Ein Brief aus Israel von Ran Ha
Cohen,
Tel Aviv Universität
Missbrauch von „Antisemitismus“ (AS)
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Ein Brief aus Israel von Ran Ha
Cohen, Tel Aviv Universität
Missbrauch von „Antisemitismus“ (AS)
Der Vorabend des jüdischen
Neujahrsfestes (26.9.2003) ist eine ausgezeichnete Möglichkeit
für das, was jüdische Tradition Kheshbon Nefesh nennt oder ein
In-Sich-Gehen und über sog. „Antisemitismus“ nachzudenken, der
jetzt zum einzigen bedeutsamsten Element jüdischer Identität
geworden ist.
Juden mögen an Gott glauben oder nicht glauben, sie mögen
Schweinefleisch essen oder nicht essen, in Israel leben oder
nicht dort leben – sie werden alle durch eines mit einander
verbunden: durch den unbegrenzten Glauben an den Antisemitismus.
Wenn ein Palästinenser einen unschuldigen israelischen
Zivilisten tötet, dann ist dies Antisemitismus. Wenn
Palästinenser einen Soldaten der israelischen Besatzungsarmee in
ihrem eigenen Dorf angreifen, ist es AS. Wenn die
UN-Hauptversammlung mit 133 zu 4 gegen Israels Entscheidung, den
gewählten palästinensischen Führer zu ermorden, stimmt, bedeutet
dies, dass außer den USA, Mikronesien und den Marschallinseln
alle anderen Länder rund um den Globus antisemitisch sind. Sogar
wenn eine hochschwangere Palästinenserin an einem israelischen
Checkpoint festgehalten wird und sie deshalb auf offenem Feld
ein Kind gebiert, so ist die einzige Lektion aus dem Artikel des
Haaretz-Journalisten Gideon Levy, dass er antisemitisch sei. (Er
hat übrigens von zwei derartigen Fällen in den vergangenen 2
Wochen berichtet: eins der Neugeborenen starb an Ort und
Stelle.)
Antisemitismus ist eine all-umfassende Erklärung. Alles was
anti-palästinensischen Ohren missfällt, ist ein weiteres
Beispiel für AS. Jüdisches Bewusstsein, das sich auf AS
konzentriert, hat die Form von antisemitischen
Verschwörungstheorien angenommen, wie die Protokolle der Weisen
von Zion, wobei der klassische Antisemit jedes Unglück jüdischer
Verschwörung zurechnet. Juden rechnen jede Kritik an Israel
antijüdischer Verschwörung zu. Wie wir sehen werden, ist dies
nicht die einzige Ähnlichkeit zwischen anti-palästinensischer
Haltung und antisemitischer Haltung.
Es ist höchste Zeit, dies deutlich und laut auszusprechen:
während der ganzen jüdischen Geschichte seit dem Babylonischen
Exil im 6. Jhdt. hat es keine bessere Zeit gegeben als die
unsere: nie gab es weniger AS. Es gab für Juden nie eine bessere
Zeit als die, in der wir leben.
Bis etwa vor zwei Generationen war der AS eine legitime,
politische, kulturelle Haltung bei den meisten führenden
Weltmächten. AS war etwas, was man offen aussprechen konnte,
worauf man sogar stolz war. Juden nicht zu mögen, war so
natürlich, wie man heute Ungeziefer verachtet. Heute ist AS ein
Tabu und in jedem entwickelten Land der Erde ein kriminelles
Vergehen. Selbst wirklich antisemitische Gruppen verleugnen
ihren antisemitischen Charakter, da sie wissen, dass dies
politisch unannehmbar ist. Nicht wie in früheren Jahrhunderten,
wo AT in direktem Verhältnis zur Zahl der Juden im
entsprechenden Land stand und so eine reale Bedrohung für sie
darstellte – sind die Länder, in denen heute Antisemitismus
herrscht (meist arme muslimische Länder) praktisch ohne Juden,
sodass die aktuelle Gefahr für sie minimal ist: Vertreter
muslimischer Gemeinschaften im Westen müssen ihre antisemitische
Haltung als Vorbedingung ablegen, wenn sie ins politische System
aufgenommen werden wollen.
Nur wenige Generationen vorher – lassen wir den Holocaust
zunächst beiseite – wurden Juden in allen größeren
Konzentrationen wie Bürger zweiter Klasse behandelt. Ihnen
wurden fast universal die bürgerlichen und religiösen Rechte
vorenthalten. Da gab es Beschränkungen beim Zugang zur
Universität und vielen Berufen, beim öffentlichen Dienst und
jeder Machtposition. Manchmal war sogar das Heiraten und
Kinderkriegen von Quoten und Lizenzen abhängig. Solche
institutionalisierte Diskriminierung und Unterdrückung ist heute
nicht nur völlig abgeschafft: sie ist einfach unvorstellbar. Mit
einer enthüllenden Ausnahme: (Israel, wo nicht-orthodoxe
religiöse Juden benachteiligt werden) erfreuen sich Juden aller
religiösen Freiheit, wo immer sie sich befinden. Sie haben volle
Staatsangehörigkeit, wo immer sie leben mit vollen politischen,
zivilen und Menschen-Rechten wie jeder andere Bürger auch. Das
mag trivial klingen, aber bis vor nur wenigen Generationen und
während des 1. und 2. Jahrtausends war es nicht so.
Unterdrückerische Regime brachen entweder zusammen oder die
jüdische Bevölkerung verließ das Land.
Heutzutage könnte ein orthodoxer Jude das mächtigste Amt der
Welt übernehmen und Präsident der USA werden ( Ich persönlich
hoffe, dass er – Joe Lieberman – nicht gewinnen wird). Ein Jude
kann Bürgermeister von Amsterdam sein – in einem antisemitischen
Holland; ein Minister im „antisemitischen“ Britannien, ein
führender Intellektueller im antisemitischen Frankreich, ein
Präsident der antisemitischen Schweiz, der Hauptherausgeber der
größten Tageszeitung im antisemitischen Dänemark oder ein
industrieller Magnat im antisemitischen Russland. Das wäre vor
hundert Jahren unvorstellbar gewesen. Juden haben heute
unbegrenzten Zugang zu jeder Institution in jedem Land, in dem
sie leben. Ironischerweise wird ein konvertierter Jude als
möglicher Nachfolger auf den Heiligen Stuhl genannt.
Gleichzeitig schenkt das antisemitische Deutschland ( inzwischen
Heimat der am schnellsten wachsenden jüdischen Gemeinschaft)
Israel drei Unterseeboote, das antisemitische Frankreich hat
Israel mit dem Know-how nuklearer Technik für
Massenvernichtungswaffen versehen und das antisemitische Europa
hat Israel als das einzige nicht europäische Land zu allem
eingeladen, sei es Fußball oder Basketball-Ligen oder zu
Eurovision-Liederwettbewerben und hat israelischen Universitäten
einen besonderen Status für wissenschaftliches Fund-Rising
gewährt.
Der Holocaust ist die größte Katastrophe in der jüdischen
Geschichte gewesen und gehört zu den größten Verbrechen der
menschlichen Geschichte – aber allein die Tatsache, dass diese
Worte so offensichtlich und klar klingen, ist ein klarer Sieg
über den Antisemitismus. Der Ausdruck Genozid, von einem
jüdischen Überlebenden des Holocaust (R. Lemkin) geprägt und mit
dem Genozid nur der Juden verbunden, fand seinen Weg in die
internationale Gesetzgebung und ist als Verbrechen von fast
allen Ländern der Erde – am Ende auch ( mit beschämend langer
Verzögerung) auch von den USA bestätigt worden. Der Holocaust
ist mit Recht der Prototyp des Völkermords geworden, ein Synonym
für Verbrechen gegen die Menschheit. Da gab es noch einige
andere Völkermorde im 20. Jahrhundert, bedeutsam genug, um sie
zu erwähnen: der armenische Völkermord durch die Türken ( der
dem Holocaust vorausging und ihn mit anregte); oder der
Völkermord an den Tutsi durch die Hutu in Ruanda ( der noch
„effizienter“ war als der Holocaust). Während andere Völkermorde
immer noch darum kämpfen, anerkannt zu werden, ist der Holocaust
jedoch der einzige Völkermord, der fraglos soweit anerkannt
wird, dass seine Leugnung in einigen Ländern als Verbrechen
angesehen wird. Kein anderer Genozid kommt rund um die Welt an
nahezu 250 Gedenkmuseen und Forschungsinstitutionen, die dem
Holocaust gewidmet sind, und keine anderen Genozidüberlebenden
sind finanziell so kompensiert worden wie verfolgte Juden. Wer
in solch einer Welt zweimal pro Tag „Antisemitismus“ schreit,
trägt eine schwere Bürde des Beweises auf seiner Schulter.
Im Staat Israel sind antisemitische Aussagen immer zynisch
ausgenützt worden und je nach Belieben wurden tatsächliche
Antisemiten entweder verurteilt oder es wurde mit ihnen
zusammengearbeitet. Um nur ein kleineres Beispiel aus der
letzten Woche zu nennen: als die Welt durch die Behauptung von
Italiens Herrscher Berlusconi -- sein faschistischer Vorgänger
Mussolini „hätte niemanden getötet sondern nur auf Ferien ins
Exil geschickt“ -- gröblich beleidigt wurde, so war das ziemlich
nah an einer Holocaustverleugnung. Die einzige offizielle
israelische Reaktion war die eines ungenannten Sprechers des 2.
Ministers im Finanzministerium, der folgendes murmelte: „Falls
diese Worte gesagt worden sind, kann man diesen nicht zustimmen;
denn die Geschichte spricht für sich selbst“ (Haaretz 14.9. S.12
unten) Der Grund für dieses Sich-taub-stellen ist einfach:
Berlusconi hat innerhalb Europa - wie alle rechten Extremisten -
eine entschieden Pro-Israel-Haltung. Also darf er sogar den
Holocaust leugnen, wenn er will. Israel hat dafür Verständnis.
Schließlich war Israel der nächste Verbündete des
rassistischsten Regimes in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, des
Apartheidregimes von Südafrika. Moralische Erwägungen haben in
Israels Politik und Diplomatie niemals eine Rolle gespielt. Auf
Staatsebene mag man dies mir Realpolitik entschuldigen. Die
institutionelle Pro-Israel-Lobby hat ihre Integrität in dem
Ausmaß kompromittiert, dass ich nicht überrascht wäre, wenn die
Anti-Defamation-Liga, die täglich blinden Alarm wegen
Antisemitismus schlägt, nun den faschistischen Apologeten
Berlusconi als einen ausgezeichneten Staatsmann hinstellt.
Tatsächlich hat genau dieser Weltrekord an Heuchelei in dieser
Woche stattgefunden.
Viel beunruhigender ist jedoch die gezielte Ausflucht gegenüber
Antisemitismusbehauptungen durch jüdische Personen oder
Institutionen, die versuchen, ein integeres Ansehen zu bewahren.
Solche Behauptungen nehmen viele kreative Formen an: z.B. haben
einige Juden einen moralisch abstoßenden Zeitvertreib, indem sie
auf die schlimmsten Fälle von Unterdrückung schauen: russische
Gräueltaten in Tschetschenien ( deren Veteranen, nebenbei
gesagt, sich der israelischen Armee angeschlossen haben)
chinesische Gräueltaten in Tibet – was vermutlich „beweist“,
dass der Medienschwerpunkt auf Israel antisemitisch motiviert
sei. Als ob es nicht schon abscheulich genug ist, in die engere
Wahl der Übeltäter gezählt zu werden, als ob nur die
Goldmedaille bei diesem satanischen Wettbewerb und nicht die
bronzene oder silberne, ein Protest wert wäre. Und ich frage
mich, wie viele jener Sessel –pro-Israel Tibetspezialisten sich
tatsächlich jemals ernsthaft gefragt haben, was sie tun könnten,
um Tibet zu befreien, außer dessen Leid auszunützen und von
Israels Gräueltaten abzulenken.
Der Missbrauch von angeblichem Antisemitismus ist moralisch
verabscheuungswürdig. Es waren Hunderte von Jahren nötig und
Millionen von Opfer, um Antisemitismus – eine spezielle Form von
Rassismus, die historisch zum Genozid führte – in ein Tabu zu
wandeln. Menschen, die dieses Tabu missbrauchen, um Israels
rassistische und genozidale Politik gegenüber den Palästinensern
zu unterstützen, tun nichts anderes, als die Erinnerung an jene
jüdischen Opfer zu schänden, deren Tod aus humanistischer
Perspektive nur insofern Sinn hat, als er eine ewige Warnung an
die Menschheit ist vor allerart von Diskriminierung, Rassismus
und Genozid.
Und außerdem die Täter als Opfer darzustellen – ein übliches
Kennzeichen anti-palästinensischer Propaganda – ist genau das,
was Antisemitismus immer getan hat: in Schmähschriften wird das
wehrlose jüdische Opfer als Schänder christlicher Kinder
dargestellt oder in der größten Anklage des Christusmordes, die
die Verfolgung früher Christen missbrauchte, um die Verfolgung
der Juden zu legitimieren, als sich das Kräftegleichgewicht der
Macht geändert hatte. Dadurch dass die jüdischen Opfer der
Vergangenheit heraufbeschwört werden, um die jüdischen Täter von
heute zu verteidigen, - denk daran, dass Israel eines der
mächtigsten Militärs der Erde hat – ist dies abgesehen davon ein
moralischer Fehler und peinlicherweise dem Antisemitismus selbst
ähnlich.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs)
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