlichkeit war vollkommen berauscht
von der biblischen Landschaft, der Flut von
„Siegesalben“, den neuen patriotischen Liedern und den
messianischen Slogans. Die Eshkol-Regierung hatte zwar
zunächst offiziell beschlossen, über die Rückgabe der
Gebiete zu verhandeln, vergaß das aber, als ihr klar
wurde, dass dies nicht nötig sei.
In einem Artikel bald danach erzählte ich eine
Geschichte, wie man Affen fängt. Man befestigt eine
Flasche am Ast eines Baumes und legt eine Frucht hinein.
Der Affe wird seine Hand in die Flasche strecken, die
Frucht nehmen und nun die Hand wieder rausziehen wollen
– doch seine Faust mit der Frucht ist zu dick. Auf diese
Weise ist er gefangen. Er könnte natürlich jeden
Augenblick frei kommen, wenn er die Frucht los lassen
würde. Aber da er gierig nach der Frucht ist, ist er
nicht in der Lage, dies zu tun. Solange wir gierig an
den besetzten Gebieten festhalten, sind wir in der
selben Weise Geiseln unserer Gier.
Nach dem Krieg sah Professor Yeshayahu (Jesaja)
Leibowitz, ein orthodoxer Jude, voraus, dass die
Besatzung uns korrupt machen und uns in ein Volk von
„Geheimdienstagenten und Manager für ausländische
Arbeiter machen wird“. (Ich nannte ihn „Prophet Jesaja
III., was ihn wütend machte. Er sagte, dass ein Prophet
die Worte Gottes ausspricht, während er nur die Sprache
der Logik sprechen würde.
IN DER RÜCKSCHAU sieht es so aus, als wäre das ganze
Szenarium das Werk eines genialen Direktors – die Angst,
das Crescendo der Furcht, der wunderbare Sieg. Dies
trägt zur Erklärung dessen bei, was später geschehen
ist.
In der Legende von Faust zahlt Mephisto für die Seele
des gelehrten Doktors mit jeder vorstellbaren Art von
Vergnügen. So etwas Ähnliches ist uns im Juni 1967
geschehen. Die Reihe von Geschehnissen, die schienen,
als ob sie von einem höheren Wesen dirigiert worden
waren, sahen aus wie Versuchungen, die uns absichtlich
vor die Füße gelegt worden waren, um uns zu testen. Was
wie eine Gabe Gottes aussah, war tatsächlich eine
Versuchung des Satans, ein Versuch, unsere Seele zu
kaufen.
War es ihm gelungen? Hat Israel seine Seele verloren?
Ich hoffe nicht. Ich hoffe, dass der Rausch nun endlich
von uns weicht. Viele Dinge, die in der vergangenen
Woche gesagt und geschrieben wurden, weisen darauf hin.
Vierzig Jahre nach dem Geschehen ist die Frage aber
noch immer offen.
(Teile davon wurden im amerikanisch-jüdischen Magazin
Tikkun veröffentlicht)
(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)