Wessen Akko ?
Uri Avnery
DER ALTE Hafen von Akko ist
zur Zeit das Objekt einer
wilden Schlacht. Die
arabischen Bewohner der
Stadt wollen, dass der Hafen
den Namen eines arabischen
Helden trägt, den von Issa
Al-Awam, einem General von
Saladin, dem muslimischen
Führer, der die Kreuzfahrer
besiegte. Der Gemeinderat
von Akko, der natürlich von
den jüdischen Bewohnern
dominiert wird, hat
entschieden, dem Hafen den
Namen eines israelischen
Funktionärs zu geben.
Die arabischen Bürger
errichteten für ihren Helden
ein Denkmal. Der Gemeinderat
erklärte dieses für eine
„illegale Struktur“ und
entschied, es zu zerstören.
Dies könnte ein kleiner
lokaler Konflikt gewesen
sein, wenn er nicht solch
tiefe ideologische und
politische Auswirkungen
hätte.
ICH LIEBE das alte Akko. Für
mich ist es - abgesehen von
Ost-Jerusalem - die schönste
und interessanteste Stadt im
Land.
Sie ist eine der ältesten
Städte des Landes. Sie wird
in der Bibel im 1. Kapitel
der Richter erwähnt (das
übrigens dem mörderischen
Buch Josua völlig
widerspricht) Das Kapitel
zählt die kanaanitischen
Städte auf, die nicht von
den Kindern Israels erobert
worden waren. Es blieb eine
phönizische Stadt, eine der
Hafenstädte, von der
unerschrockene Matrosen
abfuhren und die Küsten des
Mittelmeeres kolonisierten,
von Tyros bis Kartago. (Es
waren vor allem die
Phönizier, die im ganzen
Mittelmeerraum kolonisierten
und das phönizische Alphabet
bis zu den Etruskern in
Italien verbreiteten)
Akko erreichte während der
Kreuzzüge seinen Höhepunkt.
Es war damals der einzige
Hafen des Landes, der
während aller Jahreszeiten
des Jahres benutzt werden
konnte. Den Kreuzfahrern
gelang es, sie nach einer
hartnäckigen Verteidigung zu
erobern. Hundert Jahre
später als der große
Salah-ad-Din (Saladin) der
Herrschaft der Kreuzfahrer
in Jerusalem ein Ende
setzte, trieb er diese auch
aus Akko heraus. Die
Kreuzritter eroberten sie
zurück, und Akko diente
ihnen noch einmal hundert
Jahre als Hauptstadt des
reduzierten
Kreuzfahrerstaates. Als 1291
der Rest des
Kreuzfahrerreichs
ausgelöscht wurde, war Akko
die letzte Kreuzfahrerstadt,
die in die Hände der Muslime
fiel. Das Bild der letzten
Kreuzfahrer und ihrer
Frauen, die von den Quais
von Akko ins Meer sprangen,
hat sich ins Gedächtnis
eingegraben und den Ausdruck
„ins Meer werfen“ entstehen
lassen.
Auch später hatte die Stadt
eine bewegte Geschichte.
Dhaher al-Omer, ein
Beduinenhäuptling, übernahm
die Stadt und schuf eine Art
unabhängigen Beinahe-Staat
Galiläa. Sogar Napoleon,
einer der großen Feldherren
der Geschichte, kam 1799 von
Ägypten her, belagerte die
Stadt, wurde aber von den
Arabern und mit Hilfe
britischer Matrosen klar
besiegt.
Als die Briten 1917 die
Herren des Landes wurden,
verwandelten sie die
imponierende
Kreuzfahrerfestung in Akko
in ein Gefängnis, in dem
unter anderem auch die
Führer der hebräischen
Untergrundorganisationen
eingekerkert waren. In einer
ihrer gewagtesten
Heldentaten brach die Irgun
in die Festung ein und
befreite ihre Gefangenen.
1948 eroberten die Israelis
die Stadt, die bis dahin
völlig arabisch war.
Der alte Teil der Stadt mit
seinen wunderschönen
Minaretts, der Moschee und
den Kreuzfahrerfestungen
blieb weiter arabisch. Auch
der Hafen, der nun Fischern
diente. Aber rund um diesen
alten Stadtteil entstanden
jüdische Stadtteile, anonym
wie viele hundert solcher
Stadtteile in ganz Israel,
und ihre Bewohner stellen
nun die Mehrheit dar. Sie
lieben ihre arabischen
Nachbarn nicht besonders.
Von Zeit zu Zeit gibt es
Auseinandersetzungen
zwischen den beiden
Bevölkerungsgruppen. Die
arabischen Bewohner glauben,
Akko sei seit alters her
ihre Stadt und betrachten
die Juden als Eindringlinge.
Die Juden sind davon
überzeugt, die Stadt gehöre
ihnen und die Araber seien
bestenfalls eine tolerierte
Minderheit und sollten ihren
Mund halten.
Der augenblickliche Streit
kann leicht zu
Gewaltausbrüchen werden.
BEI JEDEM Konflikt zwischen
Juden und Arabern in diesem
Land taucht die kindische
Frage auf: wer war zuerst
da?
Die Araber eroberten 635 n.
Chr. das Land, das sie Jund
Filistin (militärischer
Distrikt Palästina) nannten,
und seit damals ist es
(abgesehen von der
Kreuzfahrerperiode) unter
muslimischer Herrschaft
gewesen, bis zur Ankunft der
Briten. Sie, die Araber,
behaupten: „Wir waren zuerst
hier“.
Die zionistische Version ist
anders. In biblischen Zeiten
gehörte der größte Teil des
Landes dem Königreich Judäa
und Israel, obwohl die Küste
im Norden den Phöniziern und
im Süden den Philistern
gehörte. Trotz verzweifelter
Anstrengungen in Hunderten
von Jahren konnte kein
archäologischer Beweis
gefunden werden, dass es
jemals einen Exodus aus
Ägypten, eine Eroberung
Kanaans durch die Kinder
Israels oder ein Königreich
Davids oder Salomos gegeben
hat. Aber seit dem
Königreich Ahabs um 870 v.
Chr. ist Israel auf der wohl
bewiesenen historischen
Karte. Nach dem
babylonischen Exil,
herrschten die Juden im
Lande mit ständig
wechselnden Grenzen bis in
die Zeit der Römer. Also:
„Wir waren die ersten.“
Wenn die Israeliten vor den
Muslimen da waren, wer war
dann vor den Israeliten
hier? Die Kanaaniter
natürlich. „Sie waren die
ersten“. Aber wer
repräsentiert sie?
Ich schrieb einmal eine
Satire über den „ersten
kanaanitischen Kongress“,
der irgendwo auf der Welt
stattfindet. Die Teilnehmer
erklären, sie seien die
Nachkommen der Ureinwohner
des Landes und beanspruchten
dieses für sich.
Das ist nicht ganz ein
Scherz. In den ersten Jahren
des letzten Jahrhunderts
versuchte Yitzhak Ben-Zwi,
der der 2. Präsident Israels
wurde, die Kanaaniter für
den Zionismus zu
beanspruchen. Er forschte
und fand, dass die
Bevölkerung dieses Landes
sich seit den frühesten
Zeiten nicht wirklich
verändert hat. Die
Kanaaniter vermischten sich
mit den Israeliten, wurden
Juden und Hellenen, und als
das byzantinische Imperium
kam, das damals das Land
beherrschte und die
christliche Religion annahm,
wurden sie Christen. Nach
der arabischen Eroberung
wurden sie nach und nach
Muslime und übernahmen die
arabische Sprache.
Mit andern Worten: dasselbe
Dorf war kanaanitisch, wurde
israelitisch, machte alle
Stadien durch und wurde
schließlich arabisch. Heute
ist es palästinensisch, wenn
es nicht 1948 dem Erdboden
gleich gemacht wurde und
durch eine jüdische Siedlung
ersetzt wurde. Während all
der Jahrhunderte hat sich
die Bevölkerung nicht
verändert. Und viele der
Ortsnamen haben sich auch
nicht geändert. Jeder neue
Eroberer brachte einen neuen
Glauben und eine neue Elite
mit sich, aber die
Bevölkerung hat sich kaum
verändert. Kein Eroberer war
daran interessiert, die
Bevölkerung zu vertreiben,
die ihn mit Nahrung und mit
Einkünften versorgte. Nach
Meinung von Ben-Zwi waren
die palästinensischen Araber
die wirklichen Nachkommen
der alten Israeliten. Aber
als der
israelisch-palästinensische
Konflikt in Gang kam, wurde
diese Theorie vergessen.
Vor kurzem nahmen einige
Palästinenser eine ziemlich
ähnliche Theorie an. Mit
derselben historischen Logik
behaupteten sie, die
palästinensischen Araber
seien die Nachkommen der
alten Kanaaniter und deshalb
„seien sie die Ersten“, noch
vor den Kindern Israels aus
biblischen Zeiten. Es war
die zionistische Eroberung,
die zum ersten Mal die
Zusammensetzung der
Bevölkerung radikal
veränderte.
Die Kanaaniter und die alten
Israeliten sprachen
verschiedene Dialekte
derselben semitischen
Sprache, die heute Hebräisch
genannt wird. Dann wurde
aramäisch die Sprache des
Landes und später arabisch.
In der letzten Woche wurden
neue Forschungsergebnisse
veröffentlicht, die
aufzeigen, dass der
volkstümlich
syrisch-palästinensisch-arabische
Dialekt viele Wörter
einschließt, die ihren
Ursprung im alten Hebräisch
und Aramäischen hat und die
nicht im volkstümlichen
Dialekt anderer arabischer
Länder vorkommen. Eindeutig
wurden sie vor vielen
Jahrhunderten vom
einheimischen arabischen
Dialekt absorbiert. Es sind
hauptsächlich
landwirtschaftliche Wörter
des Alltags. Und es ist
logisch, zu vermuten, dass
sie von der arabischen
Sprache aus dem Aramäischen
übernommen wurde, die sie ja
ersetzte.
WARUM IST das so wichtig?
Wie wirkt sich dies auf den
Akko-Streit aus?
Vor vielen Jahren las ich
ein Buch des
amerikanisch-arabischen
Gelehrten Philip Hitti,
einem maronitischen Christen
aus dem Libanon, mit dem
Titel: „Die Geschichte
Syriens“. Entsprechend der
arabisch historischen
Ansicht gehören zu Syrien (A-Sham
im klassischen Arabisch)
auch die heutigen Länder
Libanon, Jordanien, Israel,
die Westbank und der
Gazastreifen.
Das Buch machte einen
nachhaltigen Eindruck auf
mich. Es beschreibt die
Geschichte dieses Landes von
den prähistorischen Zeiten
bis zur Gegenwart mit all
seinen Stadien wie eine
fortlaufende Geschichte, die
die Kanaaniter und
Israeliten, die Phönizier
und Philister, die Aramäer
und Araber, die Kreuzfahrer
und die Mameluken, Türken
und Briten, Muslime,
Christen und Juden
einschließt. Sie gehören
alle zur Geschichte des
Landes, alle hatten zu
seiner Kultur, der Sprache
und Architektur, den
Palästen und Festungen,
Synagogen und Kirchen,
Moscheen und Friedhöfen
beigetragen.
Jeder, der über Frieden und
Versöhnung nachdenkt, sollte
dieses Bild aufnehmen.
WELCHE ART von Geschichte
wird heutzutage in den
Schulen beider Völker
gelehrt? Beide haben eine
mobile Geschichte, die durch
die Landschaft wandert.
Die jüdische Geschichte
beginnt mit „Abraham, unserm
Vater“ im heutigen Irak und
dem Exodus aus Ägypten, der
Übergabe der Zehn Gebote auf
dem Berg Sinai im heutigen
Ägypten, der Eroberung
Kanaans, König David und den
andern Legenden in der
Bibel, die als authentische
Geschichte gelehrt wird. Es
geht weiter im Land mit der
Zerstörung des Tempels durch
Titus und mit dem
Bar-Kochba-Aufstand gegen
die Römer, dann geht es ins
„Exil“ und konzentriert sich
dabei immer auf die Reihe
von Vertreibungen und
Verfolgungen. Schließlich
die Rückkehr in das Land mit
den frühen zionistischen
Siedlern.
Die Geschichte ignoriert
nicht nur alles, was sich
vor der israelitischen Ära
im Land abspielte, sondern
auch was während der 1747
Jahre zwischen dem
Bar-Kochba-Aufstand im Jahr
135 n.Chr. und dem Beginn
der vor-zionistischen
Besiedlung um 1882 geschehen
ist. Ein Schüler aus dem
israelischen Bildungssystem
weiß nahezu nichts über das
Land während dieses
Zeitraumes.
Auf der arabischen Seite ist
es kaum besser. Das
palästinensisch-arabische
Geschichtsbild beginnt auf
der arabischen Halbinsel mit
der Ankunft des Propheten
Mohammed und erwähnt noch
die Ära der Jahilija
(Ignoranz) davor und die
Ankunft der muslimischen
Eroberer in Palästina. Was
sich vor 635 n. Chr. hier
ereignet hat, ist von keinem
Interesse.
Die Schüler beider
Bildungssysteme - des
jüdisch-israelischen und des
palästinensisch-arabischen –
wachsen mit völlig
verschiedenen historischen
Narrativen auf.
ICH TRÄUME von dem Tag, an
dem in allen Schulen dieses
Landes in Israel und
Palästina Juden und Araber
nicht nur beide Narrative
lernen, sondern die
komplette Geschichte des
Landes, die alle Perioden
und Kulturen einschließt.
Sie werden z.B. lernen, dass
als die Kreuzfahrer das Land
eroberten, Muslime und Juden
zusammen gegen die grausamen
Eroberer standen und
gemeinsam massakriert
wurden. Sie werden lernen,
dass in Haifa die
einheimischen Juden die
Verteidigung anführten und
für ihren Heldenmut
bewundert wurden, bis sie
Seite an Seite mit den
Muslimen ermordet wurden.
Solch eine Identifizierung
mit der Geschichte des
Landes kann als solide Basis
für eine Versöhnung zwischen
den Völkern dienen.
1995 schrieb ich – vom
unvergesslichen Feisal
al-Husseini inspiriert – im
Auftrag von Gush Shalom ein
Manifest für Jerusalem. In
einem seiner Absätze heißt
es: „Unser Jerusalem ist ein
Mosaik aller Kulturen, aller
Religionen und aller
Perioden, die die Stadt
bereichert haben, von der
ältesten Antike bis zum
heutigen Tag – Kanaaniter
und Jebusiter und
Israeliten, Juden und
Griechen, Römer und
Byzantiner, Christen und
Muslime, Araber und
Mameluken, Ottomanen und
Briten, Palästinenser und
Israelis. Sie und alle
anderen, die der Stadt ihren
Beitrag geleistet haben,
haben einen Platz in der
geistigen und physischen
Landschaft der Stadt.“
In dieser Liste fehlen die
Kreuzfahrer – und
keinesfalls durch einen
Irrtum. Sie waren in unserm
ursprünglichen Text. Aber
als ich den bekannten
arabisch-israelischen
Schriftsteller Emil Habibi
fragte, ob er beim
Unterschreiben der erste
sein möge, rief er aus: „Ich
werde kein Dokument
unterschreiben, das diese
abscheulichen Mörder
erwähnt!“
Fast alles, was über
Jerusalem gesagt wird, gilt
auch für Akko. Seine
Geschichte beginnt in
prähistorischen Zeiten und
setzt sich bis in die
Gegenwart fort. Und der
arabische General Issa
Al-Awan gehört dazu wie der
englische Kreuzfahrer
Richard Löwenherz und die
Irgunkämpfer, die die
Gefängnismauern
durchbrachen.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)