Die
Antwort der Universalisten auf Israels zweifelhafte
Antisemitismus-Definition
Die
Jerusalemer Erklärung internationaler Wissenschaftler
unterscheidet klar und unmissverständlich zwischen
Judenfeindschaft und legitimer Kritik an Israel
Arn
Strohmeyer -
28.03.2021
Es war und
ist schwer zu ertragen: Israels mächtiger Propagandaapparat hat
seit vielen Jahren versucht, der internationalen Öffentlichkeit
einzubläuen, dass Unrecht Recht und das Behaupten des Gegenteils
eben Antisemitismus sei. Konkret heißt das: Wer Israels
verbrecherische Politik gegenüber den Palästinensern nicht
gutheißt, sondern sie mit Berufung auf Völkerrecht und
Menschenrechte kritisiert, muss mit der schlimmsten Diffamierung
rechnen, die es seit dem Mega-Verbrechen an Juden (Holocaust)
gibt: das Anprangern als Antisemit; man wird – Gipfel des
infamen Rufmords – mit Nazischergen auf eine Stufe gestellt.
Israel
fordert also auf diese Weise nicht mehr und nicht weniger, dass
auch die nicht-jüdische Welt außerhalb Israels sich die
zweifelhaften zionistischen Rechts- und Moralvorstellungen zu
eigen machen soll. Diese hat die frühere israelische
Justizministerin Ajelet Shaked einmal so formuliert: Den
Zionismus interessiert das internationale Recht nicht, er hat
seine eigenes Rechts- und Moralsystem. Nun ist diese Art des
Antisemitismus-Vorwurfs keineswegs neu, weshalb der Begriff
„neuer“ Antisemitismus auch gar nicht zutrifft. Er ist eine
schon sehr lange ausgeübte zionistische Praxis.
Der deutsche
Soziologe Walter Hollstein schrieb in seinem 1972 erschienenen
Buch Keine Frieden um Israel. Zur Sozialgeschichte des
Palästina-Konflikts, dass antizionistische Positionen, die
weder die Israelis noch den Staat Israel prinzipiell in Frage
stellten, sondern nur die Auswirkungen des Zionismus
kritisierten, aus zionistischer Sicht antisemitisch seien. Auch
das Benennen historischer Tatsachen – etwa der Nakba – sei in
diesem Sinn antisemitisch. Hollstein fügt hinzu, dass Israel
sich mit solcherart Vorwürfen natürlich vor Kritik an seiner
Unrechtspolitik schützen wolle.
Israel hat
diese Art des propagandistischen Vorgehens sehr erfolgreich
weiter entwickelt – der Feldzug gegen BDS ist dafür ein gutes
Beispiel. Viele Staaten und internationale Organisationen –
Deutschland an der Spitze – haben dem israelischen Druck
nachgegeben und sind willig den israelischen Vorgaben gefolgt –
wider jede Vernunft und Moral. Denn es war von Anfang an klar,
dass Israel einen hier speziell auf seine Bedürfnisse
zugestutzten Antisemitismus-Begriff benutzt – also einen
funktionalen Antisemitismus-Begriff: Antisemitismus ist so
gesehen das, was die israelische politische Führung dafür
ausgibt und was ihren Interessen dient, so der israelische
Holocaustforscher Daniel Blatman.
Die
israelische Politik tut alles, um diesen Antisemitismus-Begriff
auch international durchzusetzen. Das Ergebnis war u.a. die
IHRA-Antisemitismus-Definition, einer Organisation, die von
israelischen Vertretern dominiert wurde und wird und die ganz
deutlich die Interessen Israels in den Vordergrund stellt.
Daniel Blatman merkt dazu an:
Interessant
und aufschlussreich ist, wie der IHRA-Text zustande gekommen
ist. Israels Einfluss in der IHRA-Organisation sei sehr stark,
denn es sei dort führendes Mitglied, und der Holocaust-Forscher
Yehuda Bauer sei ihr erster akademischer Berater. Zudem habe
Israels Ministerpräsident Netanjahu die Organisation wegen ihrer
Rolle im Kampf gegen BDS geradezu verherrlicht. Blatman nennt
IHRA eine „unnötige und zerstörerische Organisation.“ Man muss
daraus schließen, dass Israel sich sehr geschickt gegen Kritik
an seiner so umstrittenen Politik abgesichert hat: einmal durch
den funktionalen Antisemitismus-Begriff, wie Blatman
dargelegt hat, und dann noch durch die IHRA-Definition.
Der von der
IHRA-Plenarversammlung 1956 in Bukarest ursprünglich
beschlossene Text wurde vom Berliner IHRA-Büro durch „Beispiele“
noch erweitert, die den „Israel-bezogenen Antisemitismus“
besonders betonen: etwa durch die Formulierung, dass das
Absprechen des Rechts auf Selbstbestimmung des jüdischen Volkes
antisemitisch sei. An diesem Punkt muss man fragen: Kann es
Selbstbestimmung auf Kosten eines anderen Volkes (der
Palästinenser) geben? Von der völkerrechtlich abgesicherten
Selbstbestimmung dieses Volkes, auf dessen Boden Israel
größtenteils lebt, ist in den Beispielen gar keine Rede.
Zweifelhaft
ist auch der Satz: antisemitisch sei das Anwenden von doppelten
Standards durch das Einfordern eines Verhaltens, wie es von
keiner anderen demokratischen Nation erwartet und gefordert
werde. Das wirft die Frage auf: Ist der israelische Staat, in
dessen besetzten Gebieten fünf Millionen Menschen ohne
bürgerliche und politische Rechte leben müssen und in dessen
Kernland die Palästinenser (ein Fünftel der Bevölkerung) per
Gesetz Bürger zweiter Klasse sind, wirklich eine Demokratie, an
die man ganz normale Maßstäbe anlegen kann?
Die Kritik an
der IHRA-Definition blieb denn auch nichts aus. Wissenschaftler
halten sie für inkonsistent, widersprüchlich und zu vage
formuliert. Die Kerndefinition des Antisemitismus hebe einige
antisemitische Phänomene und Analysen übermäßig hervor, spare
andere wesentliche aber weitgehend aus. Außerdem sei diese
Definition ein „Einfallstor für ihre politische
Instrumentalisierung, etwa um gegnerische Positionen im
Nahost-Konflikt durch den Vorwurf des Antisemitismus zu
diskreditieren.“ (Peter Ullrich) Die israelische Propaganda und
die Anhänger Israels glaubten nun aber, eine „Rechtsgrundlage“
für ihre Diffamierungskampagnen zu haben. Die Folge waren eine
massive Einengung der Meinungs-, Presse-, Informations- und
Wissenschaftsfreiheit in den westlichen Staaten und nicht
zuletzt eine völlige Vergiftung des politischen Klimas.
Gegen diese
Entwicklung geht nun die Jerusalemer Erklärung zum
Antisemitismus an, die jüdische, israelische und nicht-jüdische
Wissenschaftler erstellt haben. Sie arbeiten auf den Gebieten
Holocaust-, Israel-, Palästina- sowie Nahost-Studien. Ihr Ziel
ist es erstens, den Kampf gegen den Antisemitismus zu
verstärken, indem geklärt wird, was er ist und wie er sich
manifestiert; zweitens einen Raum für eine offene Debatte über
die leidige Frage der Zukunft Israels/ Palästinas zu schützen.
Dies ist ein universalistischer Ansatz, der die Menschenrechte
und das Völkerrecht anerkennt – im Gegensatz zur
IHRA-Definition, die mit ihren Beispielen eher die
partikularistisch-nationalistisch-zionistischen Interessen
Israels vertritt. Die Jerusalemer Erklärung unterscheidet zudem
zwischen Judentum und Israel und stellt die israelischen Juden
nicht als Opfer und die Palästinenser als die Aggressoren dar.
Die Erklärung
definiert Antisemitismus so: „Antisemitismus ist
Diskriminierung, Vorurteile, Feindseligkeit oder Gewalt gegen
Juden als Juden (oder jüdische Institutionen als Juden).“ In der
IHRA-Definition heißt es: „„Antisemitismus
ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden und Jüdinnen, die sich
als Hass gegenüber Juden und Jüdinnen ausdrücken kann. Der
Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische und
nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen
jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
Die
Jerusalemer Erklärung sagt u. a. klipp und klar, dass die
Unterstützung der palästinensischen Forderung nach Gerechtigkeit
und der uneingeschränkten Gewährung ihrer politischen,
nationalen, bürgerlichen und Menschenrechte, wie sie im
Völkerrecht verankert sind, nicht antisemitisch ist. Auch Kritik
oder Ablehnung des Zionismus als Form des Nationalismus und die
Argumentation für eine Vielzahl von Verfassungsregelungen für
Juden und Palästinenser in der Region zwischen Jordan und dem
Mittelmeer sind nicht antisemitisch. Auch die Forderung nach
Gleichheit für alle Bürger „zwischen Fluss und Meer“ – egal in
welcher staatlichen Form sie realisiert werden sollte, ist nicht
antisemitisch. Zudem fällt auch Kritik an Israel als Staat,
seinen Institutionen und Gründungsprinzipien und an seiner
Politik im In- sowie Ausland sowie auch der Hinweis auf
Rassendiskriminierung durch Israel nicht unter die Kategorie
Antisemitismus. Das gilt auch für die BDS-Bewegung, die als
alltägliche, gewaltfreie Form des politischen Protestes gegen
Staaten bezeichnet wird.
Die
Jerusalemer Erklärung ist ein großer Fortschritt in der
Antisemitismus- und Nahost-Debatte, weil sie die
Auseinandersetzung mit den universalistischen Prinzipien von
Vernunft und Aufklärung angeht. Außerdem stellt sie Israels
Monopol in Frage, allein und sehr einseitig darüber bestimmen zu
können, was Antisemitismus ist. Es wird mit dieser Erklärung
schwieriger, ja unmöglich, die Vertreter von Menschenrechten und
Völkerrecht, die für die Rechte der Palästinenser eintreten, an
den Antisemitismus-Pranger zu stellen. Die Jerusalemer
Erklärung stellt Recht und Moral wieder vom Kopf auf die
Füße. 28.03.2021
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