Ein willkommener Anlass
zum Losschlagen
Israel reagiert auf den Mord an den drei Jugendlichen
mit neuem furchtbaren Unrecht
Arn Strohmeyer
Der Mord an den drei israelischen
Jugendlichen ist moralisch verabscheuungswürdig und
politisch äußerst dumm, weil er der Sache der
Palästinenser wie früher die Selbstmordattentate nur
schadet. Aber wenn man schon von Moral bzw. Unmoral
spricht: Israel kommt dieser sinnlose Mord
offensichtlich sehr gelegen. Denn nach der Bildung der
nationalen Einheitsregierung kann die „moralischste
Armee der Welt“ nun rücksichtslos und brutal gegen die
Palästinenser insgesamt losschlagen, politische
Institutionen zerstören, Hamas-Leute gleich massenhaft
festnehmen und das Bombardement auf Gaza fortsetzen. Und
das alles, obwohl niemandem bisher wirklich Schuld
nachgewiesen werden konnte. Was belegt, wie wenig „die
einzige Demokratie im Nahen Osten“ wirklich ein
Rechtsstaat ist. Selbstverständlich muss man Mörder
verfolgen und dingfest machen (allerdings auch
israelische, selbst wenn sie eine Uniform tragen!), aber
darum geht es hier gar nicht mehr. Der Mord an den
bedauernswerten Jugendlichen wird dankbar zum Anlass
genommen, nun alle Palästinenser kollektiv zu bestrafen
und sie zu dämonisieren (Netanjahu: „Tiere auf zwei
Beinen!“) und sich selbst wieder einmal den Mantel der
Moral umzuhängen: Wir sind die Guten, die Opfer – die
„anderen“ sind die Bösen, ja die Teufel.
Die Realität in Israel/Palästina ist aber
eine ganz andere. Was Israel hier praktiziert, ist ein
Musterbeispiel für Doppelmoral, die aus einer seelischen
Verdrängung herrührt. Die israelischen Psychologin
Ruchama Marton hat den gespaltenen Seelenzustand der
Israelis einmal so beschrieben: „Die Welt in gut und
böse aufzuteilen ist der primitivste Abwehrmechanismus,
der auftritt bei übergroßer Verängstigung und einem
Bedürfnis, unerträglich starke positive und negative
Emotionen voneinander zu trennen.“ Was das konkret
bedeutet erklärt sie so: „Indem man sowohl die äußeren
wie die inneren Aspekte des guten Selbst vom bösen
Selbst abspaltet, ist es psychologisch möglich, die
ungeliebten Teile des eigenen Selbst auf den ‚Anderen‘,
d.h. die Palästinenser zu übertragen. Dann kann man die
projizierten Teile und Eigenschaften verachten, die ja
nur dem ‚Anderen‘ angehören. Die Mauer wird so z.B.
ausschließlich als Akt des Selbstschutzes wahrgenommen,
als Schutz vor der wilden Aggression, die man mit den
Palästinensern assoziiert. Sie erlaubt dem zionistischen
israelischen Kollektiv-Selbst, sich nicht als aggressiv,
gewalttätig, grausam, Besitz ergreifend, als Verletzer
von Menschenrechten zu sehen, indem alle diese eigenen
Züge auf die Palästinenser jenseits der Mauer projiziert
werden.“
Mit anderen Worten: Die Israelis
empfinden sich durch diese seelische Projektion als
moralisch, fortschrittlich, demokratisch und
zivilisiert, die Palästinenser jenseits der Mauer sind
minderwertig, rückständig, primitiv. schmutzig,
barbarisch und gewalttätig. Und mit solchen Barbaren
kann man natürlich auch keinen Frieden schließen. Sie
sind einfach für die sich so überlegen fühlenden
Israelis „keine Partner“. Eine Selbsttäuschung
sondergleichen, bei der sie gar nicht merken, wie sehr
die permanente Ausübung von Gewalt die eigene
Gesellschaft schon verroht hat.
Diese kluge Analyse macht auch klar,
warum es zu Mordtaten wie an den drei israelischen
Jugendliche kommen kann: Wenn man ein ganzes Volk
permanent in Geiselhaft hält ( 47 Jahre dauert die
Besatzung nun schon an!) und tagtäglich grausame Gewalt
gegen diese Menschen ausübt: Raub von Land und Wasser,
Einschließen hinter der Mauer und damit Abriegelung und
Einschränkung der Bewegungsfreiheit, willkürliche
Verhaftungen (auch von Kindern), Administrativhaft ohne
Rechtsbeistand, Jahre lange Gefängnisstrafen für
nichtige Vergehen, Folter, illegale Tötungen, Abriss von
Häusern sowie Zerstörung der Lebensgrundlagen wie Äcker
und Olivenbäume, dann muss die Gegengewalt irgendwann
folgen.
Die ganze israelische Gewalt gegen die
Palästinenser hat nur den einzigen Grund: diese Menschen
zu demütigen, ihnen das seelische Rückgrat zu brechen,
um die eigene Herrschaft über das Land zu sichern. Aber
was ist das für eine Sicherheit, die nur auf
Gewehrläufen beruht? Der Gründer der israelischen
Organisation Breaking the Silence, einer Organisation
von ehemaligen Soldaten, die nicht länger über ihren
Dienst in den besetzten Gebieten schweigen wollen,
Yehuda Shaul, beschreibt das Ziel, das die Armee
gegenüber der Palästinensern verfolgt, so: „Ihnen mit
allen Mitteln Angst machen. Denn wenn sie Angst haben,
sich zu erheben, wird es leichter sein, sie zu
beherrschen.“ Anders gesagt: Den Palästinensern soll
jede Selbstachtung, jede Würde und jede Hoffnung auf
eine bessere Zukunft genommen werden, so hat man sie
fest im Griff.
Yehuda Shaul beschreibt, wie seine eigene
Armeeeinheit gegen Steine werfende Jugendliche vorging.
Der Einsatzleiter befahl, „mit Schüssen die Knie der
Jugendlichen zu zerschmettern“. Wörtlich sagte er:
„Zielt auf die Beine der Jungen, die einen Stein in der
Hand haben. Und erschießt jeden, der einen ‚großen‘
Stein wirft.“ Kann es da verwundern, wenn es in einer
solchen Atmosphäre von Hass und Gewalt zu Mordtaten wie
der an den drei israelischen Jugendlichen kommt? Die
grausame Realität ist: Die israelische Armee erschießt
fast täglich Palästinenser – Jugendliche oder andere,
was den Medien keine Erwähnung wert ist, weil es
inzwischen zum Alltag der Besatzung gehört, es ist reine
Routine der „moralischsten Armee der Welt“. Nie wird ein
Soldat dafür zur Rechenschaft gezogen, geschweige denn
bestraft, weil israelische Soldaten immer nur in
„Selbstverteidigung“ handeln. Yehuda Shaul hat zum
Verfasser dieser Zeilen in einem Interview gesagt: „Für
das, was ich als Soldat in den besetzten Gebieten getan
habe, müsste ich eigentlich lebenslänglich bekommen.“
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Bildquelle und Text
Der Mord an den drei bedauernswerten
israelischen Jugendlichen wird nun bis zum Äußersten
propagandistisch ausgeschlachtet, um Israels Politik und
sogar seine Existenz zu rechtfertigen – und die der
„anderen“ zu bestreiten. Es ist das ewige israelische
Lied, in dem aber kein Platz für wirkliche Trauer und
den Ruf nach Versöhnung und Frieden ist. Versöhnung und
Frieden, die die Kette der Gewalt unterbrechen könnten,
sind Vokabeln, die dieser Staat nicht kennt. Es gilt nur
das Gebot der alttestamentarischen furchtbaren Rache.
Das Böse, das sind immer die „anderen“ –
eben die Palästinenser und besonders die Hamas, die
einfach nicht begreifen wollen, dass sie als Volk aus
der Geschichte verschwinden sollen. Sie sind in der
israelischen Sicht einfach zu starrköpfig, um das
wahrhaben zu wollen. Und dafür müssen sie permanent
bestraft werden. Dass die Palästinenser seit Jahrzehnten
unter größten Zugeständnissen zu einem
Verhandlungsfrieden bereit sind und selbst die Hamas
immer wieder Waffenstillstandsabkommen unter der
Bedingung angeboten hat, dass die völlige Blockade des
Gazastreifens aufgehoben wird – ja, dass sie indirekt
Israel schon mehrmals die Anerkennung angeboten hat,
wenn Israel die Schaffung eines palästinensischen
Staates im Westjordanland und im Gazastreifen zulassen
würde, es passt einfach nicht ins israelische Weltbild,
Kompromisse mit seinen Feinden zu schließen. Und so
entscheidet dieser Staat sich immer wieder für die
bewaffnete und völlig unverhältnismäßige
Unnachgiebigkeit – mit Bomben und Mord an den
Schwächsten der Schwachen. Und die Welt – vor allem der
Westen und Deutschland – schweigen dazu.