Nachrichten aus der Hölle auf Erden
Der
palästinensische Politologe Bahihj Spiewak klagt in
einem erschütternden Buch Israels Kriegsverbrechen in
Gaza an
Arn Strohmeyer
Angesichts
der Zerstörungen und des Leidens der Menschen im
Gaza-Streifen fragt man sich, wie ein Staat, der den
Anspruch hat, die westliche Zivilisation zu vertreten,
ein solches Inferno anrichten kann wie in den
zurückliegenden Überfällen auf dieses Gebiet, besonders
aber in dem Krieg im Juli/August 2015, ohne sich
anschließend im Geringsten um die Folgen zu kümmern, die
irgendwann – das ist ganz sicher – auf Israel
zurückschlagen werden. Da hilft auch die Rechtfertigung
mit der „Selbstverteidigung“ nichts. Dem stehen zwei
seit langem bekannte Argumente entgegen: Erstens die
völlige Unverhältnismäßigkeit der israelischen
militärischen Reaktion, denn die Raketen der
palästinensischen Widerstandsgruppen haben in Israel –
im Vergleich – kaum zu Zerstörungen und Verlusten
geführt.
Die
Palästinenser hatten 2138 Tote zu beklagen, darunter
waren 1723 (81 Prozent) Zivilisten, 544 Kinder, 302
Frauen; 10 744 Menschen wurden verletzt, darunter auch
viele Frauen (etwa ein Fünftel) und Kinder (ein
Drittel). 16 002 Häuser wurden zerstört, davon 2358
vollkommen; 462 090 Personen wurden obdachlos; 61
Moscheen wurden zerstört und 324 Handels- und
Industrieanlagen getroffen. Israel hatte 67 Tote zu
beklagen, darunter drei Militärs. Nicht weniger
erschreckend waren die Zahlen im Krieg von 2008/2009:
1419 Palästinenser kamen ums Leben (davon 507 Militärs
und Polizisten, 1167 Zivilisten, 313 Kinder , 116
Frauen); 5300 Menschen wurden verletzt. Demgegenüber
hatte Israel 14 Tote zu beklagen, davon 11 Soldaten und
drei Zivilisten. Man muss hinzufügen: Viele Menschen in
Gaza hätten nicht sterben müssen, wenn die Hilfe
rechtzeitig gekommen wäre. Aber die israelische Armee
bombardierte und beschoss auch Krankenhäuser, Ambulanzen
und medizinische Helfer.
Der
zweite Einwand gegen Israels
„Selbstverteidigungs“-Argument ist völkerrechtlicher
Natur. Israel ist auch im Gazastreifen (auch wenn es das
bestreitet) nach wie vor Besatzungsmacht, denn es
kontrolliert das Gebiet zu Lande, zu Wasser und von der
Luft aus. Zu diesem Zweck muss das israelische Militär
gar nicht in dem Gebiet anwesend sein. Nach
Internationalem Recht gibt es aber kein
Selbstverteidigungsrecht einer Besatzungsmacht gegenüber
den von ihr Besetzten. Das kann es nur gegenüber einem
anderen Staat geben, das ist der Gazastreifen aber
nicht. Die Palästinenser haben sogar ein
Widerstandsrecht gegenüber der Besatzungsmacht, soweit
es nicht gegen Zivilisten ausgeübt wird.
Zwei
gewichtige Argumente also gegen Israels Gewaltexzesse
gegen ein wehrloses Volk, das nicht einen Panzer,
Flugzeug oder Kanone besitzt. Aber mit humanitären
Argumenten hat die israelische Führung nichts im Sinn,
ihr geht es neben Rache und Vergeltung, um den Beweis
ihrer Abschreckungsfähigkeit und das Testen neuer
Waffen. Als Fernziel schwebt vielen Zionisten – etwa dem
früheren Außenminister Avigdor Lieberman – die
endgültige Vertreibung der Palästinenser vor, heute
vornehm als „Transit“ umschrieben. So setzte sich der
Likud-Abgeordnete Moshe Feiglin erst kürzlich dafür ein,
die Bewohner des Gazastreifens in die Sinai-Halbinsel zu
„transferieren“. (Berühmt wurde sein rassistischer
Ausspruch: „Einem Affen kann man nicht die Sprache
lehren und einem Araber nicht die Demokratie.“ Quelle:
Wikipedia)
Was an
Israels Vorgehen gegen die Palästinenser so erschreckt,
ist, dass die „moralischste Armee der Welt“ keinerlei
Rücksicht mehr auf Zivilisten nimmt, sondern dass diese
Truppe ganz offensichtlich nicht zwischen Bewaffneten
und Unbewaffneten unterscheidet, was die oben genannten
Zahlen in eklatanter Weise belegen. So heißt es denn
auch in einer Stellungnahme der Armee: „Wenn aus einem
Dorf Raketen abgefeuert werden, dann gilt dieses Dorf
als Militärbasis. Die Armee wird unverhältnismäßig
antworten. Das ist kein Vorschlag, sondern ein
beschlossener Plan.“ (Haaretz 5.10. 2008)
Diese Art
des rücksichts- und gnadenlosen Vorgehens auch gegen
Zivilisten ist der Schwerpunkt des Buches „Die Hölle von
Gaza. Erkundungen eines Infernos“ des palästinensischen
Politologen Bahij Spiewak. Schon früher hatten
verschiedene israelische Militärs ganz offen zugegeben,
dass man direkt Krieg gegen die gesamte palästinensische
Bevölkerung führe. Was bei dem unbeschreiblichen,
irrationalen Hass auf dieses Volk nicht verwundert, dem
man unterstellt, nur aus „Terroristen“ und „neuen Nazis“
zu bestehen. So neu wie oft dargestellt ist die
Vorgehensweise der israelischen Armee allerdings nicht.
Von der Nakba 1948 bis in die Gegenwart zieht sich die
Blutspur dieser Armee.
Der
israelische Soziologe Baruch Kimmerling hatte sie schon
vor Jahren als „Politizid“ bezeichnet und so definiert:
„Die wichtigsten Werkzeuge [des Politizid] sind Mord,
begrenzte Massaker, Eliminierung der Führung und der
intellektuellen Elite, die physische Vernichtung der
Infrastruktur und der Gebäude politischer Institutionen,
Kolonisierung, künstlich erzeugte Hungersnöte, soziale
und politische Isolation, Umerziehung und gebietsweise
ethnische Säuberungen.“ Und er hatte hinzugefügt: „Mit
Politizid meine ich einen Prozess, an dessen Ziel das
Ende der Existenz des palästinensischen Volkes als
soziale, politische und wirtschaftliche Größe steht.
Dieser Prozess kann auch eine teilweise oder
vollständige ethnische Säuberung des ‚Landes Israel‘
beinhalten. Diese Politik wird das Wesen der
israelischen Gesellschaft unausweichlich zerstören und
die moralische Basis des jüdischen Staates im Nahen
Osten untergraben.“
Sieht man
von der Zukunftsprophezeiung ab, so hat Kimmerling hier
genau die Art und Weise des israelischen Vorgehens in
den Kriegen gegen die Palästinenser beschrieben.
Inzwischen ist aber, wie Spiewak belegt, die israelische
Kriegführung, die keine Rücksicht auf Zivilisten nimmt,
unter dem Namen „Dahiyah“ zur offiziellen
Militär-Doktrin geworden. Dahiyah war ein moslemisches
Wohnviertel im Süden Beiruts, das die Israelis im Krieg
gegen die Hisbollah 2006 dem Erdboden gleich gemacht
haben. Hunderte von Gebäuden wurden zerbombt, fast eine
Million Menschen wurde obdachlos. Gemäß dieser Doktrin
ging Israels Armee auch 2014 gegen den Gaza-Streifen vor
und schuf so das, was der Autor die „Hölle“ und das
„Inferno“ von Gaza nennt. Er zählt die Massaker im
Einzelnen auf, die die israelische Armee dort
angerichtet hat. Der Generalkommissar der
UN-Flüchtlingsorganisation (UNRWA) in Gaza, Pierre
Krähenbühl, sprach anschließend von einem „Schandfleck
auf der Stirn der Menschheit. Die Welt soll sich
schämen.“
Die Welt
hat sich aber nicht geschämt. Zwar beschloss eine
Konferenz zum Wiederaufbau in Kairo mit der Beteiligung
von 50 Staaten (vor allem Europäer, darunter auch
Deutschland), viele Milliarden Dollar Finanzhilfe für
das verwüstete Gebiet und seine jetzt in den Trümmern
und im Elend dahinvegetierenden Bewohner
bereitzustellen. Angekommen ist dort aber noch kein
einziger Cent. Einmal weil Israel die Weiterleitung
jeder Hilfe verweigert, und zum anderen weil die
Europäer davor zurückschrecken, Geld in Projekte zu
investieren, die Israel im nächsten Krieg mit Sicherheit
wieder zerstören wird. Der Autor folgert: „Die
israelische Kriegshysterie kann erst dann gebremst
werden, wenn Israel von der Internationalen Gemeinschaft
gezwungen wird, die Kosten des Wiederaufbaus zu
bezahlen. Erst wenn die Tötung und Zerstörung unrentabel
werden, hört der Krieg auf.“
Es sieht
nicht so aus, dass das in nächster Zeit der Fall sein
wird. Kriege sind offenbar immer noch sehr profitabel.
Gerade erst sind die USA und Israel dabei, einen neuen
„Sicherheitspakt“ zu schließen, was ja bedeutet: Israel
erhält das neueste Mordwerkzeug von seinem großen
Verbündeten. Diesem Staat wird also auch weiterhin alles
erlaubt sein! Wer nicht glauben will, welche Grausamkeit
und welche Brutalität in dieser Zeit direkt unter
unseren Augen möglich sind, sollte dieses Buch lesen.
Vermutlich wird dann so mancher während des nächsten
Krieges, den Israel nach der Dahiyah-Doktrin führt, auf
der Straße nicht mehr für diesen Staat demonstrieren,
weil er „Antisemitismus“ am Werke sieht. Bei der Lektüre
dieses Buches fällt einem immer wieder Angela Merkels
berühmt gewordener Satz ein, den sie 2008 in ihrer Rede
vor der Knesset gesprochen und seitdem immer wiederholt
hat, dass wir mit Israel die Gemeinsamkeit haben, dass
wir dieselben Werte teilen...
Bahij
Spiewak: Die Hölle von Gaza. Erkundungen eines Inferno,
Laika Verlag, ISBN 978-3-944233-35-2, 11,90 Euro
14.11.2015