TRANSLATE
Wehe dem Sieger!
Uri Avnery, 2.Februar 2013
„VAE VICTIS!“ sagten die Römer – Wehe dem Besiegten.
Ich würde das Sprichwort leicht verändern: Wehe dem
Sieger – „Vae Victori!“
Das bemerkenswerte Beispiel ist der erstaunliche
Sieg, den Israel im Juni 1967 gewann. Nach Wochen eines sich
nähernden Verhängnisses besiegte die israelische Armee in sechs
Tagen drei arabische Armeen und eroberte große Teile Ägyptens,
Syriens und die palästinensischen Gebiete.
Wie sich (später ) herausstellte, war dies das größte
Unglück in unserer Geschichte. Berauscht von der Größe des Sieges,
begann Israel auf einer Straße politischen Größenwahns weiter zu
gehen, was zu den verheerenden Konsequenzen führte, von denen wir
uns bis zum heutigen Tage nicht selbst befreien konnten. Die
Geschichte ist voll solcher Beispiele.
Nun sind wir Zeugen des völlig unerwarteten großen
Wahlerfolgs von Yair Lapid geworden. Es könnte sich herausstellen,
dass es dieselbe Geschichte en miniature ist.
LAPID GEWANN 19 Sitze. Seine Fraktion ist die
zweitgrößte in der Knesset mit 120 Sitzen, nach Likud-Beitenu, die
31 Sitze hat. Die Zusammensetzung des Parlamentes ist so, dass es
für Binjamin Netanjahu fast unmöglich ist, eine Koalition ohne ihn
zu bilden.
Der frühere Fernsehstar befindet sich in der
Situation eines Kindes in einem Süßwarenladen, das sich nehmen kann,
was immer es sich wünscht. Er kann sich jeden Regierungsposten
auswählen, der ihm und seinen Untergebenen gefällt. Er kann dem
Ministerpräsidenten fast jede Politik aufzwingen.
Genau hier beginnen seine Probleme.
Setzen Sie sich an seine Stelle und erfahre, was
dies bedeuten muss..
ALS ERSTES: welchen Job sollten Sie wählen?
Als hochrangiger Partner der Koalition hat man das
Recht, eines der drei wichtigsten Ministerien auszusuchen: das
Verteidigungsministerium, das Außenministerium und das
Finanzministerium.
Das scheint einfach zu sein? Doch denken Sie noch
einmal darüber nach.
Man kann das Verteidigungsministerium übernehmen.
Aber wenn Sie keinerlei Verteidigungserfahrungen haben, wenn sie
nicht einmal in einer Kampfeinheit gedient haben, da der Vater
Ihnen einen Job bei der wöchentlichen Armeezeitung verschafft hat
(übrigens eine miese Zeitung.)
Als Verteidigungsminister würden Sie praktisch der
Vorgesetzte des Stabschefs sein, fast ein Oberbefehlshaber. (Nach
israelischem Gesetz ist die ganze Regierung Oberbefehlshaber des
Stabschefs, aber der Verteidigungsminister vertritt die Regierung
gegenüber den bewaffneten Militärs).
Also das Amt des Verteidigungsministers kommt nicht
in Frage.
SIE KÖNNEN das Außenministerium übernehmen. Das wäre
wirklich der ideale Job.
Da Sie ja das nächste Mal den Posten des
Ministerpräsidenten übernehmen wollen, brauchen Sie Öffentlichkeit
und der Außenminister bekommt viel Publicity. Sie werden auf Fotos
neben Präsident Obama, Angela Merkel, Vladimir Putin erscheinen und
ein Gast bei andern weltberühmten Persönlichkeiten sein. Die
Öffentlichkeit wird sich daran gewöhnen, Sie in diesen angesehenen
internationalen Kreisen zu sehen. Ihr telegen gutes Aussehen
wird diesen Vorteil erhöhen. Die Israelis werden stolz auf Sie
sein.
Außerdem ist dies der einzige Job, bei dem Sie nicht
versagen können. Da die Außenpolitik heutzutage vom
Ministerpräsidenten bestimmt und weithin durchgeführt wird, kann der
Außenminister für nichts angeklagt werden, wenn er nicht ein
vollkommener Dummkopf ist – und das sind Sie ja nicht.
Nach vier Jahren wird jeder davon überzeugt sein,
dass Sie das Zeug zum Ministerpräsidenten haben.
Noch besser: Sie könnten die unmittelbare Eröffnung
der Friedensverhandlungen mit den Palästinensern diktieren.
Netanjahu ist nicht in der Position, dies zu verweigern, besonders
da Barack Obama dasselbe fordern wird. Die Eröffnungszeremonie der
Verhandlungen wird ein riesiger Triumpf für Sie sein. Ein aktueller
Fortschritt wird weder verlangt noch erwartet.
ALSO, WARUM diesen Posten nicht annehmen?
Weil Sie ein großes Warnlicht sehen.
Die 543,289 Bürger, die für Sie stimmten, stimmten
nicht für Sie als Außenminister. Sie stimmten dafür, dass die
Orthodoxen in der Armee dienen, dass Wohnungsptrise
erschwinglicher werden, dass Lebensmittelpreise runtergehen und
für niedrigere Steuern der Mittelklasse. Die ausländischen
Beziehungen sind ihnen völlig Wurscht, auch die Besatzung, der
Frieden und ähnliche Nebensachen.
Wenn Sie sich dieser innerpolitischen Probleme nicht
annehmen und ins Außenministerium gehen, wird es einen großen
Aufschrei geben: Verräter! Deserteur! Betrüger!
Die Hälfte Ihrer Anhänger wird Sie sofort verlassen.
Für sie wird Ihr Name unten durch sein.
Außerdem, um einer Friedensagenda zu folgen - und
wenn es nur formell ist - müssen Sie die Idee verwerfen, Naftali
Bennetts ultra-rechte Partei in die Koalition aufzunehmen und
stattdessen die orthodoxen Parteien vorziehen. Falls es so ist, wie
zwingt man die Orthodoxen, in der Armee Dienst zu tun, das wäre so,
als ob man sie dahin bringen würde, Schweinefleisch zu essen?
DIE LOGISCHE Schlussfolgerung: Sie müssen das
Finanzministerium wählen.
Gott bewahre!!!
Ich würde nicht dem schlimmsten meiner Feinde dieses
Schicksal wünschen – und ich fühle keine Feindschaft gegenüber dem
Sohn von Tommy Lapid.
Der nächste Finanzminister wird gezwungen sein, genau
das Gegenteil von Lapids Wahlversprechen zu tun.
Seine erste Aufgabe würde sein, den schon längst
überfälligen Staatshaushalt für 2013 zu verabschieden. Nach
offiziellen Zahlen gibt es ein Minus von 39 Milliarden Shekel, was
etwa 8 Milliarden Euro entspricht. Woher sollen die kommen?
Es gibt nur wenige realistische Alternativen, und
alle sind schmerzlich. Es muss höhere Steuern geben, besonders für
die Mittelklasse und die Armen. Lapid, ein Neoliberaler wie
Netanjhu, wird von den Reichen keine Steuern verlangen.
Dann wird es drastische Kürzungen bei den
Regierungsdiensten geben, wie bei Bildung, Gesundheit und dem
Wohlfahrtsstaat. Im Augenblick arbeiten viele Krankenhäuser mit
einer Kapazität von 140% und gefährden das Leben der Patienten.
Viele Schulen gehen vor die Hunde. Niedrigere Renten werden den
Alten, den Behinderten und Arbeitslosen ein erbärmliches Leben
bescheren. Jeder wird den Finanzminister verfluchen. Würden Sie so
Ihre politische Karriere beginnen wollen?
Da ist natürlich noch das riesige Militärbudget,
aber wagen Sie dies anzugreifen? Wenn die iranische Nuklearbombe
(wenigstens in unserer Phantasie) über unsern Köpfen lauert? Wenn
Netanjahu nur seinen neeuesten Schreck verkündet – die syrischen
Chemiewaffen, die in die Hände der radikalen Islamisten fallen
könnten?
Man kann natürlich die Pensionen der Armeeoffiziere
kürzen, die im Alter von 45 in Pension gehen – wie es in Israel
üblich ist. Wer wagt dies?
Man könnte die immensen Summen, die in die Siedlungen
investiert werden, drastisch zusammenstreichen. Wären Sie so ein
Held ?
Als ob dies noch nicht genug wäre, so ist der hohe
Rang der Wirtschaftsfachleute in Auflösung begriffen. Der hoch
geachtete Direktor der Bank Israel, Stanley Fischer, der aus den US
importiert wurde, hat gerade mitten im Semester abgedankt. Die
höchsten Beamten in der Budget-Abteilung haben sich gerade in der
Wolle und klagen einander an.
Sie wären sehr tapfer oder sehr töricht (oder
beides), wenn Sie den Posten annehmen würden .
SIE KÖNNTEN natürlich mit etwas weniger Erhabenen
zufrieden sein.
Zum Beispiel: Bildung, das Erziehungsministerium
wird als eine Ministeriumstelle 2. Klasse angesehen. Aber es hat
viele tausend Angestellte und das zweitgrößte Budget, nach dem
Verteidigungsministerium. Aber es hat einen großen Nachteil. Jeder
Erfolg würde sich erst nach Jahren zeigen.
Der abgehende Minister Gideon Sa’ar, ein
Likud-Mitglied (und ein früherer Angestellter von mir) hat ein
Talent, die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Wenigstens einmal pro Woche hatte er ein neues Projekt, das viel
Publicity im Fernsehen anzog. Aber ernste Errungenschaften waren
selten.
Aus den Erfahrungen meiner Frau als frühere Lehrerin
weiß ich, dass die häufigen vom Ministerium befohlenen „Reformen“
kaum jemals die Klassenräume erreichten. Um etwas Wirkliches zu
erreichen, würde man enorme neue Summen Geldes benötigen und woher
würden Sie sie bekommen?
Und würde Ihr Ego nach so einem Wahltriumph mit
einem zweitklassigen Ministerium zufrieden sein? Sie könnten
natürlich das Ministerium vergrößern und verlangen, dass Kultur und
Sport zurückkommen, die abgetrennt wurden, um einen Job für einen
anderen Minister zu schaffen. Da eines Ihrer grundsätzlichen
Wahlversprechen war, die Zahl der Minister von 30 auf 18 zu
reduzieren, könnte dies möglich sein.
Aber werden Ihre Wähler zufrieden sein wenn Sie sich
auf Bildung konzentrieren, statt für wirtschaftliche Reformen zu
arbeiten, wie Sie versprochen haben?
ALL DIESE wenig beneidenswerten Dilemmata laufen auf
ein wesentliches hinaus: wen ziehen Sie als Hauptkoalitionspartner
vor.
Die erste Wahl ist zwischen Bennetts 12 Sitzen und
den 11 von Shas (falls sie sich mit der Torah-Judentum-Fraktion
verbinden, würden dies 18 Sitze werden).
Lapid bevorzugt Bennett, sein sehr ,sehr rechtes
Spiegelbild, mit dem er hofft, sein „Gleichheits-Programm“ im
Militärdienst durchzusetzen – und die Streichung der Befreiung von
Tausenden Torah-Studenten vom Militärdienst. Aber Sarah Netanjahu,
die das Büro des Ministerpräsidenten beherrscht, hat ein Veto auf
Bennett gelegt. Keiner weiß warum, aber sie kann ihn auf den Tod
nicht ausstehen.
Mit Bennett als Koalitionsmitglied wird jeder reale
Schritt in Richtung Frieden natürlich undenkbar.
Mit den Religiösen andrerseits würde eine Bewegung
in Richtung Frieden möglich sein, aber kein wirklicher Fortschritt
dahin, dass die Orthodoxen in der Armee dienen. Die Rabbiner
fürchten, falls sie mit gewöhnlichen Israelis zusammenkommen,
besonders mit Soldatinnen, dann würden ihre Seelen auf immer
verloren sein.
(Was mich betrifft, so wäre ich bereit, mich einer
Bewegung gegen Gleichheit beim Militärdienst anzuschließen. Es wär
das letzte, was wir brauchen: eine Kippa-tragende Armee. Wir haben
dort schon genug Kippas .)
DIES SIND einige der Fragen, denen sich der arme
Lapid auf Grund seines Wahlerfolges gegenüber sieht. Seine Wähler
erwarten das Unmögliche.
Er muss seine Entscheidungen sofort treffen, und
seine ganze Zukunft hängt davon ab, ob er die richtigen trifft –
falls es eine richtige gibt.
George Bernard Shaw drückte es so aus: „Es gibt zwei
Tragödien im Leben. Die eine ist, seine Herzenswünsche nicht
erfüllt zu bekommen – die andere, sie erfüllt zu bekommen.“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)
|