Der Messias ist nicht gekommen
Uri Avnery, 21. März
2015
DER
MESSIAS ist nicht gekommen, und Bibi ist nicht gegangen.
Das ist das traurige Ergebnis.
Traurig, aber nicht das Ende der Welt.
Wie eine amerikanische Redewendung es ausdrückt: „Heute ist der
erste Tag vom Rest unseres Lebens.“
Ich würde sagen: „Heute ist der erste Tag der Schlacht für die
nächsten Wahlen.“
Die Schlacht für die Rettung Israels muss genau jetzt beginnen.
EINIGE LEUTE sagen, dass jetzt die beste Möglichkeit für eine
sogenannte Nationale Einheitsregierung sei.
Das sieht wie eine
nette Idee aus. Einheit klingt immer gut.
Ich kann ein paar
triftige Argumente dafür geben. Die Kombination der beiden großen
Parteien schaffen einen Block mit 54 (von 120) Sitzen. Solch eine
Koalition benötigt nur eine andere Partei, um eine Mehrheit zu
bilden. Da gibt es mehrere Möglichkeiten, angeführt von Moshe
Kachlons 10 Sitzen.
Die Befürworter
dieser Wahl haben ein gutes Argument: es ist das kleinere Übel. Die
einzige andere Möglichkeit ist, eine extreme Regierung der
Religiösen und Extremisten vom rechten Flügel, die nicht nur jeden
Schritt in Richtung Frieden verhindert, sondern auch die Siedlungen
erweitert, mehr Gesetze erlässt, die die Demokratie abwürgen, und
reaktionäre religiöse Gesetze einführen wird.
Es ist ein gutes
Argument, aber es sollte sofort zurückgewiesen werden.
Die Einheitsregierung
würde von der Rechten beherrscht werden. Bestenfalls würde sie eine
Regierung von totaler Unbeweglichkeit sein. Sie würde unfähig und
unwillig sein, selbst die geringste Bewegung zu tun, um den
historischen Konflikt und die Besatzung zu beenden und Palästina
anzuerkennen. Die Siedlungen würden sich in rasender Geschwindigkeit
ausdehnen. Die Chancen für einen eventuellen Frieden würden weit in
die Zukunft geschoben werden.
Sie würde eine Menge
Leid verursachen. Die Labor-Partei würde verpflichtet sein, diesen
verheerenden Kurs zu rechtfertigen und zu verbrämen, die
Obama-Regierung und progressiv jüdische Kräfte in aller Welt
entwaffnen. Sie würde ein ungeheuer großes Feigenblatt für Unheil
sein.
Sie würde Israel auch
ohne eine effektive Opposition lassen. Wenn die Regierungs-Koalition
irgendwann auseinanderbricht, würde die Labor-Partei besudelt sein,
um eine glaubwürdige Alternative zu bilden. Der anfängliche Erfolg
von Itzhak Herzog, die alte Partei aus ihrem Komazustand
herauszuholen, kann kein zweites Mal wiederholt werden. Labor würde
eine erschöpfte Kraft sein, würde nur noch dahin vegetieren.
Glücklicherweise
starb für die Laborpartei diese Möglichkeit fast sofort nach den
Wahlen. Netanjahu erschlug sie mit einem Streich.
ÜBRIGENS ein
seltsamer Nebeneffekt einer Nationalen Einheitsregierung würde sein,
dass der Führer der (arabischen) Gemeinsamen Liste, Ayman Odeh, der
Führer der Opposition, werden würde.
Nach dem Gesetz wird
dieser Titel automatisch dem Führer der größten Oppositionspartei
verliehen. Er gewährt seinem Inhaber viele der Privilegien eines
Kabinett-Ministers. Der Ministerpräsident ist verpflichtet, sich mit
ihm regelmäßig zu beraten und Regierungsgeheimnisse mit ihm zu
teilen.
Aber selbst, wenn es
keine Einheitsregierung geben sollte und Herzog der Führer der
Opposition würde, ist die veränderte Situation der Araber in der
Knesset ein außerordentliches Ergebnis der Wahl.
Es liegt eine gewisse
Komik darin: es war Avigdor Lieberman, der fast pathologische
Araberhasser, der die Knesset dazu verleitete die Prozenthürde auf
3,25% zu erhöhen. Die Absicht war, die drei kleinen arabischen
Parteien(einschließlich der kommunistischen, die auch ein paar
jüdische Wähler hatte) zu eliminieren. Diese reagierten so, indem
sie ihre gegenseitigen Unstimmigkeiten und Feindseligkeiten
überwandten und die Gemeinsame Liste bildeten. Liebermann hatte
große Schwierigkeiten, seine eigene Minoritätsklausel zu überwinden,
und Ely Yishais Partei, die die Erben des faschistischen Meir Kahane
einschließt, wurde – Gott sei Dank - außerhalb der Knesset
gelassen.
Man muss hoffen, dass
die Gemeinsame Liste nicht auseinanderbricht. Odeh repräsentiert
eine neue Generation der arabischen Bürger, die sehr viel bereiter
ist, sich in die israelische Gesellschaft zu integrieren. Vielleicht
werden das nächste Mal die alten Tabus endlich verschwinden und die
arabischen Bürger ein wirklicher Teil des israelischen politischen
Lebens werden. Dieses Mal wagte die Labor-Partei noch nicht, sie als
vollwertiges Mitglied einer linken Koalition anzuerkennen.
ICH MAG nicht sagen
„ich sagte es euch ja“. Es macht einen nicht populärer. Dieses Mal
kann ich es aber nicht vermeiden, weil hier eine Lektion gelernt
werden muss.
Zu Beginn des
Wahlkampfes schrieb ich zwei Artikel in Haaretz, in denen ich
vorschlug, dass der anfängliche Schwung, der durch die
Herzog-Livni-Vereinigung entstanden war, durch eine viel größere
Einheitsliste, die auch das „Zionistische Lager“ (Labor), Meretz,
Lapids Yesh Atid (‚Es gibt eine Zukunft‘) und, wenn möglich, sogar
Moshe Kachlons neue Partei einschloss, fortgesetzt und intensiviert
werden sollte .
Die Antwort? Nichts
dergleichen. Keine der Parteien nahmen offiziell davon Kenntnis.
Die Idee war, dass
solch eine vereinigte Front eine unaufhaltsame Eigendynamik
entwickeln und Wähler anziehen würde , die sonst für keine dieser
Parteien stimmen (oder gar nicht wählen) würden. Zusammen mit der
„Gemeinsamen arabischen Liste“, würden sie eine blockierende Kraft
geschaffen haben, die ein Comeback des Likud unmöglich gemacht
hätte.
Ich fügte hinzu,
dass, wenn der Vorschlag nicht akzeptiert würde, alle beteiligten
Parteien es bereuen würden. Es tut mir sehr leid, dass ich
anscheinend recht hatte.
AM MORGEN nach der
Wahl trat die Meretz-Führerin Sehava Galon zurück. Es war ehrenhaft,
dies zu tun.
Meretz überwand kaum
die Schwellen-Klausel und schrumpfte auf vier Sitze zusammen, obwohl
viele Wähler (einschließlich meiner selbst) sich an der Rallye im
letzten Augenblick beteiligten.
Die Partei hat an
einer langen Reihe von glanzlosen Führern gelitten. Doch ihr
Unbehagen geht viel tiefer. Es ist existentiell.
Von Anfang an war
Meretz eine Partei der ashkenasishen intellektuellen Elite. Sie
sagt das Richtige. Aber sie reagierte gegenüber den Massen der
orientalischen Gemeinschaft mit Ressentiments, von den Religiösen
gehasst, von den russischen Immigranten weggestoßen. Sie lebt auf
einer einsamen Insel, und ihre Mitglieder machen den Eindruck, unter
sich selbst ganz glücklich zu sein, ohne all den Pöbel.
Sehava Galon ist eine
gute Person, ehrlich und wohlmeinend, und ihr Verzicht nach den
ersten Wahlergebnissen ehrt sie. Es scheint, dass Meretz auf 4 Sitze
geschrumpft ist. Aber die Partei ist langweilig geworden. Nichts
Neues seit langer, langer Zeit. Ihre Botschaft ist richtig, aber
uninteressant.
Meretz braucht einen
Führer – eine inspirierende Persönlichkeit, die Begeisterung weckt.
Aber vor allem benötigt sie eine neue Einstellung – eine, die
erlaubt, aus ihrem Panzer herauszukommen und die ihre Wähler aktiv
anzieht, die ihr jetzt aus dem Weg gehen. Sie muss hart arbeiten, um
die Orientalen, Russen, Araber und selbst die moderaten Religiösen
anzusprechen.
ABER IST es fair,
dies nur von Meretz zu verlangen? Es gilt für den ganzen sozialen
und liberalen Teil Israels, für das Friedenslager und das Lager für
soziale Gerechtigkeit.
Die Wahlergebnisse
haben gezeigt, dass die düsteren Prophezeiungen über eine
entscheidende, unumkehrbare Hinneigung Israels zur Rechten
unbegründet sind. Die Trennlinie geht durch die Mitte und kann
verschoben werden.
Das allgemeine Bild
hat sich nicht verändert. Der rechte Flügel (Likud, Bennet,
Lieberman) hat nur einen einzigen Sitz gewonnen: von 43 auf 44. Das
Mitte-Links-Lager (Zionist, Meretz, Lapid) hat 8 Sitze verloren:
von 48 auf 40, aber die meisten von ihnen gingen zu Kachlon, der 10
Sitze gewann. Die Orthodoxen kamen von 17 auf 14 Sitze. Die
arabische Liste gewann 2 – von 11 auf 13. Der falsche Eindruck eines
riesigen Wandels wurde durch die Meinungsumfragen mit ihrem
künstlichen Drama geschaffen.
Aber um dies zu
bewirken, muss es eine Bereitschaft geben, wieder von vorne
anzufangen.
Der gegenwärtige
Aufbau der israelischen Linken kann das nicht schaffen. Das ist die
simple Wahrheit.
Die auffallende
Tatsache dieser Wahl ist, dass das Ergebnis genau die demografische
Zusammensetzung der israelischen Gesellschaft wiederspiegelt. Der
Likud gewann entscheidend innerhalb der orientalisch jüdischen
Gemeinschaft, die die niedrigere soziologisch-wirtschaftliche
Bevölkerungsschicht einschließt. Der Likud behält auch seine
partielle Stütze in der Ashkenazi-Gemeinschaft.
Das zionistische
Lager und Meretz gewann entscheidend innerhalb des wohl situierten
Ashkenazi Publikum – dort und nirgendwo sonst.
Die Einstellung der
Likudleute gegenüber ihrer Partei ähnelt der Einstellung von
Fußballfans zu ihrem Team. Es ist sehr emotional.
Ich war immer davon
überzeugt, dass Wahlpropaganda und der ganze Medienklamauk des
Wahlkarnevals wenig, wenn überhaupt etwas mit dem Ergebnis zu tun
hat. Die demographischen Fakten sind entscheidend.
Die Linke muss sich
entsprechend der Realität selbst neu erfinden. Sonst hat sie keine
Zukunft.
Falls eine der
bestehenden Parteien dies tun kann, wäre es schön. Falls nicht, muss
eine neue politische Kraft gebildet werden. Und zwar jetzt.
Nicht-parteigebundene
Organisationen, mit denen Israel überreich ausgestattet ist, können
diesen Job nicht tun. Sie können - und tun es –versuchen, viele
bestehenden Fehler zu beseitigen. Ihre Aktivisten kämpfen für die
Menschenrechte, propagieren gute Ideen, verhindern Missbrauch der
Gewalt. Aber sie können nicht die Hauptarbeit tun: die Politik des
Staates verändern. Dafür brauchen wir eine politische Partei, eine
die die Wahlen gewinnen und eine Regierung bilden kann. Das ist die
wichtigste Aufgabe. Ohne dies steuern wir in eine Katastrophe.
Als Erstes müssen
unsre Misserfolge klar analysiert und zugegeben werden. Dazu gehört
der verhängnisvolle Misserfolg, einen großen Teil der
orientalisch-jüdischen Gemeinde zu überzeugen, sogar die zweite und
dritte Generation. Dies ist keine gottgewollte Tatsache. Sie muss
anerkannt, analysiert und studiert werden. Das kann getan werden.
Dasselbe gilt sogar
noch mehr für die Immigranten aus der früheren Sowjetunion. Sie sind
der Linken weitgehend entfremdet. Es gibt im heutigen Israel keinen
Grund dafür.
Das Tabu, das die
jüdische Linke daran hindert, sich mit arabischen politischen
Kräften zu vereinigen, muss gebrochen werden. Es ist ein Akt der
Selbst-Kastration (auf beiden Seiten) und verurteilt die Linke zur
Impotenz.
Es gibt keinen Grund
für einen völligen Bruch zwischen der säkularen Linken und selbst
nicht der moderaten religiösen Kräfte. Die provokative
anti-religiöse Haltung, die für einige Teile der Mitte und der
Linken gilt, ist einfach dumm.
WAS IST also zu tun?
Vor allem muss eine
neue Führung ermutigt werden, aufzutauchen. Sehava Galons erstes
lobenswertes Beispiel sollte von anderen und von ihr selbst befolgt
werden. Wirklich neue Führer müssen kommen, solche, die nicht eine
Kopie der alten sind.
Die größte Gefahr
ist, dass nach dem ersten Schock, sich alles in alter Weise
einpendelt, als ob nichts geschehen wäre.
Ein entschiedener
Versuch muss gemacht werden, um genau die Reibungspunkte zwischen
der Linken und den entfremdeten Teilen festzustellen. Testgruppen
müssen aufgebaut werden, um an die Wurzeln der Entfremdung – bewusst
und unbewusst, konkret und emotional - zu gelangen.
Anmaßende Haltungen
müssen abgebaut werden. Kein Sektor hat ein exklusives Recht auf den
Staat. Jeder hat ein Recht, gehört zu werden und seine tieferen
Gefühle und Hoffnungen auszudrücken. Exklusivität, oft unbewusst,
muss durch Einbeziehung ersetzt werden.
Meiner Meinung nach
ist es ein Fehler, zu versuchen, unsere Überzeugungen zu verstecken.
Im Gegenteil, die Tatsache, dass die Wörter „Frieden“ und
„Palästina“ im Wahlkampf überhaupt nicht erwähnt wurden, half der
Linken nicht. Ehrlichkeit ist die erste Voraussetzung, um Leute zu
überzeugen.
Kurz gesagt, falls
die Linke das nächste Mal gewinnen möchte – was viel früher, als
erwartet, kommen kann – muss sie damit beginnen, sich selbst zu
reformieren und die Gründe für ihren Misserfolg von diesem Mal
überwinden. Es kann getan werden. Die Zeit, damit zu beginnen, ist
genau jetzt.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)