Immer wieder mal
wird behauptet, dass sich die Geschichte im Wesentlichen
wiederhole. Das stimmt so nicht, denn allenfalls wiederholen
sich Teile von ihr. Da diese mit anderen Ausprägungen in ihrer
jeweils spezifischen Situation aber oft so verschieden aussehen,
erkennen wir bestimmte Parallelen häufig nicht. Vor allem dann,
wenn etwas psychisch äußerst belastend und angstbeladen ist,
reagieren wir oft wenig rational und die Emotionalität bestimmt
die Debatten – wie sachlich diese dann auch vordergründig
erscheinen mögen.
1879 sprach man
nicht von einer deutschen Leitkultur als Heinrich von Treitschke
eine Diskussion über die Juden lostrat. Auch sprach sich
Professor Treitschke explizit gegen Aktionen gegen Juden aus und
hielt es für unmöglich, dass man ihnen den Rechtsstatus wieder
aberkannte, den sie sich in Jahrzehnten der Emanzipation
errungen hatten und der nun anlässlich der Ängste in
wirtschaftlich unsicheren Umbruchzeiten doch wieder diskutiert
wurde – die Juden hätten sich nämlich nicht integriert, würde
man heute sagen. Damals sprach man von nicht erfolgter
Assimilation.
Auch damals haben
sich viele Zeitgenossen Treitschkes gewundert über die
formulierte Zuspitzung seiner Beobachtung, dass er alle Juden
als Fremdkörper empfand – Deutschsein und Judesein schloss sich
seiner Meinung nach aus. Das Religiöse vor allem wurde als
Verrat und verdächtig eingestuft. In einer aufgeklärten Zeit
schien es keinen Platz mehr zu haben und das Jüdische galt als
unvereinbar mit der Moderne sowie als Gefahr für die Werte der
liberalen Gesellschaft – so nachzulesen in den Originaltexten
der Debatte etwa in der Ausgabe von Walter Boehlich. Der 50
Jahre später bei den Nazis Karriere machen sollende Satz „Die
Juden seien unser Unglück“ stammt aus dieser Zeit – von
Treitschke. Die Markierung der Juden als „anders“ ist bis heute
geblieben.
Natürlich gab es
konservative Juden, die sich traditionell kleideten und somit
auch in der Öffentlichkeit als solche sichtbar waren. Es gab
Gemeindespaltungen in liberalere und konservativere Zweige, die
die Reaktionen der jüdischen Mitbürger auf die immer wieder
aufkeimenden Diskussionen um ihre Andersartigkeit und ihre
angebliche Gefährlichkeit wiederspiegeln. Dennoch hat wohl kaum
jemand wirklich daran geglaubt, dass passieren könnte, was viel
später passiert ist – auch nicht die Juden, die sich durchaus an
der öffentlichen Diskussion beteiligten und mit ihren defensiven
bis agressiven Argumentationen teils glücklich teils unglücklich
die Debatte weiter nährten. So fehlte ihnen als Betroffene oft
der Überblick über die Gesamtsituation und sie argumentierten
aus ihrem eigenen jeweiligen Erfahrungsbereich heraus. Dabei
wurde Vergehen eingeräumt oder geleugnet, idealisiert und
gewarnt bis hin zum Hochlob auf die eigene Abkehr vom Glauben.
Alles in allem eine unwürdige und schließlich unglaubwürdige
Debatte, die der Gesellschaft auf jeden Fall geschadet - weil
gespalten - hat. Der Fehler lag aber im System, nicht etwa bei
den Juden: die Thematisierung des Jüdischseins als Problematik,
als etwas, das dem Deutschsein widerspräche – also das Abwägen
von religiöser und nationaler Kategorie. Darin lag der schwere
Kategorienfehler, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts nun wieder
passiert.
Parallelgesellschaften gibt es viele: Jugendliche, Chinesen,
Türken, die High-Society-Ghettos in Berlin uvm. Diskutiert wird
aber nun über den Islam, weil es Terroristen gibt, die ihre
Taten mit dem Islam begründen. Statt sie für ihren Frevel zu
verurteilen und gemeinsam gegen ungünstige Entwicklungen
vorzugehen, die von der asymmetrischen Weltpolitik genährt
werden, gehen wir nun verbal in Talkshows, Zeitungen,
Bundestagsdebatten und schließlich auch noch auf Parteitagen
einseitig auf die Muslime los und homogenisieren aktiv die sehr
heterogene Gruppe. Die vergiftete Stimmung wird in Kauf
genommen, das ungünstige Wechselspiel unbewusst vorangetrieben.
Denn wer würde sich von einer solchen „Leitkultur“ nicht
zurückziehen, wenn er noch ein bisschen Stolz im Leibe hat? Und
wer verliert nicht den Mut angesichts der Glaubwürdigkeitskrise
des Dialogs und seiner Protagonisten? Hoffentlich geht uns allen
dabei nicht die Erkenntnis verloren, dass wir doch eigentlich
ein gemeinsames Anliegen haben.
Ein Problem
öffentlicher Diskurse, mit dessen Lösung wir beginnen können,
wäre die Frage: Wie kann man Missstände benennen, ohne damit in
die Generalisierungsfalle zu tappen? Denn weder die jüdische
Kultur zeichnet sich durch Einfluss und Geld, noch die
islamische durch Unterdrückung und Bin Laden noch die
„christlich-abendländische“ durch Kinderpornos und
Heimatschutzgesetze aus, wie uns eine krisenorientierte
Berichterstattung dies immer schnell glauben machen kann.
Politik und Medien tragen hier eine besondere Verantwortung –
aber auch die Wissenschaft, wie das Beispiel von Treitschkes
belegt.
sschiffer(at)arcor.de
Medienpädagogik
3.12.2004
- Sabine Schiffers Webbibliografie -
2004
- "Aufklärung oder Panikmache? Beitrag zur Debatte - Der Mord an
Theo van Gogh und die Gefahr von Kollektivwahrnehmungen",
18.11.2004, www.islamische-zeitung.de
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"Böse sind
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November 2004
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"High Noon - Die USA und ihr
WildWest-Mythos", Oktober 2004
- "Die Darstellung des Islams in der Presse. Sprache, Bilder,
Suggestionen. Eine Auswahl von Techniken und Beispielen."
Inaugural-Dissertation in der Philosophischen Fakultät II
(Sprach- und Literaturwissenschaften) der
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 2004
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2003
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"Was ist real in der
Berichterstattung? Über (rassistische) Traditionen in der
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"Wer hat Ahmed Shah Massud
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"Humanistan all over the
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2002
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"Antisemitismus. Zur
Bestimmung eines diffusen Begriffs",
ca. Dezember 2002
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"Der Indianer als Fanatiker.
Erneuter Anschlag in Texas ließ die Hoffnung auf eine friedliche
Lösung des WildWest-Konflikts sinken. Essay / Ein fiktiver
Zeitungsbericht", Mai 2002
-
"Der Indianer als Terrorist.
Essay", April 2002
Quelle
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