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Verzweifeln an
Israel
Die jüdische Historikerin Esther
Benbassa hinterfragt im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt
die jüdische Identität
Arn
Strohmeyer
(Esther Benbassa: Jude-Sein nach Gaza, Verlag
Les éditions du CRIEUR PUBLIC, Hamburg 2010, 12,80 Euro)
„Ich bin eine Jüdin ohne Gott und darum ist
Israel Teil meiner nicht vorhandenen Religion. Aber ich bin
auch in Israel aufgewachsen. Auch deshalb liegt mir an
seiner Existenz, auch deshalb muss ich ihm gegenüber
kritisch sein. Man kann dieses Land nicht in sich tragen und
an seiner Seite bleiben, wenn man es verachtet“, schreibt
die Historikerin Esther Benbassa in ihrem neuen Buch. Sie
weiß, wovon sie spricht, denn sie kennt und liebt Israel aus
eigener Erfahrung. Sie lehrt heute moderne und
zeitgenössische Geschichte der Juden an der Sorbonne in
Paris.
Aber sie weiß auch, dass ihr Wunsch, sich mit
Israel identifizieren zu können, eine Illusion, eine
Fatamorgana ist. Denn gleich nach dem oben angeführten Zitat
bekennt sie, dass Israels Offensive gegen den Gaza-Streifen
2008/2009, die sie ein „Massaker“, ein „großes Verbrechen“
und einen „Kolonialkrieg“ nennt, alles verändert habe. Etwas
ganz Neues sei geschehen: „Es wurde die Scheidelinie
überschritten zwischen dem, was ein Jude mit seinem
geschichtlichen Hintergrund zulassen kann und dem, was er
zurückweisen muss, wenn er möchte, dass sein Jude-Sein eine
von Humanität und somit von Universalität geprägte Vision
der Welt bleibt.“ Das Verbrechen der Gaza-Offensive habe die
Karten völlig neu gemischt.
Esther Benbassas Buch ist ein verzweifelter
und entsetzter Aufschrei darüber, in welche Richtung sich
Israel entwickelt hat und wie weit es sich vor allem von
dem, was die jüdische Ethik seit Jahrhunderten ausmacht,
entfernt hat. Die jüdische Ethik ist der Maßstab, an dem sie
Israels politisches und militärisches Handeln immer wieder
misst und die sie so definiert: „Es ist eine Ethik, die
daraus entsteht, das der Mensch einem anderen Menschen
mitmenschlich begegnet und die sich auf die Überzeugung von
der Zerbrechlichkeit jeglicher menschlicher Existenz
gründet. Und auch auf die Überzeugung, dass man dem anderen
die Hand zur Versöhnung reichen muss, weil er ja, auch wenn
man ihn hasst, nichts anderes ist als man selbst.“
Und sie erinnert an die große Tradition
jüdischer Künstler, Schriftseller, Intellektueller, Denker
und Gelehrter, die diese Ethik in ihrer universalistischen
Version vertreten haben: „Sie bemühten sich, der Welt Sinn
zu verleihen und kämpften gegen die Übel, die die
Gesellschaft ihrer Epochen quälten. Sie waren Verbündete der
Unterdrückten; sie kämpften an ihrer Seite, an der Seite der
Armen, der Arbeiter, der Kolonialvölker, der Schwarzen und
der Frauen. Wo sind diese Juden jetzt? Hat uns die Gründung
Israels denn so sehr von anderen abgeschieden? Hat sie uns
in einer Blase eingeschlossen?“
Sie macht einen „irregeleiteten
Nationalismus“ für diese Fehlentwicklung verantwortlich -
einen blinden Nationalismus, der deshalb so fanatisch sei,
weil - so lehre es die Geschichte - Völker, die lange selbst
geknechtet gewesen seien und dann ihre Freiheit erlangt
hätten, umso brutaler andere Völker knechteten. Und so macht
die Autorin die Krise des Judentums in Israel und der
Diaspora, soweit diese rückhaltlos hinter Israel steht, an
der Haltung gegenüber den Palästinensern fest: „Wie können
Juden, deren Vorfahren Verfolgung, Leiden, Exil und
Ablehnung erdulden mussten, akzeptieren, dass ein anderes
Volk, ganz in ihrer Nähe und ihrem Einflussbereich, ein
ähnliches Schicksal erleidet? Wurden diese Juden denn, als
sie Israelis wurden, mit Gedächtnisverlust geschlagen,
sodass sie sogar die elementarsten Grundsätze der Ethik, auf
die sich das Judentum seinem Wesen nach gründet, vergaßen?“
Sie fragt weiter: Wie lässt es sich mit der
jüdischen Ethik vereinbaren, dass Israel die Palästinenser,
die Ureinwohner Palästinas, die - moralisch gesehen -
genauso ein Recht auf Selbstbestimmung und ihren Staat haben
wie die Juden, nicht einmal als Menschen ansieht, sondern
sie rassistisch mit Tiermetaphern versieht: als „Kakerlaken“
(hebräisch: Djukim), „Heuschrecken“ und „Schlangen“ - oder
als „Krebsgeschwür“, das man ausschneiden muss. Oder sie
werden mit den Nazis gleichgesetzt, die nur auf die
Gelegenheit warten, Israel mit einem neuen Holocaust zu
bedrohen.
Die Autorin kann nachvollziehen, dass der
Holocaust die Juden der Welt „entfremdet“ hat, aber sie kann
nicht verstehen, welche Folgerungen Israel aus diesem
Megaverbrechen gezogen hat: „Wenn die beständige Erinnerung
an das, was Menschen einander antun können, gerade nach dem
Holocaust wichtig und von hohem ethischen Wert ist, wie kann
Israel dann ein so inhumanes Verhalten an den Tag legen? Und
kann das jüdische Schweigen denn auf ewige Zeiten zudecken,
was Israel den Palästinensern antut? Ein entehrendes
Schweigen, das im Grunde Verrat übt am Wesen dessen, was
Jude-Sein bisher bedeutete. Man wird einwenden, dass es hier
um Staatsraison geht, aber welche Staatsraison könnte, von
einem wahrhaft jüdischen Standpunkt aus gesehen, einen
höheren Stellenwert haben als Ethik? Wir haben jegliches
Empfinden für den Anderen, jegliches Erbarmen („Rachmanut“)
verloren und nichts hindert uns daran zu tun, was nicht mehr
rückgängig gemacht werden kann.“
Israel zieht also unter Berufung auf den
Holocaust die Schlussfolgerung: Wir dürfen alles, für uns
gibt es keine Grenzen, uns ist alles erlaubt! Trotzdem oder
gerade deswegen glaubt dieser Staat im Besitz der „ewigen
Moral“ zu sein, was schon an Hybris grenzt. Israels erste
große Sünde in diesem Sinne war der Autorin zufolge der
Sechs-Tage-Krieg von 1967, der nach dem Suez-Krieg 1956
Israels „zweiter Eroberungskrieg“ gewesen und der durch
nichts gerechtfertigt gewesen sei. Der Ausgang diese Krieges
und die anschließende Expansion in fremde Gebiete habe
endgültig das Bild eines Staates zerstört, der bedroht sei
und um seine Existenz kämpfe.
Die ganz große Sünde sei dann der Gaza-Krieg
2008/2009 gewesen, weil diese Militäraktion sich so gut wie
ausschließlich gegen die palästinensische Zivilbevölkerung
gerichtet habe, was ein äußerst schwerwiegender Bruch des
Völkerrechts gewesen sei. Die Autorin führt auch den
Raketenbeschuss der Hamas an, aber angesichts der
militärischen Übermacht und der geringen Zahl von Opfern auf
israelischer Seite falle dieser kaum ins Gewicht, womit die
Aktionen der Hamas nicht gerechtfertigt würden, denn auch
sie hätten sich gegen Zivilisten gerichtet. Aber die
Gaza-Offensive hat für die Autorin endgültig belegt, dass
aus den Opfern des Holocaust Täter geworden sind, die
palästinensische Opfer erzeugen, die dann selbst wiederum
Täter und Opfer werden.
Aber auch für die Diaspora hat der Gaza-Krieg
schwerwiegende Konsequenzen gehabt: „Diese Offensive ließ in
der Diaspora neue Mauern entstehen. Sie machte die
Kommunikation zwischen den Juden und ihrer Umgebung
unmöglich, weil letztere die maßlose Duldsamkeit der Juden
gegenüber Israel nicht mehr nachvollziehen konnte. Wer
möchte schon hinter solchen Mauern der Verständnislosigkeit
leben? Und wie lange sollen wir das noch tun?“
Wenn von Nicht-Juden Kritik an Israels
Angriff auf den Gaza-Streifen geübt wurde, nicht nur in
Frankreich, sondern auch und gerade in Deutschland, kam von
jüdischer Seite sofort der Vorwurf des Antisemitismus. Die
Autorin zitiert den Oberrabiner von Frankreich, Gilles
Bernheim, der angesichts des mörderischen und
zerstörerischen Vorgehens der Israelis in Gaza ernsthaft
behauptete: „Zahal [die israelische Armee] geht es nur
darum, liebevoll und mutig die Idee von Humanität und
Freiheit für alle Menschen zu bewahren.“ Angesichts dieser
jeder Realität Hohn sprechenden, zynischen Aussage
konstatiert die Autorin: „Der Konservatismus der jüdischen
Institutionen in Frankreich wird weder der französischen
Gesellschaft noch den internationalen Realitäten gerecht.
Diese Haltung speist sich vor allem aus Angst und Schrecken,
käut ständig dasselbe wieder und zieht sich Tag für Tag ein
wenig mehr in sich selbst zurück. Ein Rückzugsreflex, der
eine Form von Diaspora-Nationalismus noch verschlimmert.“
Feststellungen, die sich sicher auch auf viele jüdische
Gemeinden in Deutschland anwenden lassen.
Die Autorin spricht angesichts solcher
Tendenzen von „politischem Autismus“ - eine
Selbstbezogenheit, die sie als äußerst gefährlich für Israel
und auch für die Diaspora diagnostiziert. Jüdischen
Intellektuellen, die diesen Rückzug auf sich selbst
kritisierten, werde sofort „Selbsthass“ vorgeworfen.
Abweichende Gedanken würden unter Nachrichtensperre
gestellt. Solchen Kritikern werde das Leben äußerst schwer
gemacht und es würde alles getan, um ihr Ansehen zu
untergraben.
Wie lange, fragt die Autorin an dieser
Stelle, werden die Diaspora-Juden Israel noch - koste es was
es wolle - verteidigen, ein Land, das die Lage der Juden in
der Diaspora durch seine Politik, seine Militäraktionen und
Kriege immer schwieriger und unsicherer macht? Wenn Israel
ein zentrales Element oder sogar ein „heiliges Ideal“
jüdischer Identität sein soll, muss es sich dann nicht auch
Kritik gefallen lassen und notfalls auch für sein Handeln
zur Verantwortung gezogen werden? Die Ausstrahlung des
Ideals bröckelt aber: „Das zukünftige Israel, das Israel,
das die Gaza-Offensive erzeugte oder sichtbar machte, dieses
Israel wird nicht mehr lange das verkörpern, wonach die
Juden in der Diaspora trachten, und es wird auch in der
internationalen Öffentlichkeit bald keine Billigung mehr
finden. Ganz offenkundig ist Israel nach der Gaza-Offensive
bereits jetzt nicht mehr das, was Juden und Israelis, die
sich noch der Propaganda entziehen können, von ihm
erwarten.“ In dieser zunehmenden Isolierung Israels sieht
die Autorin die größte Gefahr für die Zukunft des Staates.
Der Gaza-Krieg sei in dieser Hinsicht vielleicht die letzte
Warnung gewesen.
Wie kann Israel aber aus dem selbst
verschuldeten Dilemma wieder herauskommen? Zunächst - so die
Autorin - muss Israel einen „gerechten“ Preis dafür zahlen,
dass die Juden in der Welt und die internationale
Gemeinschaft ihre solidarische Verbundenheit mit Israel
aufrecht erhalten: Dieser Preis ist ein souveräner
palästinensischer Staat, der kein Homeland oder Bantustan
nach südafrikanischem Vorbild sein darf. Die Erfüllung
dieser Forderung ergibt sich für die Autorin zwangsläufig
aus Israels Selbsterhaltungsstreben, denn andernfalls werden
sich die Juden [in der Diaspora] von Israel abwenden. Und
zweitens ergibt sich die Gründung eines palästinensischen
Staates aus der jüdischen Ethik: „Wenn viele Juden nur durch
ihre Identifikation mit Israel Juden sind, dann ist Israel
verpflichtet, ethisch zu handeln, damit Jude-Sein noch einen
Sinn hat. Warum sollte man sonst Jude sein? Um die Schande
dessen zu tragen, was Israel den Palästinensern antut, die
Schande der Gewalt und der Maßlosigkeit?“
Die Autorin hat aber keine Hoffnung, dass
Israel selbst zu einer Lösung des Konflikts fähig und in der
Lage ist. Deshalb setzt sie auf Druck von außen, vor allem
auf die UNO und - mit Einschränkung - auf die Europäer, aber
auch auf die Diaspora, wenn sie denn, wie es sich unter
jüngeren Juden in Amerika schon andeutet, langsam umdenkt.
Aber sie weiß auch, dass sich ohne ein Ende des Zionismus
als israelischer Staatsideologie oder zumindest ein
radikales Umdenken in ihm kein Weg aus der Sackgasse ergeben
kann . Voraussetzung für eine Lösung wäre auch ein ganz
neues Geschichtsbild und das hieße: „...dass es uns gelänge,
all diese Ereignisse in unserer Geschichte zu begreifen -
die sechs Millionen ermordeten Juden während des Zweiten
Weltkrieges, die 850 000 vertriebenen Palästinenser bei der
Gründung des Staates Israel, die tausenden palästinensischen
und israelischen Toten, die Besetzung der palästinensischen
Gebiete im Jahr 1967, die brutale Kolonisierung dieser
Gebiete, die Opfer des palästinensischen Terrorismus, die
Mauer der Schande, das Massaker an 900 palästinensischen
Zivilisten in Gaza im Dezember 2008 und Januar 2009 usw. -
dann könnten wir vielleicht auch ein lebensspendendes
Judentum entfalten und Israel dabei helfen, von seiner
Selbstabschottung zu genesen und aus einer Isolation
herauszukommen, die sich mit der Zeit als selbstmörderisch
entpuppen könnte.“
Esther Benbassa hat überaus ehrliches, klares
und mutiges Buch über Israel und den Nahost-Konflikt
geschrieben - ein Buch der Verzweiflung über den
gegenwärtigen Zustand Israels und des Judentums. Ihren
schweren inneren Konflikt mit ihrer jüdischen Identität
beschreibt sie so: „Ich will nicht Jüdin sein und Israel
ablehnen. Ich will auch nicht Jüdin sein und Israels
unmoralischen Krieg billigen. Nicht ohne Israel, nicht mit
Israel, so wie es heute ist. Und natürlich auch nicht mit
Institutionen und Rabbinern, die jedes ethische Gefühl
verloren haben und die weiterhin lauthals ihre unwandelbare
Unterstützung für Israel verkünden, auch dann, wenn Israel
Gaza angreift und damit einen Kolonialkrieg - und keinen
Verteidigungskrieg - führt.“
Dieses Buch wird hoffentlich viele Menschen -
Juden wie Nicht-Juden - zum Nachdenken bringen und eine neue
Einstellung zu diesem scheinbar so unlösbaren Konflikt
finden lassen. Die Kraft der Ethik, an die Esther Benbassa
immer wieder appelliert, wird dann vielleicht doch Wirkung
entfalten.
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