Ist Israel ein verrückter Staat?
Der
frühere Schweizer Diplomat Kurt O. Wyss prangert in
einem provokativen Buch die zionistische Politik
gegenüber den Palästinensern an
Arn
Strohmeyer
Diplomaten
äußern sich zu politischen Streitfragen in der Regel
eher zurückhaltend und staatstragend – eben
„diplomatisch“, wobei persönliche Ansichten keine Rolle
spielen dürfen. Eine rühmliche Ausnahme von diesem
Grundsatz macht da der Schweizer Ex-Diplomat Kurt O.
Wyss, der Jahrzehnte lang im auswärtigen Dienst seines
Landes tätig war – u.a. auch in den Botschaften in
Ankara und Damaskus. Er kennt also den Nahen Osten
bestens aus eigener Erfahrung und weiß sehr genau, was
er in seinem Buch „Wir haben nur dieses Land. Der
Israel-Palästinenser-Streit als Mutter aller
Nahost-Konflikte“ schreibt. Der Autor redet nicht um die
Sache herum, seine Kritik an der israelischen Politik
ist klar, eindeutig und gut belegt, und seine Sympathien
gelten nicht den „Opfern“, die sich ständig als solche
bezeichnen und daraus ihre unbeschränkte
Handlungsfreiheit ableiten, sondern den wirklichen
Opfern in dieser Auseinandersetzung: den Palästinensern.
Wyss
fragt in einem Kapitel ganz ernsthaft, ob Israel ein
„verrückter Staat“ ist. Das klingt provozierend, soll es
sicher auch sein. Man muss aber gar nicht unbedingt
Aussagen von Siedlern (der neuen mächtigen Schicht im
israelischen Establishment) – wie der Autor es tut –
heranziehen, die davon schwärmen, dass Israel „ein
wahnsinniger Staat“ sein soll, damit die Leute
„begreifen, dass wir ein wildes Land sind, gefährlich
für unsere Nachbarn, nicht normal“, durchaus in der
Lage, „die Ölfelder abzufackeln“ oder „den dritten
Weltkrieg zu beginnen, einfach nur so.“ Sollte Günter
Grass mit seinem Israel-Gedicht doch nicht so ganz
Unrecht gehabt haben?
Der Autor
lässt auch den früheren Außenminister Avigdor Lieberman
zu Wort kommen. Dieser Araberhasser kann offen dafür
plädieren, die Palästinenser aus dem Westjordanland zu
vertreiben – und auch die in Israel lebenden
Palästinenser (immerhin 20 Prozent der israelischen
Bevölkerung) gleich mit. Dieser Mann kann öffentlich
bekennen, dass man den „Anderen“ (das sind nach
israelischer Sprachregelung Araber und Palästinenser)
Angst einjagen müsse, statt selbst in Angst leben zu
müssen. Wie er sich das vorstellt, hat er hinzugefügt:
„Israel muss ein für alle Mal verrücktspielen, um etwas
zu ändern“, soll heißen: in der Region Ordnung schaffen.
Ariel Sharon hat sich immer wieder ähnlich geäußert:
„Sie [die „Anderen“] müssen Angst vor uns haben“, womit
er das israelische Abschreckungskonzept rechtfertigte.
Solche
Äußerungen gibt es von israelischen Spitzenpolitikern zu
Hauf. So erklärte die als gemäßigt geltende israelische
Außenministerin Tzipi Livni: „Israel ist ein Land, das
durchdreht, wenn auf seine Bürger geschossen wird – und
das ist gut so!“ Die Rechtsextremen, die früher in
Israel als „Verrückte“ galten, sitzen heute im Kabinett
von Benjamin Netanjahu an den Schaltstellen der Macht.
Das Land ist deshalb auf einem sehr gefährlichen Weg.
Das sehen auch einsichtige und aufgeklärte Israelis mit
großer Sorge – wie etwa der frühere Präsident der Jewish
Agency und Ex-Sprecher der Knesset Abraham Burg. Für ihn
hat die „Erosion“ in der israelischen Gesellschaft schon
begonnen. Wyss zitiert ihn mit der Worten: „Ihre [der
extremen Rechten in Israel] kranke Sichtweise droht
Israel zu zerreißen. Begriffe wie Vertreibung, Tod,
Aushungern und Verfolgung gehören inzwischen zum
politischen Dialog, und nicht einmal das Kabinett bildet
darin eine Ausnahme. Ihre Stimmen sind laut und deutlich
zu hören, oft vom Rednerpult der Knesset, wenn sie über
Gaza, Judäa und Samaria und Südlibanon reden. Derselbe
Geist, dieselben Worte und dieselbe Logik: Juden und
Israelis sind zu Schlägern geworden.“ Und: „Oft habe ich
das unbehagliche Gefühl, dass Israel gar nicht weiß, wie
es ohne Konflikte leben soll. Ein friedliches, ruhiges
Israel ohne plötzliche Ausbrüche von Ekstase,
Melancholie und Hysterie wird es einfach nicht geben.“
Es liegt
also etwas äußerst Tragisches und zugleich sehr
Gefährliches in der Entwicklung dieses Staates, der von
seiner Ideologie und Mentalität her nicht in der Lage
ist, Zugeständnisse zu machen oder Kompromisse
einzugehen, sondern nur die „Lösung“ der Gewalt kennt,
weil immer die „Anderen“ schuld sind. Wyss beschreibt
diesen sich immer wiederholenden Ablauf so: „Solange
man von Gerechtigkeit spricht und die Bevorzugung
Israels meint, solange muss sich das blutige Szenario
immer wieder von neuem abspielen: Die Militärmaschinerie
des jüdischen Staates schlägt von Zeit zu Zeit das als
bedrohlich empfundene palästinensische und arabische
Gegenüber mit samt seiner Bevölkerungsbasis in die
Unterwerfung und schafft eine trügerische Ruhe, womit
die Israelis durchaus leben können.“ Frieden so
verstanden bedeutet nicht Übereinkommen auf gleicher
Augenhöhe und Versöhnung mit dem „Anderen“, sondern
deren völlige Unterwerfung – der Preis für diese
Nicht-Lösung ist aber die immer währende Fortsetzung des
Konflikts. Permanenter Unfrieden eben.
Kurt O.
Wyss untersucht das Phänomen Israel und den Konflikt mit
den Palästinensern gründlich von allen Seiten und unter
allen Aspekten: seiner Geschichte, den Besonderheiten
der israelischen Gesellschaft, seiner zionistischen
Ideologie, seiner Sicherheits- und Militärpolitik sowie
seiner inneren Entwicklungen. Allein dieser Teil des
Buches macht seine Lektüre schon wertvoll. Der stärkste
Teil des Textes ist aber die Darstellung der
israelischen Außenpolitik und ihrer Auswirkungen auf die
Region. Hier vermittelt der ehemalige im Nahen Osten
tätige Diplomat die tiefsten Einsichten und Kenntnisse.
Seine Ausführungen zu diesem Themenbereich sind insofern
hoch aktuell, weil sie die derzeitige chaotische
Situation dort bestens erklären, die der Westen –
besonders die USA und Israel, aber auch die EU-Staaten –
in der Region mit ihrer Gewaltpolitik geschaffen haben.
Wyss
untersucht dabei immer ganz besonders die Rolle, die
Israel bei dieser Entwicklung gespielt hat. Gemäß dem
alten zionistischen Prinzip „je zersplitterter der Feind
desto besser für uns“ hat Israel von Anfang an versucht,
die arabischen Nachbarstaaten zu schwächen, um so eine
Neuordnung des Nahen Osten nach zionistischer
Vorstellung zu erreichen. Der erste Ministerpräsident
Israels, David Ben Gurion, hat sich öfter in dieser
Weise geäußert, und Ariel Sharon hat das die
„Wiederbelebung des Osmanischen Reiches“ genannt, womit
er natürlich die israelische Hegemonie über die ganze
Region meinte. Der erste israelische Außenminister,
Moshe Sharett, hat überliefert, dass Ben Gurion und
Moshe Dajan schon kurz nach der Staatsgründung den
Libanon besetzen und dort ein den zionistischen Führern
genehmes maronitisches Regime einsetzen wollten. Israels
spätere Politik und Kriege dienten immer diesen
expansionistischen Zielen.
Wyss
belegt ausführlich, wie eng die Zusammenarbeit zwischen
den amerikanischen Neocons (der politischen Richtung,
der auch Präsident George W. Bush angehörte) und Israel
war und dass beide keineswegs eine Friedenslösung für
den Nahen Osten anstrebten, sondern die Umgestaltung der
Region zu einer pax americana-hebraica zum Ziel hatten.
Auch wenn Bush mit pathetischer Rhetorik vom „Kampf
gegen den Terror“ und von der „Demokratisierung der
muslimischen Welt“ sprach, war das nichts als eine
Tarnung von Machtinteressen. Wyss schreibt: „Als Teil
einer Hidden Agenda galt es, die amerikanische
Erdölversorgung sicherzustellen, und gleichzeitig sollte
mit der Eliminierung des Regimes von Saddam Hussein dem
befreundeten Israel der stärkste arabische Widersacher
aus dem Weg geräumt werden, gleichsam als Voraussetzung
für Fortschritte im israelisch-palästinensischen
Konflikt.“
Israels
Regierung und das Oberkommando der Armee standen voll
hinter dem Krieg, den die USA 2003 im Irak führten.
Peter Scholl-Latour hat schon damals angemerkt, dass der
israelische Generalstab besser über die amerikanischen
Irak-Pläne informiert gewesen sei als die
NATO-Verbündeten. Die Israelis rieten zum „robusten
Vorgehen“ im Irak. Opferzahlen spielten dabei keine
Rolle. Israel versprach sich vom Sturz Saddam Husseins
eine „Lösung“ des Konflikts mit den Palästinensern, weil
diese dann einen starken Verbündeten verlieren würden
und zu der Überzeugung kommen müssten, dass sich Gewalt
nicht lohne. Israel ist also immer dabei, wenn die USA
im Nahen und Mittleren Osten Krieg führen, auch wenn es
gar nicht mit interveniert.
Das gilt
auch für den gegenwärtigen Krieg in Syrien. Ein
Zerfallen dieses Staates in ein Patchwork
ethno-religiöser Gemeinschaften wie im Irak schon
geschehen, wäre ganz im Sinne Israels. Wyss schreibt:
„Die Schwächung dieser beiden arabischen Hauptfeinde des
jüdischen Staates, die von den USA auf Betreiben Israels
im Irak militärisch erzwungen wurde und in Syrien mit
verdeckter Unterstützung der Aufständischen gefördert
wird, soll mittel- und längerfristig dem jüdischen Staat
zugutekommen. Die hegemoniale Stellung Israels wird
verstärkt, was wiederum die Vorherrschaft über die einer
nationalen Selbstbestimmung beraubten Palästinenser
zementieren helfen soll. Diese Vorstellungen zeigen den
expansionistischen Weg, den Israel seit dem
Sechstagekrieg von 1967 gegangen ist. Die
Grundkonzeption zielt auf ‚Hegemonie’. Israel ist
mittlerweile ‚so stark geworden, dass es die
Destabilisierung der gesamten Region avisieren kann.‘“
An der
chaotischen Situation im Nahen Osten, die vor allem die
amerikanische Gewaltpolitik dort angerichtet hat und die
sich durch die Flüchtlingsströme auch massiv auf Europa
auswirkt, hat also auch Israel seinen Anteil – auch wenn
es nur im Hintergrund wirkt. Ob Israel diese Rolle gut
bekommt und zu seinem Nutzen sein wird, bezweifelt der
Autor zu Recht. Frieden in dieser so leidgeprüften
Weltgegend kann es nur geben, so seine Voraussage, wenn
Israel Abschied nimmt von der bisher vorherrschenden
strategischen Doktrin, die die jüdische Vormacht als
allein gültige Richtlinie im regionalen Umfeld sieht.
Mit anderen Worten des Autors: Die islamische Welt wird
gegenwärtig nur negativ wahrgenommen, sie wird ständig
zu der Einsicht gezwungen, dass Israel tun und lassen
kann, was es will. Aber einer pax hebraica wird sich die
arabische Welt nicht fügen.
Wyss
hofft auf einen israelischen Michail Gorbatschow, der
die erstarrten Strukturen des zionistischen Staates und
seiner Ideologie auflösen und das Land zur
Friedensbereitschaft führen kann. Das Erscheinen eines
solchen „Erlösers“, der Glasnost und Perestroika bringt,
setzt aber im Vorfeld zumindest in Teilen der
israelischen Gesellschaft einen Paradigmenwechsel und
einen Bewusstseinswandel voraus, der aber – sieht man
von der kleinen Minderheit des „anderen“,
humanistisch-universalistisch gesinnten Israel ab –
nirgends in Sicht ist. Das ist aber kein Einwand gegen
den Autor, der mit großem Mut ein wichtiges, weil sehr
aufklärerisches Buch über Israel geschrieben hat, das
man nur weiter empfehlen kann.
Kurt O. Wyss, Wir haben nur dieses Land. Der
Israel-Palästinenser-Streit als Mutter aller
Nahostkonflikte, Stämpfli Verlag Bern. Die 2013
herausgekommene Erstausgabe ist vergriffen und
neuerdings als "2., aktualisierte Ausgabe" in
E-Book-Form unter ISBN 978-3-7272-1462-2 im Buchhandel (Amazon)
und beim Verlag erhältlich.
14.10.2015