Rede
zur Verleihung des Lew-Kopelew Preises
von Uri Avnery
Meine Damen und
Herren,
Liebe Freundinnen und Freunde,
Jedes Mal, wenn ich auf deutschem Boden stehe, frage
ich mich: Was und wo wäre ich, wenn es Adolf Hitler
nie gegeben hätte?
Stünde ich hier mit Sari Nusseibeh? Wäre ich
überhaupt ein Israeli?
Ich bin nicht weit von hier, in der westfälischen
Stadt Beckum, geboren. Dort war mein Grossvater,
Josef Ostermann, Lehrer der kleinen jüdischen
Gemeinde. Aber meine Familie kam ursprünglich aus
dem Rheinland. Meine Mutter erzählte mir einmal, aus
welchem kleinen Ort wir stammen. Leider habe ich den
Namen vergessen, und jetzt ist keiner mehr da, den
ich fragen kann. Mein Vater, der im humanistischen
Gymnasium Lateinisch als 1. Fremdsprache gelernt
hatte, behauptete, unsere Familie sei mit Julius
Caesar nach Deutschland gekommen. Aber
archäologische Beweise dafür habe ich bis jetzt
nicht gefunden. Die Familie war tief in der
deutschen Kultur verankert. Mein Vater, ein
leidenschaftlicher Musikliebhaber, hat Brahms und
Beethoven verehrt. Die Ouvertüre von Wagners
„Meistersinger“ war sein Lieblingsstück. Kein Werk
der deutschen Literatur fehlte in unserem
Bücherschrank, ich habe sie fast alle vor meinem 15.
Geburtstag gelesen.
Mein Vater kannte Goethes „Faust“, beide Teile,
auswendig. Als er sich 1913 mit meiner Mutter
verlobte, war die Bedingung, dass sie bis zur
Hochzeit „Fausts“ ersten Teil auswendig lernte. Die
Gegenbedingung meiner Mutter war, dass mein Vater
Tennis spielen sollte. Beide haben die Bedingungen
treu erfüllt, aber einen Tag nach der Hochzeit hat
meine Mutter den „Faust“ vergessen, und mein Vater
hat nie wieder Tennis gespielt.
Was hat diese Familie, die Familie Ostermann, dazu
gebracht, 1933 Deutschland für immer zu verlassen
und in ein fernes, fremdes Land, das Land der
Familie Nusseibeh, zu ziehen?
Ein einziges Wort: der Antisemitismus.
Zwar war mein Vater schon immer ein Zionist gewesen.
Er war neun Jahre alt, als der „Erste
Zionistenkongress“ stattfand. Er war von dieser Idee
begeistert. Zur Hochzeit erhielt er als Geschenk
eine Urkunde des jüdischen Nationalfonds, nach der
in Palästina ein Baum in seinem Namen gepflanzt
worden ist. Aber er hat nie daran gedacht, selbst
nach Palästina auszuwandern. (Damals gab es einen
Witz: Wer ist ein Zionist? Ein Jude, der mit dem
Geld eines zweiten Juden einen dritten Juden in
Palästina ansiedeln will.)
Zionisten waren damals in den deutschen jüdischen
Gemeinden eine verschwindende Minderheit. Unter
unseren Verwandten wurde behauptet, mein Vater sei
nur darum Zionist geworden, weil er ein Querkopf
war. (Anscheinend liegt dies in den Genen unserer
Familie.)
Aber kurz nach der sogenannten Machtübernahme
beschloss mein Vater auszuwandern. Der unmittelbare
Anlass war klein. Mein Vater war ein vom Gericht
ernannter Treuhänder und Konkursverwalter. Seine
Ehrlichkeit war sprichwörtlich, er war „gerade wie
ein Lineal“. Bei einer Gerichtsverhandlung rief ein
junger Anwalt: „Juden wie Sie brauchen wir hier
nicht mehr!“ Mein Vater fühlte sich zu tiefst
verletzt, damit war für ihn Deutschland erledigt.
Ich bin auch heute noch überzeugt, dass das Gefühl
der Kränkung bei der Scheidung zwischen Juden und
Deutschen eine große Rolle gespielt hat.
Wohin sollten wir? Kurz wurden Finnland und die
Philippinen erwogen. Aber die zionistische Romantik
gab den Ausschlag. Wir gingen nach Palästina, und
seitdem ist das Los meiner Familie mit dem der
Familie Nusseibeh untrennbar verbunden.
Als mein Vater zum Polizeipräsidium in Hannover
ging, um sich abzumelden, sagte der Polizeibeamte:
„Aber Herr Ostermann, was fällt Ihnen ein? Sie sind
doch ein Deutscher wie ich!“ Ich erzähle diese
Geschichte oft, um meine palästinensischen Freunde
von der Versuchung zu bewahren, im Antisemitismus
einen Bundesgenossen zu sehen. Also: die Antisemiten
hassen die Juden, die Juden bilden die Mehrheit in
Israel, Israel unterdrückt die Palästinenser, ergo:
die Antisemiten sind die Freunde der Palästinenser.
Das wäre ein großer Irrtum.
Ohne den Antisemitismus wäre der Zionismus nie
entstanden. Zwar behauptet die zionistische Legende,
die Juden hätten sich in jeder Generation nach
Palästina gesehnt, aber diese Sehnsucht war auf
Gebete beschränkt. Tatsächlich haben die Juden im
Laufe der Jahrhunderte nie die kleinste Anstrengung
gemacht, sich in Palästina zu versammeln.
Ein kleines Beispiel: vor 511 Jahren wurde eine
halbe Million Juden aus Spanien vertrieben. Die
meisten von ihnen siedelten sich irgendwo im
muslimisch-osmanischen Raume an, wo sie überall
freundlich aufgenommen wurden. Sie ließen sich in
Marokko, Bulgarien, Griechenland und in Syrien
nieder. Nur nach Palästina, einer entlegenen Provinz
des türkischen Reiches, gingen außer ein paar
religiösen Schriftgelehrten kaum einer.
Muslime wenden sich im Gebet nach Mekka, Juden
wenden sich im Gebet nach Jerusalem. Aber mit der
zionistischen Idee eines Judenstaates hat das nichts
zu tun.
Der moderne politische Zionismus war eine klare
Reaktion auf den modernen Antisemitismus der
nationalen Bewegungen Europas. Es ist kein Zufall,
dass das Wort „Antisemitismus“ 1879 in Deutschland
geprägt worden ist – und nur ein paar Jahre später
hat Nathan Birnbaum, ein in Wien geborener Jude, das
Wort „Zionismus“ geprägt.
Es war die Antwort auf die Herausforderung. Wenn die
neuen nationalen Bewegungen in Europa, so gut wie
ausnahmslos, nichts mit den Juden zu tun haben
wollen, dann müssen eben die Juden sich selbst als
eine Nation im europäischen Sinne konstituieren and
ihren eigenen Staat gründen.
Wo? Im Lande der Bibel, dem damaligen Palästina.
So begann der historische Streit zwischen unseren
beiden Völkern, dem Volk Sari Nusseibehs und meinem
Volk: es ist ein Konflikt der heute – 2003 -
schlimmer ist als je. Es fing damit an, dass die
Zionisten ihr Ziel, die Juden aus Europa vor dem
Antisemitismus zu retten, und die palästinensischen
Araber ihr Ziel, Freiheit und Selbständigkeit in
ihrem Vaterland zu erreichen, im selben kleinen
Lande verwirklichen wollten, ohne die geringste
Ahnung von einander zu haben.
Theodor Herzl, der Gründer der modernen
zionistischen Bewegung, schrieb 1897, nach dem
ersten Zionistenkongress in Basel, in sein Tagebuch:
„In Basel habe ich den Judenstaat gegründet“. Damals
war er noch nie in Palästina gewesen, er hatte keine
Ahnung, wer dort lebte. Einer seiner Kollegen prägte
den Ausspruch: „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne
Land“. Für sie war Palästina eben leer, unbewohnt.
Aber der Grossvater Sari Nusseibehs lebte damals in
Palästina, zusammen mit einer halben Million anderer
Araber. Sie hatten keine Ahnung – konnten ja keine
Ahnung haben! – dass irgendwo in der Schweiz, in
einer Stadt, deren Namen sie vielleicht nie gehört
hatten, eine Versammlung stattfand, deren Folgen ihr
Schicksal und das Schicksal ihrer Kinder und
Kindeskinder, ihrer Familie, ihrer Stadt, ihres
Dorfes, ihres Landes, für immer verändern wird.
Der Antisemitismus hat die zionistische Bewegung ins
Rollen gebracht, der Holocaust hat ihr eine
ungeheure moralische Wucht verliehen; auch heute
treibt der Antisemitismus die Juden aus Russland,
Argentinien und Frankreich massenweise nach Israel.
Die Palästinenser haben viele Feinde – aber keiner
von ihnen ist so gefährlich für sie wie der
Antisemitismus. Wenn in manchen arabischen Ländern
heute versucht wird, diesen fremden Antisemitismus
aus Europa zu importieren, so ist das äußerst
verhängnisvoll.
Sari Nusseibeh und ich, zwei Semiten, die zwei mit
einander verwandte semitische Sprachen sprechen,
müssen Bundesgenossen im Kampf gegen diese alte und
moderne kollektive Geisteskrankheit sein. Ich
glaube, dass wir es auch sind.
Ich möchte aber gleich hinzufügen: Der Fluch des
Antisemitismus darf nicht dazu missbraucht werden,
um jegliche Kritik an meiner Regierung und meinem
Staat zu verhindern. Wir Israelis wollen ein Volk
wie alle anderen sein, unser Staat sollte ein Staat
wie alle anderen sein, er darf und muss mit
demselben moralischen Maßstab gemessen werden wie
alle anderen Staaten.
Ja, auch hier, in Deutschland.
Keine Sonderbehandlung, bitte.
Nun dauert unser Streit schon über hundert Jahre,
auf beiden Seiten ist eine fünfte Generation in ihn
hineingeboren, eine Generation, deren ganze
Geisteswelt durch den Konflikt geprägt ist. Ängste,
Hass, Vorurteile, Stereotypen, Misstrauen bestimmen
ihre psychische Welt.
Wir stehen am Rande des Abgrunds, und in beiden
Völkern gibt es Führer, die uns befehlen: Vorwärts,
marsch!
Wie beide stehen hier, weil wir unsere Völker vor
diesem Abgrund bewahren, weil wir ihnen einen
anderen Weg zeigen wollen.
Der Staat Israel besteht, keiner kann uns ins Meer
werfen. Das palästinensische Volk besteht, keiner
kann es in die Wüste treiben. Unser
Ministerpräsident, Ariel Sharon, will aber ganz
Palästina in einen jüdischen Staat umwandeln.
Muslimische Fundamentalisten, wie die Hamas- und
Jihad- Organisationen, wollen ganz Palästina einem
muslimischen Staat einverleiben. Das ist eindeutig
der Weg in die Katastrophe.
Wir beide glauben an Frieden, an die Versöhnung
zwischen beiden Völkern. Wir glauben nicht nur
daran, wir arbeiten daran, wir kämpfen dafür, jeder
auf seine Art.
Wir haben gemeinsam an vielen Aktionen teilgenommen.
Wir sind, Arm in Arm, an der Spitze eines großen
Marsches von Christen, Muslimen und Juden am
Sylversterabend 2001 durch die Gassen der Altstadt
Jerusalems gezogen. Aber unsere Hauptaufgabe ist,
unsere eigenen Völker davon zu überzeugen, dass
Friede und Versöhnung möglich sind, dass auf beiden
Seiten die Bereitschaft besteht, den Preis des
Friedens zu bezahlen.
Das sind keine abstrakten Bestrebungen. Gusch
Schalom, die israelische Friedenbewegung, der ich
angehöre, hat 2001 einen Friedensvertrag in allen
Einzelheiten ausgearbeitet und veröffentlicht. Vor
kurzem hat Sari Nusseibeh mit Ami Ayalon, einem
ehemaligen israelischen Geheimdienstchef, die
Grundsätze einer Friedenslösung artikuliert. Jetzt
hat eine neue Gruppe von israelischen und
palästinensischen Politikern in Genf den
detaillierten Entwurf eines Friedensvertrages
vorgelegt.
Das Blutbad in unserem Land, das schon drei Jahre
andauert, ist ein Symptom der Hoffnungslosigkeit,
der Frustration und der Verzweiflung auf beiden
Seiten. Natürlich gibt es keine Symmetrie zwischen
Besatzern und Besetzten, Herrschern und
Beherrschten. Die Gewalt der Besatzung ist nicht mit
der Gewalt des Widerstandes zu vergleichen. Aber die
Hoffnungslosigkeit, die auf beiden Seiten herrscht,
und das gegenseitige Misstrauen sind vergleichbar,
und unsere erste Aufgabe ist es, diese zu
überwinden.
Wir glauben an den Grundsatz: Verfluche nicht die
Dunkelheit, zünde eine Kerze an. Zusammen mit
unseren Mitarbeitern, mit den Tausenden von
Friedensaktivisten beider Völker, haben wir schon
viele Kerzen angezündet.
Ich bin ein Optimist. Ich glaube, dass aus der
Dunkelheit der Verzweiflung schon Dämmerung wird, es
fängt ganz langsam an, heller zu werden. Die
Überzeugung, dass das Blutvergießen zu nichts führt,
breitet sich in Israel aus.
30 unserer Kampfpiloten weigern sich, unmoralische
Befehle auszuführen. Die Zahl der Verweigerer unter
unseren Soldaten wächst. Der Generalstabschef, bis
vor kurzem ein extremer Draufgänger, hat seinen
Vorgesetzten widersprochen und erklärt, das es keine
militärische Lösung gibt. Die Genfer
Friedensgespräche haben Wirkung, sie zeigen, dass es
Partner für den Frieden gibt. Eltern gefallener
Soldaten protestieren öffentlich gegen die sinnlose
Opferung ihrer Kinder.
Es weht ein neuer Wind. Es entsteht neue Hoffnung.
Wir werden alles tun, damit diese Hoffnung wächst,
damit sie zu einer historischen Wende führt.
Als ein Gusch Schalom Aktivist nehme ich diese
Auszeichnung dankbar an. Ich bin besonders stolz,
weil sie mit dem Namen Lew Kopelews verbunden ist.
Alle Kämpfer für Frieden und Menschenrechte in
Israel, Palästina und in der ganzen Welt, gehören
einer internationalen Gemeinschaft an, für die Lew
Kopelew ein Vorbild war und ist.
Ich danke Ihnen. Wir werden Sie nicht enttäuschen.