„Warum
provoziert Ihr Israel immer so?“
Eine Antwort an die Mitglieder der Bremer Jüdischen
Gemeinde, die gegen die Veranstaltung des israelischen
Friedensaktivisten Reuven Moskowitz demonstriert haben
Arn Strohmeyer
Anlässlich
einer Veranstaltung mit dem israelischen
Friedensaktivisten Reuven Moskovitz im Überseemuseum,
die mehrere Bremer Nahost- und Friedensgruppen
organisiert hatten, demonstrierten Mitglieder der
jüdischen Gemeinde gegen den jüdischen Gast aus Israel.
Sie stehen fest zu Israel und der Politik dieses
Staates, wie ihre Transparente und Schilder, die sie
sich umgehängt hatten, belegten. Auf das Schild „I like
Israel“ antwortete Moskowitz mit der Gegenparole „I live
in Israel“, womit er wohl sagen wollte, dass er das Land
und die Zustände dort etwas besser kennt als die nach
Bremen aus Russland ausgewanderten Neubürger.
Bild links - Reuven Moskovitz spricht mit
den Demonstranten
Man darf
zum besseren Verständnis der Demonstranten in diesem
Zusammenhang an eine Passage aus dem Buch Die Angst
vor dem Frieden. Das israelische Dilemma (Aufbau
Verlag Berlin) des israelischen Historikers Moshe
Zimmermann von der Universität Jerusalem erinnern, in
dem er sich ausführlich über die enge Verbindung Israels
mit den jüdischen Gemeinden in der Diaspora, speziell
aber auch in Deutschland äußert. Er schreibt: „Die
Repräsentanten jüdischer Gemeinden in anderen Ländern,
unter anderem in Deutschland, stellen sich nahezu
automatisch auf die Seite der israelischen Politik. Sie
tun das selbst dann, wenn die öffentliche Meinung in dem
Land, in dem sie leben, der israelischen Politik in dem
betreffenden Punkt eher reserviert oder abgeneigt
gegenübersteht und dazu selbst in Israel kritische
Stimmen laut werden, wie zum Beispiel während des
zweiten Libanonkrieges oder des Gaza-Krieges.
Abweichende Stimmen innerhalb der jüdischen Gemeinden
hält die israelische Regierung in der Regel nicht für
legitim, sie werden vielmehr als verräterischer
Dolchstoß gegen die israelische, also jüdische Sache
bewertet.“
Und
weiter schreibt Zimmermann: „Dieser Logik entsprechend
ist eine indifferente oder ablehnende Haltung gegenüber
der israelischen Politik mit einem Verzicht auf die
Sicherheit Israels oder sogar mit einem Verrat am
Judentum gleichzusetzen. Hier sind die Diasporajuden in
eine Geiselsituation geraten, die bisweilen, wie im Fall
des Anschlags auf das Kulturzentrum der jüdischen
Gemeinde in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires
1994, mit verheerenden Folgen einhergeht. Das ist ein
Umstand, den die israelische Regierung wie auch die
jüdischen Gemeinden immer wieder zu verdrängen suchen.“
Zimmermann geht dann auf offizielle israelische Berichte
ein, die behaupten, dass heute besonders Muslime und
Linke den Antisemitismus befördern, obwohl selbst das
israelische Außenministerium zugeben musste, dass
antisemitische Vorfälle sich bei und nach kriegerischen
Aktionen Israels besonders häufen. Zimmermann: „Die
[israelischen] Berichte lassen auch erkennen, dass der
Konflikt, in den Israel verwickelt ist, für sie [die
Mitglieder der jüdischen Gemeinden in der Diaspora] zum
Risikofaktor geworden ist. Mit anderen Worten – die
Diasporajuden sind die Geiseln des Konflikts und der
israelischen Politik, egal ob die Hauptschuld beim
europäischen oder nahöstlichen Islam, bei den gegenüber
Israel unfreundlich gesinnten Medien oder bei der
Politik Israels selbst gesucht wird. Da aber die
Sprecher der jüdischen Gemeinden im Ausland diesen Fakt
nicht zugeben, kann man in Stellungnahmen aus Israel die
Angst vor dem Frieden mit der Angst vor dem
Antisemitismus verknüpfen. Dadurch wird einerseits das
Einvernehmen zwischen Geiseln, sprich: Diasporajuden und
Geiselnehmer, also der israelischen Regierungspolitik,
aufrechterhalten, andererseits aber auch die
Auseinandersetzung mit den internen Geiselnehmern der
israelischen Gesellschaft vermieden oder zumindest
vorläufig verdrängt.“ (Seite 121f und Seite 139)
Bei der
Mahnwache vor dem Überseemuseum trugen die Mitglieder
der jüdischen Gemeinde Schilder, deren Aufschriften
Zimmermanns These belegten: Diese Menschen stehen fest
zu Israel, aber sie nehmen die Realitäten des Konflikts
mit den Palästinensern überhaupt nicht zur Kenntnis.
Auch das menschliche Leid, das die israelische
Besatzungspolitik und der ständige Landraub fremden
Bodens bewirkt, berührt sie in keinster Weise. Sie sehen
auch nicht, wie gefährlich Israels Politik für die
Zukunft dieses Staates ist. Deshalb soll hier zu den
Aufschriften auf ihren Transparenten Stellung genommen
werden.
Erstes
Schild: 1,5 Millionen Araber wohnen in Israel in Frieden
mit Juden. Warum wollt Ihr darüber nicht berichten?
Es gibt
überhaupt keinen Grund auf unserer Seite, zu diesem
Thema zu schweigen. Den Palästinensern, die in Israel
leben, geht es sicher vom Lebensstandard her besser als
den Palästinensern im besetzten Westjordanland, die
hinter der Mauer eingeschlossen sind, oder den
Palästinensern im von Israel völlig abgeriegelten
Gazastreifen. In Gaza herrschen Hunger und Elend. Wenn
es den Palästinensern in Israel (20 Prozent der
Bevölkerung) aber besser geht, heißt das nicht, dass sie
denselben Lebensstandard wie Israelis haben und die
dieselben Rechte genießen. Israel hat bis heute keine
Verfassung, aber in der Unabhängigkeitserklärung von
1948, die als Grundgesetz gilt, heißt es, dass alle dort
lebenden Menschen vor dem Gesetz gleich sind – egal
welchem Geschlecht, welcher Rasse oder Religion sie
angehören. Die in Israel lebenden Palästinenser sind
aber in vieler Hinsicht eben nicht gleichberechtigt. Sie
sind Bürger zweiter Klasse, sie haben nicht dieselben
Rechte wie Israelis. Was ja auch darin zum Ausdruck
kommt, dass Israel ein ethnisch exklusiver „jüdischer“
Staat sein will, und Palästinenser sind eben keine
jüdischen Bürger.
Die
Benachteiligung dieser Bevölkerungsgruppe fing gleich
nach 1948 an, als die Palästinenser, die man nicht
vertrieben hatte und die noch in Israel lebten, unter
Militärrecht stellte (bis 1965), wodurch sie aller
Grundrechte beraubt wurden. Ihr Vermögen und ihr Land
wurden bis auf kleine Reste vollständig enteignet.
Palästinensische Israelis dürfen auch heute noch kein
Land kaufen, d.h. sie sind vom Grundstücksmarkt
ausgeschlossen. Sie bekommen auch von den israelischen
Baubehörden so gut wie keine Baugenehmigungen, sodass
sie schwarz bauen müssen. Diese Häuser werden dann von
der israelischen Armee zumeist wieder abgerissen oder
gesprengt. Während in Israel überall gebaut wird, können
sich die Siedlungen und Städte der Palästinenser nicht
weiter ausdehnen, obwohl auch deren Bevölkerung wächst.
Die
Diskriminierung taucht in vielerlei Gestalt auf. Jeder
Jude kann nach Israel einwandern und bekommt die
Staatsbürgerschaft. Palästinenser, die vertrieben wurden
und alles verloren haben, dürfen nicht in ihre Heimat
zurückkehren. Auch Palästinenser, die in Israel geboren
wurden, aber längere Zeit im Ausland gelebt haben,
dürfen nicht zurückkehren. Außerdem: Heiratet ein(e)
Palästinenser/in einen palästinensischen Partner/in aus
dem Westjordanland, ist eine Familienzusammenführung
nicht möglich. Sie können nicht in Israel, sondern nur
im Westjordanland leben.
Im
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich ist
die Diskriminierung der Palästinenser in Israel
eklatant. Für die Infrastruktur ihrer Städte und Dörfer
erhalten sie viel weniger Geld als jüdische Gemeinden.
Dasselbe gilt für Schulen. Jüdische Schulen sind viel
besser ausgestattet. Die Palästinenser müssen – das
schreiben die israelischen Gesetze vor – ihre
Geschichte, Sprache und Kultur verleugnen. Ein Gesetz
stellt die öffentliche Erinnerung an die Nakba
(Vertreibung der Palästinenser 1948) unter Strafe. Die
Arbeitslosigkeit der Palästinenser – vor allem von
Akademikern – ist wesentlich höher als die der Israelis.
Bei Straftaten erhalten sie vor Gericht für dasselbe
Vergehen höhere Strafen als Israelis. Es ist völlig
unmöglich, dass ein Palästinenser in eine jüdische
Siedlung ziehen kann. Dort entscheidet jeweils ein
Ausschuss, wer zuziehen darf. Palästinenser haben keine
Chance. Die Palästinenser in Israel dürfen zwar wählen
und gewählt werden, aber sie sind politisch völlig
einflusslos, weil in der Knesset alle wichtigen
Entscheidungen mit jüdischer Mehrheit fallen müssen.
Zweites
Schild: Schluss mit der pauschalen und einseitigen gegen
Israel gerichteten Kritik!
Demonstrationen und Proteste gegen die israelische
Politik sind völlig legitim und keine Provokationen,
solange Israel eine Besatzung über ein anderes Volk
ausübt und diesem Volk sein Land für die eigene
Besiedlung raubt und die Gründung eines Staates
verhindert. Die israelische Politik verstößt permanent
gegen das Völkerrecht, die Menschenrechtscharta und
Resolutionen der UNO. Die Palästinenser haben genauso
ein Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung wie Israel.
Dafür einzutreten, ist völlig legitim. Was ist das für
ein Demokratie-Verständnis, das bestreiten zu wollen!
Drittes
Schild: Warum verschweigt Ihr Folter und Misshandlungen
in palästinensischen Gefängnissen?
Darüber
wird keineswegs geschwiegen.
Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International
haben immer wieder auf diese Missstände hingewiesen und
Druck auf die Verantwortlichen ausgeübt, die Zustände zu
ändern. Aber die Palästinenser besitzen eben wegen der
israelischen Besetzung keinen eigenen souveränen Staat.
Sie sind nach den Oslo-Verträgen verpflichtet, im
Auftrag der Israelis für Ordnung und Sicherheit zu
sorgen. Das heißt: Israel und die Palästinenser arbeiten
im Bereich Sicherheit und Ordnung sehr eng zusammen. Man
kann sagen, dass die palästinensische Polizei nichts
anders als eine israelische Hilfstruppe ist. Insofern
sind die Israelis, die die Macht in den besetzten
Gebieten haben, unmittelbar an den Missständen in den
Gefängnissen der Palästinenser beteiligt.
Dass in
Israels Gefängnissen zur Zeit etwa 4000 palästinensische
Gefangene unter furchtbaren Bedingungen sitzen, ist
bekannt (es waren früher bis zu 10 000) – darunter auch
300 – 400 Kinder. In Israel ist Folter offiziell
zugelassen. Die Gefangenen sitzen oft in
Administrativhaft, das heißt sie werden oft Jahre lang
ohne Gerichtsurteil festgehalten – auch Kinder. Israel
beansprucht, ein Rechtsstaat zu sein – das gilt aber
offenbar nur für Juden.
Viertes
Schild: Schluss mit der einseitigen und feindseligen
Berichterstattung in Bezug auf Israel!
Dieser
Vorwurf ist völlig unberechtigt. In Deutschland herrscht
Pressefreiheit, das heißt die einzelnen Medien sind
unabhängig und frei in ihrer Berichterstattung und
Kommentierung. Außerdem gilt, was in Antwort 2 gesagt
worden ist: Solange Israel durch seine Besatzungspolitik
permanent das Völkerrecht bricht, die
Menschenrechtscharta verletzt und gegen UNO-Resolutionen
verstößt, ist die Kritik an Israels Politik völlig
berechtigt und weder einseitig noch feindselig. Die
Kritik an Israel würde sofort aufhören, wenn Israel das
Völker- und die Menschenrechte anerkennen und eine
gerechte Lösung für die Palästinenser zulassen würde.
Eine solche Lösung kann nur von Israel als der stärkeren
Seite kommen: Israel ist politisch, wirtschaftlich und
militärisch stark, besitzt das Land und hat Amerika und
den Westen als Verbündete hinter sich. Die Palästinenser
haben dagegen nichts: keinen Staat, kein Land, keine
Armee und ihre Wirtschaft wird durch die Besatzung in
jeder Weise an der Entfaltung gehindert.
Wir
Deutschen können aus den Verbrechen des
Nationalsozialismus nur eins lernen: uns permanent und
überall für die Einhaltung der Menschenrechte
einzusetzen – wo auch immer sie verletzt werden. Das ist
die beste Wiedergutmachung, die man sich vorstellen
kann. Hätte es zu Beginn der dreißiger Jahre des
vergangenen Jahrhunderts mehr Menschen in Deutschland
gegeben, die den Mut gehabt hätten, sich für die
Menschenrechte einzusetzen, wäre Europa und besonders
den Juden viel Leid erspart geblieben. Dass heute
Personen oder Gruppen, die sich – auch im Blick auf
Israel – für die Einhaltung der Menschenrechte
einsetzen, plötzlich als „Antisemiten“ diffamiert
werden, ist eine Perversion des Denkens und eine für die
westlichen Demokratien sehr gefährliche Entwicklung.
Gerade Personen, die den Holocaust überlebt haben,
müssten eigentlich für diese Position Verständnis haben.
Fünftes
Schild: Habt Ihr jemals über die Zustände in
palästinensischen Gefängnissen berichtet?
Siehe die
Antwort auf das Schild 3.
Sechstes
Schild: Wer bringt den palästinensischen Jugendlichen
den Judenhass bei, Steine und Molotow-Cocktails
kamerawirksam zu werfen?
Diese
Frage suggeriert ja, als ginge es den palästinensischen
Kindern und Jugendlichen eigentlich ganz gut, wenn da
nicht irgendjemand wäre, der sie zum Antisemitismus
aufhetzt. Diese Annahme ist völlig realitätsfern und
zynisch. Diese Kinder müssen hinter
der
großen von Israel gebauten Mauer leben, abgeschottet von
der Welt und meistens in großer Armut unter einem
furchtbaren Besatzungsregime. Ihre Eltern werden oft
verhaftet und sitzen in israelischen Gefängnissen, viele
Kinder haben die Zerstörung ihrer Elternhäuser durch die
israelische Armee oder Verhaftungen bei nächtlichen
Razzien erlebt. Israel hat bisher an die 30 000 Häuser
von Palästinensern zerstört. Die jüdischen Siedler
verwüsten die Felder, Olivenhaine und Brunnen der
Palästinenser. Diese Kinder wachsen in einer täglichen
Atmosphäre von Gewalt und Brutalität auf und daraus
ergibt sich der Hass auf die Besatzer ganz automatisch.
Mit europäischem Antisemitismus hat das gar nichts zu
tun. Dieser Hass resultiert aus den Realitäten dort.
Was
erwarten Sie von diesen Kindern – sollen sie zum Dank
für die Besatzung Blumen auf israelische Panzer streuen?
Mir hat ein kleiner palästinensischer Junge in Bethlehem
gesagt, sein größter Wunsch sei, einmal das Meer zu
sehen und darin zu baden! Aber er hat keine Chance, das
große Wasser zu sehen, obwohl es nur dreißig oder
vierzig Kilometer entfernt ist. Er ist dazu verurteilt,
hinter der Mauer zu leben. Wenn Sie diese Fakten nicht
glauben und für bösen Antisemitismus halten, besorgen
Sie sich die jährlichen Berichte der großen
Menschenrechtsorganisationen: In Israel sind das etwa
Betselem und das Israelische Comitee gegen
Häuserzerstörungen (ICAHD), das der Israeli Jeff Halper
leitet. Die israelische Organisation Betselem gibt den
Palästinensern übrigens die Kameras, damit sie die
Übergriffe der Armee und der Siedler filmen sollen.
Betselem veröffentlicht die Filme dann. Zu empfehlen
sind auch die Berichte von Amnesty International und
Human Rights Watch. Alle sind im Internet abrufbar.
Siebtes
Schild: Herr Moskowitz! Unterstützen Sie weiterhin die
terroristische Organisation Hamas mit Hilfsgütern?
Auf
Nachfrage sagte Herr Moskowitz, dass er nie die Hamas
unterstützt habe und das auch in Zukunft nicht vorhabe.
Der Name Moskowitz ist in Israel nicht selten, hier
liegt vermutlich eine Verwechslung vor.
Bild links - Reuven Moskovitz spricht mit
den Demonstranten
Auch:
„Die
Besatzungspolitik ist eine Schande für das Judentum“
-
Der
israelische Friedensaktivist Reuven Moskowitz im
Interview mit Arn Strohmeyer