Niemand spricht von den Ursachen für den Hass
Nach den Anschlägen in Paris schlug die
Stunde der Heuchler
Arn Strohmeyer
Der
Anschlag auf die Redaktion des Satire-Magazins
Charlie Hebdo war ein furchtbares Verbrechen, ein
schrecklicher Mord an Unschuldigen. Er war auch ein
Anschlag auf ein wichtiges Element der westlichen
Kultur: auf die Presse- und Meinungsfreiheit, die ein
hoher Wert ist und für die viele Generationen in Europa
gekämpft haben. Dieses beste Erbe der Aufklärung zu
schützen und zu bewahren, ist die Pflicht jedes
denkenden Menschen. Ein Journalist schrieb dieser Tage:
„Das zentrale Merkmal der Aufklärung ist, alles
hinterfragen zu dürfen. Das Licht der Vernunft soll in
jeden Winkel scheinen, um Unterdrückung, Aberglauben,
Intoleranz und Vorurteile zu überwinden. Und das stört
all jene, die manchen Bereich lieber im Dunkeln lassen
wollen.“ Charlie Hebdo hat die aufklärerische
Freiheit bis zur Blasphemie ausgereizt und dabei
niemanden geschont – weder Christen, Muslime und Juden.
Das ist oft vielleicht bitter, aber man muss es
ertragen. Die Freiheit des Wortes und des Bildes sind
der höhere Wert.
Wenn man
dann aber die Fotos von dem großen Protestzug am Sonntag
in Paris sieht, wo da in der ersten Reihe viele Lenker
bedeutender Staaten für Solidarität, Toleranz,
Rechtstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und
Gleichberechtigung – mit einem Wort für die sogenannten
Werte der westlichen Staatengemeinschaft – und gegen den
Hass demonstrierten, musste man sich doch verwundert die
Augen reiben. Denn sind nicht viele von den Damen und
Herren in der ersten Reihe der großen Demonstration für
den Hass mitverantwortlich, gegen den sie da
protestieren? Ist es nicht die Politik des Westens
insgesamt – der USA und Europas – , die durch ihre
Jahrzehnte langen politischen und militärischen
Interventionen die nah- und mittelöstliche Region erst
ins Chaos gestürzt und damit den Hass gesät hat, der
heute als „Fluch der bösen Tat“ (Peter Scholl-Latour)
auf ihre Verursacher zurückschlägt?
Man muss
diese Sätze von Jürgen Todenhöfer in Erinnerung rufen:
„Nicht ein einziges Mal in den letzten zweihundert
Jahren hat ein muslimisches Land den Westen angegriffen.
Die europäischen Großmächte und die USA waren immer
Aggressoren, nie Angegriffene. Seit Beginn der
Kolonialisierung wurden Millionen arabische Zivilisten
getötet. Der Westen führt in der traurigen Bilanz des
Tötens mit weit über 10:1. Die aktuelle Diskussion über
die angebliche Gewalttätigkeit der muslimischen Welt
stellt die Fakten völlig auf den Kopf. Der Westen war
und ist viel gewalttätiger als die muslimische Welt.
Nicht die Gewalttätigkeit der Muslime, sondern die
Gewalttätigkeit einiger westlicher Länder ist das
Problem unserer Zeit. Wer den muslimischen Extremismus
verstehen will, muss versuchen, die Welt wenigstens
einmal aus der Sicht eines Muslims zu betrachten. Unser
Horizont ist nicht das Ende der Welt. Ein junger Muslim,
der die Fernsehnachrichten verfolgt, sieht Tag für Tag,
wie im Irak, in Afghanistan, in Palästina, im Libanon,
Somalia und anderswo muslimische Frauen, Kinder und
Männer durch westliche Waffen, westliche Verbündete und
westliche Soldaten sterben.“
Wo also
liegen die Wurzeln des Hasses? Die Grausamkeit
westlicher Kriegsführung steht – auch wenn das äußerst
provokativ klingt – der des ISIS in Nichts nach. Im
Irak-Krieg der USA 2002/03 sollen über eine Million
Menschen ums Leben gekommen sein. Die „gezielten
Tötungen“ westlicher Drohnen im Jemen, Afghanistan,
Pakistan, Palästina, Irak, Somalia und Sudan sollen
schon etwa 5000 Todesopfer gefordert haben, darunter
sehr viele Zivilisten. Die gezielt Hingerichteten sind
nie vor ein Gericht gestellt worden, um ihnen Schuld
nachzuweisen. Allein diese Morde sollen 300 000 direkt
betroffenen Hinterbliebene zurückgelassen haben.
Der
österreichische Sozialwissenschaftler Hannes Hofbauer
folgert aus diesen Fakten: „Es ist die ‚Hilfe‘ der USA,
die den Hass gesät hat, der sich jetzt in den grausamen
Umgangsformen der Dschihadisten spiegelt. (...) Auch die
grausamste Enthauptung [die die ISIS-Kämpfer vornehmen]
ist ein Spiegelbild US-amerikanischer oder britischer
Drohneneinsätze. Auch die kennen keine Anklage, keine
Verteidigung, kein Schuldeingeständnis und keinen
Freispruch. Und der ISIS besteht ja auch auf einem
Zusammenhang zwischen Drohnen und F-16 auf der einen und
Beil auf der anderen Seite.“ Und: „Das Verhältnis von
Drohne und Beil macht die Dimension des asymmetrisch
geführten Krieges, der übrigens von den USA niemals
erklärt worden ist, überdeutlich.“ Wer spricht da noch
von westlichen Werten?
Vielleicht wollte der amerikanische Präsident Barack
Obama sich gerade vor Vorwürfen dieser Art schützen und
kam deshalb nicht zur Protestdemonstration nach Paris.
Israels Premier Benjamin Netanjahu hatte dagegen keine
Skrupel, in der ersten Reihe mitzumarschieren. So
bedauerlich die jüdischen Opfer des Anschlages von Paris
sind – wo steht dieser Mann mit seiner brutalen und
verhängnisvollen Politik gegenüber den Palästinensern
für die oben genannten Werte? Wenn er und der neue
Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland,
Josef Schuster, in den Chor der Klagen über Terrorismus
einstimmen und vorbringen, dass schließlich auch Israel
ein Opfer dieses Übels sei, dann stellen sie die
politische Wirklichkeit auf den Kopf und können ganz
offenbar Ursache und Wirkung nicht unterscheiden. Wenn
man ein ganzes Volk unterdrückt, wegsperrt und sich
jeder gerechten Friedenslösung verweigert, darf man sich
über die Reaktionen nicht wundern. Wer wenn nicht die
politische Elite Israels und ihre westlichen Verbündeten
sind für „Terrorismus“ dort verantwortlich, der in
vielen Fällen gar kein Terrorismus ist, sondern vom
Völkerrecht erlaubter Widerstand gegen die
Besatzungsmacht – vorausgesetzt, er richtet sich nicht
gegen Zivilisten. (Inzwischen wurde bekannt, dass
Netanjahu zu dem Marsch von der französischen Regierung
gar nicht eingeladen worden war – dass er sich daraufhin
selbst eingeladen hat, um einen guten Wahlkampfauftritt
zu haben!)
Aber
unter den Vorwurf der Unaufrichtigkeit fällt auch so
mancher Muslim, der jetzt öffentlich dicke
Krokodils-Tränen über die Anschläge in Paris weint.
Viele muslimische Gruppen haben in den vergangenen
Jahren gegen Journalisten und Karikaturisten, die den
Islam kritisiert oder aufs Korn genommen haben, gehetzt,
ihren Feinden den Tod gewünscht und auch Anschläge
unternommen. Und im Internet gibt es nicht wenige
Muslime, die den feigen Mord in Paris jetzt als großen
Sieg feiern. Nach dieser Tat gab es viel ehrlichen
Protest und viel wunderbare demokratische Solidarität.
Aber dann folgte die Stunde der Unredlichen und
Heuchler, die diesem Mord für sich instrumentalisieren
und daraus Nutzen ziehen wollen.
Was
bleibt nach all den hehren Bekenntnissen zu Humanität
und Aufklärung? Vielleicht ein Satz des großen
Palästinensers Edward Said aus seinem Buch
Orientalismus, die er damals ausdrücklich gegen
Bush, Rumsfeld, bin Laden und Sharon richtete, die heute
aber genauso auf Obama, Netanjahu und all die anderen
passen: „Am wichtigsten ist aber letzten Endes, dass der
Humanismus der einzige, vielleicht sogar der letzte
Widerstand ist, den wir gegen die inhumanen Praktiken
und Ungerechtigkeiten, welche die Menschheitsgeschichte
entstellen, aufbieten können.“