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Haben nur Palästinenser „Blut an den Händen“?
Die Empörung in Israel über die Freilassung von Gefangenen
ist unaufrichtig und entstellt die Tatsachen
Arn Strohmeyer
In
Israel gibt es große Empörung über die Freilassung von 26
palästinensischen Gefangenen, die wegen Mordes viele Jahre
in israelischen Gefängnissen gesessen haben. Vor allem die
Angehörigen der Opfer üben scharfe Kritik an der Maßnahme
der israelischen Regierung, die im Zusammenhang mit den
sogenannten Friedensverhandlungen steht, die zur Zeit
laufen. Die Palästinenser hatten die Freilassung gefordert,
wohl um das Gesicht zu wahren, dass sie an Verhandlungen
teilnehmen, die ihnen von den USA aufgenötigt worden sind
(man kann wohl auch undiplomatisch von Erpressung sprechen)
und deren Erfolgsaussichten gleich Null sind. Israel
konterkarierte sein kleines Zugeständnis auch gleich wieder
mit Ankündigungen, neue Wohneinheiten in den Siedlungen auf
palästinensischem Land zu bauen. Die israelische Zeitung „Haaretz“
schrieb dazu: „Die Regierung Netanjahu macht in Sachen
Frieden einen Schritt vor und drei zurück.“
Die Angehörigen der Opfer der zur Freilassung vorgesehenen
Gefangenen gingen in Jerusalem unterdessen auf die Straße,
um ihren Protest gegen die Maßnahme lauthals zum Ausdruck zu
bringen. Natürlich kam auch in den Medien sofort das alte
Argument wieder zur Anwendung: Diese Männer hätten „Blut an
den Händen“. Sie hätten gemordet und würden wieder morden.
Man kann den Schmerz dieser Menschen über den Verlust von
Angehörigen verstehen. Aber gibt es Verluste nur auf
israelischer Seite? Haben nur Palästinenser „Blut an den
Händen“?
Gerade hat die amerikanische Organisation KNEW.org eine
Statistik über Opfer im Nahost-Konflikt veröffentlicht. Die
Zahlen sind auch von anderer Seite bestätigt und sprechen
nicht gerade für Israel. Danach sind im Zeitraum vom 29.
September 2000 bis heute 1104 Israelis von Palästinensern
getötet worden und mindestens 6829 Palästinenser von
Israelis. Auch bei getöteten Kindern sind die Zahlen
grausam. Im selben Zeitraum töteten die Israelis 1519
palästinensische Kinder, die Palästinenser 129 israelische
Kinder. Verletzt wurden 9104 Israelis und 50 742
Palästinenser. Israel hält zur Zeit 4 900 Palästinenser
gefangen, die Palästinenser aber keinen einzigen Israeli.
Seit 1967 haben die Israelis 27 000 palästinensische Häuser
zerstört, kein einziges israelisches Haus kam in dieser Zeit
durch Palästinenser zu Schaden. Fügt man den Zahlen noch das
Faktum hinzu, dass Israel auch palästinensische Kinder
verhaftet und lange in seinen Gefängnissen festhält (zur
Zeit etwa 300), sieht man, wie gnadenlos der jüdische Staat
mit den von ihm besetzten und unterdrückten Menschen umgeht.
Für Völkerrecht und Menschenrechte haben die in Israel
Verantwortlichen nur Verachtung übrig.
Der frühere Präsident des israelischen Parlaments (Knesset),
Abraham Burg, beschreibt den Grund dafür so: „Warum sind die
Israelis darüber so verbittert? Warum glauben wir, dass die
Welt heuchlerisch ist und uns nicht versteht? Sie verhält
sich nach den Normen [des Völkerrechts und der
Menschenrechte], die auch wir einst gefordert haben. Der
Grund für die jetzige Ablehnung mag sein, dass die Welt
unsere Forderung nun auch an uns richtet, auf uns
reflektiert. Und das ist unbequem. Nachdem wir gerade die
Macht und die Freude, sie zu nutzen, entdeckt haben, nachdem
wir gerade festgestellt haben, wie süß Rache schmeckt, wird
die Welt jüdisch, reumütig und redlich. Das ist ungerecht.
Wir möchten gern noch ein bisschen länger rüpelhaft bleiben.
Das steht uns zu. Wir haben es uns in der Shoah verdient.“
Haben Israelis nach all den Kriegen, die sie im Nahen Osten
angezettelt haben und den Massakern, die es dabei gegeben
hat, von denen das von Sabra und Schatila 1982 in Beirut mit
tausenden Toten vermutlich das schlimmste war, kein „Blut an
den Händen“? Den Gaza-Krieg von 2008/09 hat der
amerikanisch-jüdische Historiker Norman Finkelstein als
schreckliches „Hightec-Massaker“ bezeichnet – ausgeführt an
einer wehrlosen Zivilbevölkerung, die keine
Fluchtmöglichkeit hatte. Die jüdische Historikerin Esther
Benbassa formulierte unter dem Schock dieses Krieges die
Anklage: „Mit dieser Offensive wurde die Scheidelinie
überschritten zwischen dem, was ein Jude mit seinem
geschichtlichen Hintergrund zulassen kann und dem, was er
zurückweisen muss, wenn er möchte, dass sein Jude-Sein eine
von Humanität und somit von Universalität geprägte Vision
der Welt bleibt.“
Man lese die Berichte israelischer
Menschenrechtsorganisationen – etwa von „Betselem“ oder der
Organisation ehemaliger Soldaten „Breaking the Silence - “
über das Vorgehen der israelischen Armee in den besetzten
Gebieten, dann weiß man, wie viel Blut israelische Soldaten
an den Händen haben, aber sie werden dafür nie zur
Verantwortung gezogen. Der Vorsitzende von „Breaking the
Silence“, Jehuda Shaul, hat in einem Interview bekannt: „Ich
habe in meiner Militärzeit an schlimmen Aktionen
teilgenommen. Ich müsste Jahrzehnte Gefängnis dafür
bekommen, was ich getan habe.“ Einer, der es ausspricht für
viele, dass Israelis viel Blut an den Händen haben.
Weinen und trauern Palästinenser nicht um ihre getöteten
Angehörigen? Die meisten Israels blenden einfach aus, dass
auch die „Anderen“ leiden, weil sie fest davon überzeugt
sind, dass sie selbst das „Gute“ verkörpern, die Anderen
aber das „Böse“ schlechthin. Die Palästinenser werden
vollständig dehumanisiert. Die israelische
Psychoanalytikerin Ruchama Morton hat dieses Phänomen im
Zusammenhang mit der Mauer, die die Israelis zur Trennung
von den Palästinensern gebaut haben, so beschrieben: „Von
einer psychologischen Warte aus ermöglicht diese Sichtblende
es den jüdischen Israelis, das Leid und die Menschlichkeit
auf der anderen Seite zu vergessen.“ Weiter schreibt sie,
dass die meisten Israelis die äußeren wie die inneren
Aspekte des guten vom bösen Selbst abspalten und so die
ungeliebten Teile des eigenen Selbst auf die „Anderen“, die
Palästinenser übertragen. Dann kann man die projizierten
Teile und Eigenschaften verachten, die ja nur den „Anderen“
angehören. Die Mauer unterstützt diese Übertragung.
Über die psychologische Funktion dieses Bauwerks schreibt
sie: „Sie ist hässlich, denn sie soll die Illusion stützen,
auf der anderen Seite lebe ein böses, ein hässliches Monster
und keine normalen Menschen. Die palästinensische Existenz
jenseits der Mauer gilt als minderwertig, hässlich,
schmutzig, gewalttätig und gefährlich.“ Durch diese
Abschottung und die Verweigerung des Blicks auf die andere
Seite stumpfen die Israelis aber auch selbst ab, denn sie
spalten ja einen Teil ihrer eigenen Psyche ab, die sie nicht
mehr wahrnehmen. Das Getto kommt so wieder und mauert die
Israelis ein.
Nur Monster und Ungeheuer können – so die Vorstellung der
meisten Israelis - „Blut an den Händen“ haben und natürlich
auch keine Gefühle bei eigenen Verlusten aufbringen, so muss
man die Sätze Ruchama Mortons verstehen. Wie Recht sie hat,
drückt sich sogar in der Sprache der israelischen Medien
aus. Der israelische Journalist Jonathan Mendel hat sie
untersucht und stellte fest, wie sehr diese
Propaganda-Sprache mit euphemistischen Weichspülern arbeitet
und so israelisches Vorgehen verharmlost. Palästinenser
werden nie von israelischen Soldaten getötet, sie „finden
den Tod“, als hätten sie ihn gesucht. Nehmen Palästinenser
einen Israeli gefangen, ist das eine „Entführung“. Holen
israelische Soldaten nachts Palästinenser aus dem Bett und
führen sie ab, ist das eine „Verhaftung“, obwohl sie völlig
willkürlich und ohne Haftbefehl geschieht. Wenn die
israelische Armee überfallartige Aktionen in den besetzten
Gebieten unternimmt, handelt es sich um „Akte der
Selbstverteidigung“. Palästinenser verteidigen sich aber nie
selbst, sie begehen „terroristische Aktionen“ usw.
Zu einer solchen Sprache hat der israelische Schriftsteller
David Grossmann bemerkt: „Ein Staat in Aufruhr erfindet ein
neues Vokabular für sich. Israel ist nicht der erste Staat,
der das tut, aber es ist empörend, Zeuge der allmählichen
Entstellung zu werden. Nach und nach wird eine neue Gattung
rekrutierter, betrügerischer Worte entwickelt; Worte, die
ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben, Worte, die die
Realität nicht beschreiben, sondern zu kaschieren suchen.“
Hierhin gehört auch der furchtbare Vorwurf vom „Blut an den
Händen“. Israels Siedlerkolonialismus hat dafür gesorgt,
dass in Palästina seit Jahrzehnten Gewalt und Krieg
herrschen, was zwangsweise dazu geführt hat, dass beide
Seiten „Blut an den Händen“ haben: die einen, weil sie
erobern, Land rauben, vertreiben und unterdrücken, die
anderen, weil sie sich dagegen wehren. Nur ein wirklicher
Frieden kann diese unendliche Kette des Mordens beenden und
das Blut beider Seiten wieder von den Händen waschen. Aber
die Chancen dafür stehen nicht gut.
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