„Ein
Massaker schlimmsten Ausmaßes!“
Rede von
Arn Strohmeyer auf der Demonstration gegen den Krieg
Israels im Gaza-Streifen am 23.07.2014 in Bremen
Liebe
Freunde, es ist wieder Mal ein furchtbarer Anlass, zu
dem wir uns heute hier auf dem Bremer Marktplatz
versammeln – wie schon so viele Male zuvor. Hunderte von
Palästinensern – darunter viele Alte, Frauen und Kinder
– mussten in den vergangenen Tagen sterben, weil Israel
seine Kriegsmaschinerie wieder einmal auf ein so gut wie
unbewaffnetes und wehrloses Volk losgelassen hat und im
Gaza-Streifen einmarschiert ist. Ich sage unbewaffnet,
denn die Palästinenser – auch die im Gazastreifen –
leben unter Israels Besatzung und haben nicht einen
einzigen Panzer, keine Flugzeuge, Kanonen und andere
Kriegsgeräte, über die Israels Armee als die
viertstärkste der Welt reichlich verfügt. Es findet dort
kein Krieg zwischen zwei gleich starken militärischen
Gegnern statt, wie uns hier oft eingeredet wird. Was
Israel dort anrichtet, ist ein Massaker schlimmsten
Ausmaßes, ein anderes Wort gibt es dafür nicht – das
wievielte Massaker in der Geschichte beider Völker –
muss man fragen, das Israel da begeht?
Und
Zehntausende Menschen sind auf der Flucht, mussten ihre
Häuser verlassen. Für viele von diesen Menschen ist es
nach den Kriegen von 1948 und 1967 die dritte oder
vierte Vertreibung durch Israels Truppen. Nur wo sollen
sie im kleinen Gaza-Streifen hin fliehen, der ringsum
von Israel und Ägypten eingezäunt und ummauert ist? Ich
darf daran erinnern, dass es in Israels Krieg gegen den
Gazastreifen 2008/09 1500 Tote gegeben und Tausende von
Verletzten. Vorsätzliche Tötungen durch die israelischen
Truppen sind schwere Verstöße gegen das Recht auf Leben
und damit Verstöße gegen die Vierte Genfer Konvention.
Sie müssen als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit behandelt und geahndet werden.
Nun wird
dem von den Israel-Verteidigern und den deutschen Medien
so gut wie unisono entgegengehalten, und das ist ihr
erstes Gegenargument: Aber die Raketen der Hamas!
Man kann ja durchaus die Frage stellen, ob die Hamas
sich und der Bevölkerung des Gaza-Streifens mit dem
Raketenbeschuss auf Israel einen Gefallen getan hat?
Aber man muss auch anmerken: Diese Raketen sind im
Gegensatz zu den israelischen selbst gebaute und
unwirksame Geschosse, die vielleicht Panik hervorrufen,
aber so gut wie keine Schäden in Israel angerichtet
haben. Ein einziger Israeli ist durch diese Raketen
getötet worden. Aber ich will zu den Raketen der Hamas
auch ganz klar sagen: Man darf hier nicht Ursache und
Folgen verwechseln. Die Hamas-Raketen sind nicht die
Ursache des gegenwärtigen Krieges, sondern der
erbärmliche Zustand, unter dem die Palästinenser seit
Jahrzehnten unter der brutalen israelischen Besatzung
leben müssen!
Tatsache
ist, dass die Besatzungsmacht Israel die Palästinenser
im Westjodland hinter der Mauer weggesperrt hat, dort
müssen sie unter Militärrecht leben, d.h. sie haben gar
keine Rechte, sie können sich nicht einmal im eigenen
Land frei bewegen. Verhaftungen, Liquidierungen,
Zerstörung von Häusern, Feldern und Olivenbäumen durch
die israelischen Soldaten bestimmen das tägliche Leben.
Und täglich wird ihnen wieder ein Stück ihres Landes
weggenommen, damit Israel dort Siedlungen für seine
Menschen bauen kann. So entzieht man den Palästinensern
ganz bewusst die Existenzgrundlage.
Im
Gaza-Streifen ist die Lage noch erschreckender. Von dort
hat sich das israelische Militär im Jahr 2005 zwar
zurückgezogen, aber es kontrolliert das Gebiet, das auch
von Mauern und Zäunen umgeben ist, weiter – zu Land, zu
Wasser und in der Luft. Der Gaza-Streifen ist von Israel
vollständig abgeriegelt, niemand darf dort hinein oder
heraus, bis auf das wenige, das Israel erlaubt. Das ist
Käfighaltung für Menschen! Sie leben dort in furchtbaren
Elend. Und der jetzige Krieg nimmt ihnen noch das
Allerletzte, das ihnen geblieben war. Nicht einmal
medizinische Güter lässt Israel in das Gebiet gelangen,
um die Verletzten zu versorgen.
Liebe
Freunde, ich frage Sie hier: wer gibt Israel das Recht,
ein ganzes Volk hinter Mauern und Zäunen wegzusperren –
und dass aus dem einzigen Grund, dass es den Israelis
gut geht und sie in Sicherheit leben wollen. Wer gibt
ihnen das Recht dazu? Sind die Palästinenser nicht auch
Menschen, die ein Recht auf Freiheit, Selbstbestimmung
und Wohlstand haben? Die ganze israelische
Besatzungspolitik gegenüber den Palästinensern ist ein
einziger Bruch des Völkerrechts, vieler UNO-Resolutionen
und der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen.
Solche Argumente interessieren aber die Verantwortlichen
in Israel überhaupt nicht. Dieser Staat darf machen, was
er will – und die internationale Staatengemeinschaft
schweigt und schaut dem tatenlos zu.
Nun kommt
das zweite Argument der Israel-Verteidiger, das auch
unsere Kanzlerin benutzt: Israel – heißt es da – hat ein
Recht auf Selbstverteidigung. Das hat natürlich
jeder Staat ganz unbestritten, aber bei Israel liegen
die Dinge doch ein bisschen anders. Ein Staat, der mit
seiner Politik nichts mit dem Völkerrecht zu tun haben
will und ständig gegen das Völkerrecht verstößt, kann
sich doch nicht plötzlich auf das Völkerrecht berufen!
Das ist doch blanker Hohn! Und außerdem: Israel
verteidigt sich nicht gegen einen äußeren Feind, sondern
gegen ein Volk, dessen Land es besetzt hat und das es
hinter Mauern in Gefangenschaft oder Geiselhaft hält. Da
kann man doch nicht das Recht auf Selbstverteidigung in
Anspruch nehmen! Ganz im Gegenteil: Die Palästinenser
haben nach dem Völkerrecht ein Recht auf – auch
gewaltsamen – Widerstand, wenn er sich nicht gegen
Zivilpersonen richtet.
Liebe
Freund, es gibt auch in Israel sehr einsichtige und
friedensbereite Menschen. Ich will Ihnen ein paar Zeilen
des israelischen Journalisten Gideon Levy von der
Tageszeitung Haaretz vorlesen. Er schreibt zu den
Raketen der Hamas: „Dachten
wir wirklich, dass die Palästinenser das alles demütig,
gehorsam und ruhig ertragen würden? Und dass es
weiterhin Ruhe und Frieden in Israels Städten geben
würde? Glaubten wir wirklich, dass
Gaza für immer der Willkür von Israel (und Ägypten)
unterworfen bleiben kann? Mit Fesseln, die manchmal
etwas loser gelassen und dann wieder fester gezogen
werden? Dass das größte Gefängnis der Welt weiter ein
Gefängnis bleiben würde? Dass Hunderttausende weiterhin
abgeschnitten von allem leben müssen? Mit
einer Blockade für alle Exporte und willkürlichen
Einschränkungen für die Fischerei? Was stellen wir uns
eigentlich vor, wovon genau 1,5 Millionen Menschen leben
sollen? Kann irgendjemand erklären, warum die Blockade
von Gaza immer noch anhält? Kann irgendjemand erklären,
warum es in Israel keine Diskussion darüber gibt, wie
das alles weitergehen soll? Wer konnte glauben, dass
Gaza weiterhin alles unterwürfig akzeptieren würde?
Jeder, der so etwas annahm, war nichts als ein Opfer
seiner eigenen und gefährlichen Wahnvorstellungen – und
nun müssen wir alle den Preis dafür zahlen.“
Die Ursache des
Krieges in Gaza sind also nicht die Raketen der Hamas,
sondern die schrecklichen Zustände, die Israel in
Palästina geschaffen hat. Die Hamas hat immer wieder
Israel Waffenstillstandsvereinbarungen angeboten, aber
unter der Bedingung, dass Israel die Blockade aufhebt.
Dazu ist Israel nicht bereit. Die Hamas hat den
arabischen Friedensplan akzeptiert, der die
Zwei-Staatenlösung im Westjordanland und im Gazastreifen
vorsieht – bei voller Anerkennung Israels durch alle
arabischen Staaten. Israel hat das Angebot gar nicht zur
Kenntnis genommen. Die Fatah und die Hamas haben sich
vor kurzem auf eine Einheitsregierung geeinigt. Damit
hätte Israel einen starken Verhandlungspartner für den
Frieden gehabt. Die Antwort Israels war nach dem Mord an
den drei Jugendlichen, den die Hamas vermutlich gar
nicht begangen hat, die Verhaftung von 500 Hamas-Leuten
im Westjordanland und die völlige Zerstörung der
Infrastruktur dieser Gruppe. Israel will die Hamas
„vernichten“, das ist genau die Sprache, die es der
Hamas vorwirft. Israel will unter allen Umständen die
Einheit der Palästinenser verhindern.
Aus
alledem, was ich hier aufgezählt habe, gibt es nur eine
Schlussfolgerung: Israel will keinen Frieden! Lassen Sie
mich noch einmal Gideon Levy zitieren. Er schreibt über
die israelische Politik: „Die Israelis wollen die
Besatzung – das Land – nicht den Frieden!“ Darum geht es
in dem Konflikt und auch in dem jetzigen Krieg. Die
Palästinenser sollen gedemütigt, erniedrigt und
ausgeschaltet werden, damit sie nie wieder aufstehen und
ihr Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung einfordern
und Israel das Land überlassen. Deshalb wurden sie in
der Vergangenheit vertrieben – und die Vertreibung hält
auch heute an. Man nennt so etwas eine ethnische
Säuberung.
Liebe
Freunde, das dürfen wir nicht zulassen. Wir alle müssen
in Solidarität unsere Stimme erheben gegen dieses
Unrecht und diese Unmenschlichkeit. Nicht nur heute,
sondern auch in Zukunft. Niemand bestreitet Israels
Existenzrecht, aber auch die Palästinenser haben ein
Recht, in freier Selbstbestimmung auf ihrem eigenen Land
zu existieren. Und genau das bestreitet Israel diesem
Volk.
Ich
möchte zum Schluss ein Wort zur deutschen Politik sagen.
Niemand leugnet, dass Deutschland durch die Verbrechen
der Nazis schwere Schuld gegenüber den Juden auf sich
geladen hat. Aber glauben deutsche Politiker wirklich,
dass sie eine Sühne und Wiedergutmachung gegenüber den
Juden leisten, wenn sie Israel schweigend zubilligen,
solche Kriegsverbrechen wie früher schon und jetzt in
Gaza zu begehen? Ein solche Politik verschlimmert die
Lage im Nahen Osten, aber sie ist kein Beitrag zu einer
Lösung. Abgesehen davon, dass Deutschland Israel ständig
mit Waffen beliefert, die auch jetzt im Gazastreifen im
Einsatz sind. Deutschland ist an dem Morden, das dort
gerade stattfindet, also direkt beteiligt. Das ist eine
Schande für dieses Land und seine Regierung! Und wen
jetzt von antisemitischen Ausfällen die Rede ist – ja es
gibt sie ,und das ist schlimm! Aber ein Eintreten für
Humanität, Menschenrechte und für das Einhalten des
Völkerrechts hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Wer
das behauptet, macht sich selbst der Inhumanität und
eines perversen Denkens schuldig! Das sollten wir aus
unserer Geschichte gelernt haben!
Nur die
Freiheit und Selbstbestimmung für die Palästinenser und
eine einvernehmliche Koexistenz beider Völker können
einen gerechten Frieden im Nahen Osten herbeiführen. Das
würde auch zur Sicherheit Israels beitragen. Die
mörderischen Kriege, die Israel ständig führt, bringen
diesem Staat weder Sicherheit noch Frieden. Ganz im
Gegenteil. Israels Zukunft wird dadurch immer
unsicherer. In der Geschichte hat noch kein Staat
überlebt, der in völliger Feindschaft mit seiner
gesamten Umwelt lebte und nur auf die Stärke seiner
Waffen setzte.
Deshalb
meine Forderung: Schluss mit dem Massaker im
Gaza-Streifen. Wir fordern hier ein sofortiges Ende des
Krieges, das Ende der Besatzung, das Ende der
Siedlungspolitik und die Aufhebung der Blockade des
Gazastreifens. Wir fordern Freiheit und Gerechtigkeit
für ein selbstbestimmtes Palästina neben einem
friedlichen Staat Israel!
Arn Strohmeyer
(Jahrgang 1942) ist Journalist und freier Autor. Er hat
sein ganzes Berufsleben als politischer Redakteur bei
Tageszeitungen gearbeitet. Aus seiner intensiven
Beschäftigung mit dem Nahost-Problem sind zwei Bücher
hervorgegangen: Wer rettet Israel? Ein Staat am
Scheideweg (2012) und Das unheilvolle Dreieck.
Deutschland, Israel und die Palästinenser. Plädoyer für
eine andere Nahostpolitik (2014).