„Israel hat die rote Grenze
überschritten“
Ein Gespräch mit Yehuda Shaul von „Breaking the silence“ über den
Gaza-Krieg
Arn Strohmeyer
Yehuda Shaul, ein orthodoxer Jude, ist der Mitbegründer der
Organisation „Breaking the silence“, die von ehemaligen Soldaten
und Soldatinnen der israelischen Armee ins Leben gerufen wurde, um
die Verletzungen von Menschenrechten in den besetzten Gebieten
öffentlich zu machen. Sie spricht aber auch die Folgen und
Traumatisierungen der Besatzung bei den israelischen
Armeeangehörigen an. Die Organisation sammelt Zeugnisse, die sie in
Dokumentationen, Ausstellungen und Filmen präsentiert. Yehuda Shaul
ist ihr derzeitiger Generalsekretär.
Yehuda Shaul war selbst Soldat in der israelischen Armee und musste
– wie er erzählt – schreckliche Dinge in den besetzten Gebieten tun.
Er habe sich damals nichts dabei gedacht und nicht zuletzt durch die
Kameraden gedeckt gefühlt. Irgendwann kurz vor seiner Militärzeit
habe er so etwas wie ein inneres Bekehrungs- oder
Erleuchtungserlebnis gehabt. Er habe sein Tun aus der Distanz
angesehen, sei völlig schockiert über sich selbst gewesen, habe
große Scham empfunden und sich gesagt: So kannst Du nicht weiter
leben. Das sei der Wendepunkt gewesen. Von nun an habe er sich der
Aufgabe gewidmet, das Schweigen um die israelische Besatzung zu
brechen und die israelische Gesellschaft durch die Veröffentlichung
von Fakten aufzurütteln.
Wie hat er den Gaza-Krieg an der Jahreswende 2008/09 erlebt? „Da gab
es“, sagt er, „zunächst gar keine großen Pläne unsererseits. Wir –
Mitglieder von ‚Breaking the silence’ – haben uns die Operation
‚Cast Lead’ (Geschmolzenes Blei) zunächst im Fernsehen angeschaut.
Als erfahrene Kampfsoldaten haben wir sofort gespürt: Das ist keine
normale Militäroperation, da ist etwas ganz Anderes im Gange.“ Nach
dem Krieg hätten er und seine Freunde sofort versucht, mit Soldaten
Kontakt aufzunehmen, die dabei gewesen waren. 26 Soldaten hätten
sich gemeldet, von denen die meisten für den Einsatz gewesen seien.
Nur hätten ihn abgelehnt.
Was erzählten diese Leute? „Was diese Augenzeugen als Realität
beschrieben haben, war für uns unfassbar. Das entsprach nicht
unserer eigenen Erfahrung als Soldaten. Nach dem zwanzigsten Bericht
– und sie deckten sich alle in ihren Aussagen! – sagten wir: ‚Was
wir im Fernsehen gesehen haben, entsprach offenbar wirklich der
Realität.’“
Einer der Augenzeugen berichtete folgenden Vorfall: Südlich von
Gaza-Stadt hatten israelische Soldaten ein palästinensisches Haus
besetzt. Es lag an der Straße, die von Norden nach Süden führt. Die
Soldaten hatten die Aufgabe, den Gazastreifen in zwei Teile zu
trennen, um jede Verbindung zwischen den Teilen zu verhindern. Auf
der Straße von Süden her näherte sich ein Palästinenser. Er ging
aufrecht, zeigte seine Brust und führte eine Taschenlampe mit sich.
Alles sprach dafür, dass er kein Terrorist war. Der Feldwebel wollte
Warnschüsse abgeben, um den Mann darauf aufmerksam zu machen, dass
es hier einen Militärposten gab.
Der Hauptmann lehnte ab, ordnete aber an, dass Scharfschützen auf
dem Dach Posten beziehen. Der Palästinenser kam näher. Der Hauptmann
war immer noch gegen das Abfeuern von Warnschüssen. Man konnte den
Mann inzwischen mit bloßem Auge sehen, er war unbewaffnet. Der
Feldwebel geriet dennoch unter Stress, weil er glaubte, es handele
sich um einen Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürtel, der die
Soldaten gefährden könne. Was tun? Warnschüsse abgeben oder
erschießen? Der Hauptmann ordnete weiteres Warten an. Als der
Palästinenser nur noch 35 Meter entfernt war, gab der Hauptmann den
Befehl: schießen! Der Palästinenser fiel tot um. Die Soldaten
schickten einen Hund los, der den Mann untersuchen sollte. Es war
ein unbewaffneter Greis mit weißem Bart.
Wie beurteilt er diesen Vorfall? „Diese Geschichte ist schrecklich“,
sagt Yehuda, „aber sie hat mich nicht so schockiert. Ich war bei
unterschiedlichen militärischen Operationen dabei und kann nur
sagen: Manchmal passiert so etwas. Schockiert haben mich aber
Vorfälle und Geschichten, bei denen es um Größeres ging, vor allem
die Strategie. Denn beim Gaza-Krieg ging es um mehr. Und das war
ganz oben in der Entscheidungsebene angesiedelt.“
Um
das zu verstehen, müsse man in den Sommer des Jahres 2006
zurückgehen – an das Ende des Libanon-Krieges, der in Israel ein
Trauma hervorgerufen habe. Es war das Trauma, dass man diesen Krieg
verloren habe. Nun habe es bei den Militärs aber geheißen: Jetzt
sind wir aber ganz anders aufgestellt. Das Ziel des bevorstehenden
Gaza-Krieges sei es, dort einzudringen, es dürfe aber unter keinen
Umständen tote, verletzte oder gefangen genommene israelische
Soldaten geben.
Was hatte sich gegenüber früher geändert? Yehuda: „Die Vorgabe und
die Marschroute waren eine ganz andere als bei früheren
Militäraktionen. Nun hieß es: Die eigenen Truppen müssen so
geschützt werden wie die eigene Zivilbevölkerung. Ich bin als Soldat
dabei gewesen, als wir nach der zweiten Intifada in die Westbank
einrückten. Damals gab es die klare Anordnung, unschuldige Zivilsten
zu schonen. Im Gaza-Krieg war das völlig anders. Die Anweisung
lautete nun: Der Schutz der eigenen Soldaten steht über dem Schutz
der palästinensischen Zivilbevölkerung. Bei der Einweisung der
Soldaten vor diesem Krieg wurde gesagt: ‚Wenn Du Zweifel hast,
schieß einfach, geh kein Risiko ein. Denk nicht nach. Wenn Verluste,
dann soll es die nur auf der anderen Seite geben.’ Das war im Ansatz
des Vorgehens eine enorme Veränderung gegenüber früheren Aktionen.
Hier sollten wirklich Kriegsmethoden und Kriegstaktiken eingesetzt
werden gegen eine palästinensische Stadt.“
Was heißt das konkret? „In Gaza stand im Vordergrund, zuerst die
Ziele mit Bombenteppichen ‚aufzuweichen’, mit Unterstützung von
Luftwaffe, Artillerie und Panzern. Erst dann sollte die Infanterie
folgen, um den ‚Rest aufzusammeln’. Von dem strategischen Ansatz,
den man wählt, hängt dann natürlich die Wahl der Waffen ab. So kamen
dann auch Mörsergranaten und weißer Phosphor zum Einsatz.“
Diese Strategie war militärisch erfolgreich, aber sie hat doch hohe
Verluste an Menschen zur Folge gehabt? „Natürlich“, sagt Yehuda,
„die meisten Menschen sind bei diesem Unterstützungs-Feuer (support-fire)
durch Bomben und Granaten ums Leben gekommen, es gab nur ganz wenige
Mann-zu-Mann-Kämpfe, insgesamt nur acht. Yehuda sieht trotz dieses
Bombardements sogar „humane Ansätze“ im Vorgehen der israelischen
Militärführung, denn sie habe verschiedene Schritte unternommen, um
die Opfer in der Bevölkerung gering zu halten. So habe man mit dem
Abwerfen von Flugblättern und Telefonanrufen die Menschen gewarnt.
Aber wohin sollten sie denn fliehen, sie hatten doch gar keine
Ausweichmöglichkeiten? Auf diese Frage hat Yehuda auch keine
überzeugende Antwort. „Ich weiß nicht, ob irgendwelche Zivilisten
wirklich ihre Häuser verlassen konnten“, sagt er. Vermutlich nicht,
denn sofort nach den Warnungen habe die israelische Militärführung
die Wohngebiete zu Kampfgebieten erklärt. Artillerie und
Mörsergranaten seien eingesetzt worden. Opfer habe man eben ganz
bewusst in Kauf genommen.
Wie hat sich diese Art Kriegführung auf die Soldaten vor Ort
ausgewirkt? „Ich habe die Soldaten gefragt, was sie für
Verhaltensmaßnahmen bekommen hätten – was Todessschüsse oder
potentielle andere tödlichen Maßnahmen anging. Sie sagten: ‚Wir
hatten keine!’ Das Feuer war ganz offensichtlich frei gegeben.“
Yehuda nennt ein Beispiel, das ein Augenzeuge berichtet hat: „Als
ein Infanterietrupp ein Haus südlich von Gaza erreichte, haben die
Soldaten sich in einer geraden Linie 60 oder 70 Meter vor dem Haus
niedergeworfen und mit Maschinengewehren und Mörsergaranten das
Feuer auf das Haus eröffnet. Es gab keine Reaktion aus dem Haus. Als
die Soldaten dann nachschauten, entdeckten sie 30 verängstigte
Zivilisten, die sich in einen hinteren Gebäudeteil geflüchtet
hatten. Wären sie im vorderen Teil geblieben, wären sie alle
umgekommen.“
Yehuda ruft in seinem Laptop einen Film auf. Ein Soldat, der im
Gaza-Krieg dabei war, erscheint auf dem Bildschirm und berichtet:
„Ich bin Reservist und wurde zu einer ‚militärischen Übung’
einberufen. Zunächst erzählten uns die Offiziere nicht, welche Art
von Einsatz wir machen sollten. Wir haben dann aber schnell
verstanden, dass es nicht um eine Militäraktion ging, sondern um
Krieg. Immer wieder wurde uns erklärt, dass die Verhaltensregeln von
früher nicht mehr gelten. Das Verbot, Unschuldige zu töten, bestehe
nicht mehr, denn es herrsche Krieg. Ein Hauptmann sagte wörtlich:
‚Moral und Unschuld interessieren nicht. Das hier ist ein Krieg.
Habt keinerlei Zweifel: Eröffnet das Feuer auf Alles, was wie eine
Bedrohung aussieht – echt oder nicht – auch auf Moscheen. Macht
Euch über die Folgen und Auswirkungen keine Gedanken. Schießt auf
jedes Hindernis – auch wenn das Ziel im Dunkeln liegt, auch wenn es
unklar oder gar nicht zu sehen ist.’“
Der Reservist betont, dass solche Anweisungen für ihn auch völlig
neu gewesen seien: „Niemals vorher hatte ich Befehle dieser Art
bekommen. Früher hatte es immer geheißen, wir sollten versuchen,
Verletzungen zu vermeiden. Dieses Mal war es genau umgekehrt. Es
hieß: ‚Verletzte Zivilisten spielen keine Rolle. Es gibt keine
unschuldigen Zivilisten mehr.’ Ein Brigadekommandeur sagte: ‚Jeder
ist Feind!’ Verhaltensmaßregeln? Die gab es nicht. Die einzige
Vorschrift war, dass man zuerst schießen solle. Wenn etwas
verdächtig sei, solle man schießen.“
Wie war es mit der Gegenwehr der Hamas bestellt? Yehuda: „Nach
unseren Augenzeugenberichten gab es von der Hamas keinen Widerstand.
Dass sie sich nicht wehrte, zeigt offenbar, dass die Bombardierung
gewirkt hatte.“ Yehuda kann also nur schlussfolgern: „Im Gaza-Krieg
war es nicht so, dass die israelische Militärführung alles versucht
hat, Verletzungen und Schäden bei der Zivilbevölkerung möglichst
gering zu halten. Es gibt aber einen von der israelischen Armee
erstellten Verhaltenskodex, in dem es heißt, dass Zivilisten zu
schützen sind. Daran hat sich die israelische Armee im Gaza-Krieg
nicht gehalten. Ihr Vorgehen widersprach völlig ihren eigenen
Prinzipien – von internationalen Konventionen und Abkommen ganz zu
schweigen. Die israelische Armee hat den Vertrag, den die
Bevölkerung mit ihr geschlossen hat, gebrochen. Und man hat auch
noch die Unwahrheit gesagt über das, was man wirklich getan hat.“
Was zieht „Breaking the silence“ daraus für Schlussfolgerungen?
Yehuda: „Wir haben jetzt unser Mandat erweitert und fordern eine
unabhängige Untersuchung dieser Vorgänge, damit auch die
Öffentlichkeit informiert wird und Verantwortung übernehmen kann.
Wenn wir uns dieser Vorgänge nicht bewusst werden, dann werden die
Zerstörungen in der Zukunft noch viel schlimmer sein. Wenn man
tausende von Mörsergranaten losschickt und den Soldaten sagt ‚habt
keine Skrupel, schießt einfach!’, dann darf man sich über die vielen
Toten und Verletzten nicht wundern!“
Handelte es sich bei Israels Vorgehen im Gazastreifen um
Kriegsverbrechen, wie sie der Goldstone-Bericht konstatiert? Da wird
Yehuda vorsichtig und will sich wohl auch nicht als
„Nestbeschmutzer“ gegen sein Land betätigen: „Ich verwende den
Ausdruck nicht, weil ich keine juristisch geschulte Person bin. Das
ist nicht meine Sprache. Ich sage: Das ist richtig oder falsch,
moralisch oder unmoralisch.“
Was ist seine Bilanz des Gaza-Krieges? „Dieser Krieg war ein
ungeheuer abschreckendes Beispiel für das, wofür wir stehen. In
diesem Fall hat Israel die rote Linie – die Grenzmarkierung – klar
überschritten!“
Dann zeigt er noch auf seinem Laptop schreckliche Bilder aus der
Westbank: Auf dem Boden, an Wänden und Bordsteinen kauernde
Palästinenser, gefesselt und mit verbundenen Augen. Die israelischen
Soldaten stehen gelangweilt herum und nehmen die Gefangenen offenbar
gar nicht mehr wahr. Und die Soldaten sitzen oder kauern da schon 12
oder 14 Stunden, erklärt Yehuda. Ein Soldat pinkelt mit arroganter
Geste auf einen gebückt sitzenden Gefesselten. Menschenverachtung
pur. Yehuda zeigt auf die Bilder und sagt: „Daran und an noch
Schlimmeren habe ich in meiner Militärzeit auch teilgenommen. Ich
müsste Jahrzehnte Gefängnis für das bekommen, was ich getan habe.“
(Das Gespräch fand am 22.2.2010 in Bremen statt.)
Anhang:
Yehuda Shaul hat in dem Gespräch immer wieder betont, wie „harmlos“
die früheren Militäraktionen im Gaza-Streifen im Vergleich zum Krieg
2008/ 09 gewesen seien. Da gilt aber nur relativ. Die Verluste waren
auch bei diesen Aktionen beträchtlich. Israel nahm wegen des
Beschusses von Qassam-Raketen, die nur wenig Schaden anrichteten und
wenig Opfer forderten, den Gaza-Streifen immer wieder unter
Beschuss. Allein im Jahr 2006 feuerte die Armee 14 000
Artilleriegeschosse in den Gaza-Streifen, 59 Personen – mehrheitlich
Zivilisten – kamen ums Leben. Innerhalb von sieben Jahren, vom
Ausbruch der zweiten Intifada im September 2000 bis Juli 2007,
landeten 2696 Qassam-Raketen in Israel. Elf israelische Zivilisten
wurden dabei getötet. Ende Juni 2006, nach der Gefangennahme des
israelischen Soldaten Gilat Shalit durch militante Palästinenser,
startete Israel die Militäroffensive „Sommerregen“. Die Luftwaffe
zerstörte Brücken, das einzige Elektrizitätswerk in Gaza, über 100
Häuser, sowie zwei Ministerien und tötete mindestens 230
Palästinenser, unter ihnen 46 Kinder. Im März/ April 2006 schoss die
israelische Armee 4144 Granaten in den Gazastreifen, flog 36
Luftangriffe, 21 Palästinenser wurden getötet, darunter drei Kinder,
68 Personen wurden verletzt. Im November 2006 startete die
israelische Armee die nächste Militäraktion namens „Herbstwolken“ im
Gebiet um die Stadt Beit Hanun. Dabei wurden 82 Palästinenser
getötet und 260 verletzt. 3600 Flüchtlingsunterkünfte wurden
beschädigt und 150 zerstört.
(Quelle: Karin Wenger: Checkpoint Huwara. Israelische Elitesoldaten
und palästinensische Widerstandskämpfer brechen das Schweigen,
Kreuzlingen/ München 2008)