Bethlehem 2008. Eine Weihnachtsgeschichte
von Arn Strohmeyer
Es
hatte sich aber zu der Zeit des Kaiser Augustus begeben, dass alle
Welt geschätzt würde. Da machten sich auch auf Maria und Josef aus
Galiläa in die Stadt Davids, die da heißt Bethlehem. Und Maria gebar
dort ihren ersten Sohn, wickelte ihn in Windeln und legte ihn in
eine Krippe. Und Engel kamen zu den Hirten auf den Feldern und
verkündeten ihnen „Frieden auf Erden und den Menschen ein
Wohlgefallen.“
Bild rechts -
Bethlehems prominenteste Immigranten: Maria und Josef mit Kind sind
in jedem Souvenirshop der berühmten Stadt zu haben.
Vertraute
Worte. Lange ist das her. Ob die Geschichte nun einen wahren Kern
hat oder nur fromme Legende ist – sie rührt die Menschen noch heute.
Und jedes Jahr feiern sie in aller Welt am 24. Dezember (bei den
Orthodoxen ein bisschen später) den in der Krippe Geborenen, den ein
Jude aus Tharsus in der heutigen Türkei später zum Sohn Gottes erhob
und damit eine (oder viele) Kirche(n) begründete, die sich mit ihrer
Botschaft noch immer auf ihn berufen und vorgeben, in seinem Namen
zu handeln. Die, die daran glauben, haben im Laufe der Zeit
merkwürdige Bräuche entwickelt, um den Kleinen in der Krippe in dem
Stall von Bethlehem zu feiern: Sie schlagen grüne Bäume im Wald (es
gibt sie aber auch schon aus Plastik), bekränzen sie mit bunten
Kugeln, Lametta und Lichtern genauso wie die Straßen ihrer Städte
und Dörfer.
Die Tempel ihres Konsums sind zu dieser Zeit noch prachtvoller
bestückt als sonst. Die glitzernden und funkelnden Angebote stapeln
sich in den Kaufhäusern und Geschäften in üppiger Fülle– gleich
hübsch eingepackt in buntem Papier und mit Schleifchen, um sich am
„Heiligen Abend“ auf den Tischen der Lieben zu Hause wiederzufinden.
Und dann strahlen die Lichter auf den grünen Bäumen, Kinder- und
Erwachsenenaugen glänzen, der Gänsebraten brutzelt im Backofen,
Süßes wird bis zum Erbrechen genascht und viel Hochprozentiges
darauf gegossen. Da schwirren die Wünsche vom „Frohen Fest“ durch
die Stuben und auch von „Frieden“ ist viel die Rede, vor allem in
den Gottesdiensten und bei den Fernsehansprachen der führenden
Politiker. Und Engel mit Goldhaar und eingebautem Computer hauchen:
„Halleluja“ und „Hosianna“ und den „Menschen ein Wohlgefallen“!
Selbst die Mittellosen, die man früher Arme und heute „Hartz-IV-Empfänger“
oder Angehörige des „Prekariats“ nennt, und die sich ein solches
Fest eigentlich gar nicht leisten können, feiern den Kleinen in der
Krippe, auch wenn wenig oder nichts auf den Gabentischen liegt und
die Spekulatius nur die billigsten von ALDI sind.
Und Bethlehem – der Ort, von dem Alles ausging? Er ist heute eine
sterbende Stadt, die Glück und Freude verlassen haben. Völlige
Hoffnungslosigkeit regiert hier. Israels acht Meter hohe Betonmauer
umschließt sie – wie so viele andere Gemeinden im „Heiligen Land“ –
mit eisernem Griff und schnürt die Bewohner von der Außenwelt ab.
Die Menschen sind eingesperrt wie in einem Gefängnis – können nicht
hinaus und hinein. Selbst Nachbarn, Verwandte und Freunde können
nicht mehr zueinander finden. Auch der Arbeitsplatz wird für viele
unerreichbar. Die Bauern sind von ihren Feldern getrennt. Es sei
denn, die israelischen Bewacher lassen Gnade walten und gewähren an
den Checkpoints Durchlass. Aber das tun sie selten. Selbst
hochschwangere Frauen, die zur Niederkunft in ein Krankenhaus
gebracht werden müssen, dürfen nicht passieren und verbluten oftmals
an den Grenzbarrikaden. Würden die Grenzsoldaten heute Maria und
ihren Mann durchlassen?
Demütigung und Erniedrigung sind an diesen Kontrollstellen die
Regel. Handel und Wandel können unter diesen Bedingungen des
Eingeschlossenseins nicht mehr stattfinden, die Menschen verarmen
deshalb immer mehr. Wer sich gegen diesen Zustand auflehnt und
„Menschlichkeit“ fordert, gilt als „militant“ und muss mit dem
Schlimmsten rechnen. Jede Nacht kommen die Soldaten der
Besatzungsarmee, dringen in die Häuser ein, schikanieren,
drangsalieren, zerstören, verhaften und töten – und hinterlassen
traumatisierte Menschen.
Einer, der es wissen muss, der evangelische Pastor der
Weihnachtsgemeinde in Bethlehem, der Palästinenser Mitri Raheb,
sagt: „Unsere Situation kann eigentlich nur schizophren machen. Die
Amerikaner, Israelis und Europäer reden ständig vom Frieden, auf den
wir seit Jahrzehnten warten, aber es gibt ihn nicht und wird ihn
sobald nicht geben. Wahr ist: Die Mauer wird jeden Tag größer und
länger. Die jüdischen Siedlungen wachsen und wachsen und engen
unseren Lebensraum immer mehr ein. Ja, die Israelis mauern uns
wirklich regelrecht ein und schaffen mit jedem Tag neue Fakten.“ Und
Bethlehems Bürgermeister spricht davon, dass „wir in einem Gefängnis
leben müssen.“
Das ist Bethlehem Weihnachten 2008. Und die Christen aus aller Welt,
für die der Ort eine so magische Anziehung hat? Bringen sie die
frohe Botschaft zurück in die Stadt? Sie kommen zu Zehntausenden mit
großen Bussen aus Jerusalem. Voller Ehrfurcht betreten sie die
„Geburtskirche“ und steigen dann zu der winzigen, kaum einen Meter
hohen Grotte herab, in der der kleine Jesus gelegen haben soll (war
im Neuen Testament nicht von einem Stall die Rede?). Viele knien
nieder und küssen voller Inbrunst den Stern, den man auf dem Boden
der Höhle angebracht hat.
Dann fahren sie zu den Feldern hinauf, wo die Engel den Hirten dem
biblischen Bericht zufolge die frohe Botschaft vom „Frieden auf
Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“ verkündeten. Auch dort gibt
es Grotten, größer als die kleine in der Kirche. In ihnen versammeln
sich die frommen Pilger, beten und singen Weihnachtslieder – auch
mitten im heißen Sommer. Und dann bringen die großen Busse sie
wieder nach Jerusalem in ihre luxuriösen Hotels. Und die
Palästinenser in der Stadt und ihre furchtbare Not?
Wohl kaum ein Pilger hat davon etwas wahrgenommen, nicht von der
grauen Monstermauer, der Armut und Verzweiflung der Bewohner, den
zerstörten Häusern und Olivenhainen, den Übergriffen der Soldaten.
Der Blick ist ganz auf das Geschehen von „damals“ gerichtet, auf das
heilige Paar und seine Notunterkunft im Stall. Bestenfalls ersteht
man in einem der Souvenirshops eine geschnitzte Krippe mit den
Hauptdarstellern der Weihnachtsereignisse für das nächste Fest zu
Hause und kann dann nostalgisch zurückblickend sagen: „Oh, Bethlehem
was so beautiful!“
Und die heutigen Bewohner in der „Stadt Jesu“? Sie werden auf
Frieden und ein bisschen Gerechtigkeit wohl noch lange warten
müssen. Die frohe Botschaft ist bei ihnen noch nicht angekommen.
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