Ein Kampf gegen Windmühlenflügel
Warum das deutsche Vorgehen gegen Antisemitismus erfolglos bleiben muss:
Es hat so gut wie nichts mit der Realität zu tun
Arn Strohmeyer - 24. 6. 2021
Der Kampf der deutschen Politik gegen den Antisemitismus nimmt immer hysterischere bzw. absurdere Formen an. Man kann ihn nur mit Don Quichottes bewaffneten Ritt gegen die Windmühlenflügel vergleichen. Und wie der tapfere Ritter in Miguel de Cervantes‘ Roman werden die deutschen Antisemitismus-Wächter diesen Kampf nicht gewinnen. Und dafür gibt es gute Gründe. Vor allem den: die völlige Verleugnung der politischen Realität.
Natürlich gibt es einen harten antisemitischen Kern, der sich im rechten und Neonazi-Lager tummelt, über die sozialen Medien seine Hassparolen verbreitet und auch gewaltbereit ist. Aber die deutsche Politik hat den antisemitischen Gegner inzwischen vor allem in der muslimischen und in der Sympathisantenszene für die Sache der Palästinenser ausgemacht. Dazu aber nur eine Zahl: Laut der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) waren in Berlin 2020 von über 1000 registrierten Vorfällen nur 22 „islamisch/islamistisch“ motiviert. Die Schlussfolgerung aus dieser Zahlenangabe kann nur lauten: Antisemitismus ist ganz offensichtlich kein „importiertes“ Problem von Muslimen.
Das Problem für die Antisemitismuswächter sind also vor allem „israel-feindliche Positionen“. Und die blinde Solidarität zum siedlerkolonialistisch-zionistischen Besatzungsregime ist in Deutschland längst so etwas wie eine staatstragende philosemitische Pflichtideologie geworden, an der Kritik nicht geduldet wird. Ihre Infragestellung zieht unmittelbar die Höchststrafe nach sich: den Antisemitismus-Vorwurf, der existenzbedrohend sein kann. Man kann hier als Beleg für den staatlicherseits verordneten Philosemitismus das Verhältnis zu diesem Staat von Anfang an anführen, das immer von der deutschen Schuld und der Hoffnung auf Sühne bestimmt war und nie von dem realistischen Blick auf diesen Staat, der auf der Vertreibung und Unterdrückung eines anderen Volkes und auf weiterer gewaltsamer Expansion seines Territoriums aufgebaut ist.
Beispiele für die absolute Israel-Treue (man kann auch sagen: völlige Unterwerfung unter die israelischen Interessen) gibt es reichlich: die unbeschränkte wirtschaftliche und militärische Kooperation einschließlich umfangreicher Rüstungsexporte; Angela Merkels Bekenntnis, dass Israels Sicherheit deutsche „Staatsräson“ sei; die Erklärung des palästinensischen Widerstandes (vor allem der Hamas) zu „Terroristen“; der Antisemitismus-Beschluss (im Sinne der IHRA-Definition) und die BDS-Resolution des Bundestages; das Verbot der Hisbollah in Deutschland; die Solidaritätserklärungen anlässlich des jüngsten Gaza-Krieges (Betonung des „Selbstverteidigungsrechts“) – ohne auch nur die geringste Kritik an dem verheerenden Zerstörungswerk der israelischen Armee in dem inzwischen durch die Belagerung zum „größten Freiluftgefängnis der Welt“ (der israelische Journalist Gideon Levy) gewordenen Gebiet zu üben.
Nun sollen neue Beweise der absoluten Israel-Treue geschaffen werden. So soll das Zeigen der Hamas-Flagge bei Demonstrationen durch einen Beschluss des Bundestages verboten werden und Migranten oder Flüchtlingen, die Sympathie für den Widerstand der Palästinenser zeigen, – wie kürzlich bei den Protesten gegen die Bombardierungen Gazas – wird „Antisemitismus“ unterstellt, was sie von der Einbürgerung ausschließen soll. Genau an diesem Punkt offenbart sich die ganze Absurdität des deutschen Kampfes gegen den Antisemitismus. Denn Antisemitismus ist nach der klassischen Definition kurz gefasst: Hass auf Juden, weil sie Juden sind. Darum geht es aber in der Auseinandersetzung zwischen Palästinensern und Israelis gar nicht, sondern um den Kampf eines ganzen Volkes für sein Recht auf Selbstbestimmung, Menschen- und Bürgerrechte und letzten Endes auch um ein Territorium.
Alles dies enthält der zionistische Staat den Palästinensern mit allen erdenklichen brutalen Mitteln vor. Der derzeitige Zustand in Israel/Palästina ist unhaltbar, das hat sich inzwischen herumgesprochen. Jede Änderung des Status quo – ob Zwei- oder Ein- Staaten-Lösung – wird aber zu Lasten Israels gehen, denn es besitzt die Macht und das Territorium. Die Existenz eines rein jüdischen Staates ist also in hohem Maße gefährdet. Allein über Möglichkeiten der Lösung des Konflikts in diesem Sinne nachzudenken, ist für die deutschen Aufpasser über das deutsch-israelische Verhältnis schon schlimmer „Antisemitismus“. Aber danach wird sich der Gang der Geschichte nicht richten.
Man muss, um diese Position zu verdeutlichen, ein Zitat des israelischen Historikers und Philosophen Moshe Zuckermann anführen, das die Realität im Nahen Osten und auf der anderen Seite die Realitätsverkennung der deutschen Politik deutlich macht: „Weiß man in Deutschland wirklich nicht, dass der Rassenantisemitismus der Nationalsozialisten, der in Deutschland fortwesende Antisemitismus und der (eventuell auch antisemitisch durchsetzte) Antizionismus der Hamas und der Hisbollah aus grundverschiedenen historischen Konstellationen und Kontexten erwachsen sind? (…) Wer noch immer nicht den Unterschied zwischen Judentum, Zionismus und Israel, mithin zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Israel-Kritik begriffen hat, wird zwangsläufig miteinander vermengen, was auseinandergehalten gehört. Israel führt einen erbitterten Krieg gegen Hamas und Hisbollah; dieser hat seinen historischen Ursprung sowie seine aktuelle Begründung in der nahöstlichen Geopolitik und im israelisch-palästinensischen Konflikt, nicht im Antisemitismus als solchen, schon gar nicht in einem dem abendländischen vergleichbaren Antisemitismus.“
Solange die deutsche Politik diese Realitäten ignoriert und von einem falschen und in diesem Zusammenhang unangebrachten Antisemitismus-Begriff ausgeht, stürmt sie wie Don Quichotte gegen Windmühlenflügel an und wird die Seuche des Antisemitismus nicht besiegen. Man führt ein Gefecht im Reich des Irrealen und Absurden. Die Bilanz des deutschen Kampfes gegen den Antisemitismus spricht so auch für sich. Die Zügel werden ständig angezogen, die Repression verschärft (natürlich auf Kosten der Meinungs-, Presse und Informationsfreiheit). Aber Erfolge sind nicht zu vermelden.
Die deutschen Wächter über den Antisemitismus sollten in ihrem philosemitischen Überschwang vielleicht bisweilen kritische Stimmen von Juden zur Kenntnis nehmen. So hat der jüdische Publizist David Ranan kürzlich sowohl den von Schuldgefühlen geprägten deutschen Philosemitismus wie auch die proisraelische Haltung der jüdischen Gemeinden in Deutschland scharf kritisiert: „Wenn der Philosemitismus die Augen vor israelischen Menschenrechtsverletzungen und Ungerechtigkeiten verschließt, dann ermöglicht er das Schlechte und nicht das Gute. Wenn Philosemitismus einen solchen Schutzschild über Juden und jüdisches Leben errichtet, dass diese mehr und mehr in ein wohlwollend gemeintes Ghetto eingeschlossen werden, dann ist das eher schädlich als nützlich.“ Ranan warnt vor einer privilegierten Sonderbehandlung von Juden in Deutschland, weil das den Antisemitismus eher fördere als den Bevorzugten nütze.
Viele jüdische Intellektuelle haben in der letzten Zeit immer wieder auch darauf hingewiesen, wie sehr die israelische Politik den Antisemitismus-Begriff in schlimmer Weise instrumentalisiert – nicht weil es ihr wirklich um einen Kampf gegen diese Form des Rassismus geht – , sondern weil sie damit jede Kritik an ihrer brutalen Okkupationspolitik abwehren will. Wer das nicht sieht und kritisiert, leistet dem Einsatz für die Verwirklichung der universalen Menschenrechte einen schlechten Dienst und lässt sich letzten Endes von dem völkerrechtswidrigen israelischen Vorgehen selbst instrumentalisieren.
Nicht die Demonstranten für die palästinensische Sache sind in Deutschland ein Problem (das Einhalten der demokratischen Spielregeln vorausgesetzt), sie stehen für eine gerechte Sache: die Verwirklichung der universalen Menschenrechte. Und die gelten nicht nur für Juden, sondern auch für Palästinenser. Es ist kein Antisemitismus, wenn arabische Demonstranten ihr eigenes Narrativ vorbringen, das mit dem Unrecht zu tun hat, das ihnen der Zionismus angetan hat. Das muss der deutsche Staat aushalten, andernfalls bringt er sich in den Verdacht, dass er die Schuld für die deutsche Vergangenheit auf „importierten Antisemitismus“ abschieben will. Und das grenzt wieder an das Absurde und bringt wieder Don Quichotte ins Spiel.
|