Die
Bremer Evangelische Kirche und der Frieden im Nahen
Osten
Der Domgemeinde der Hansestadt ist die wöchentlich
stattfindende Mahnwache für eine friedliche Lösung des
Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern ein
Ärgernis
Arn Strohmeyer
Jeden
Samstag von 11.30 bis 12.30 Uhr demonstrieren seit
mehreren Jahren fünfzehn bis zwanzig Bremer Bürger vor
den Treppen des Doms für einen gerechten und dauerhaften
Frieden zwischen Israel und den Palästinensern. Die
Menschen, die hier mit ihren Transparenten stehen,
gehören keiner Partei oder Weltanschauungsgruppe an, sie
eint das gemeinsame Ziel des Endes des blutigen
Konflikts im Nahen Osten. Einige der Demonstranten sind
pensionierte Pastoren. Aber wenn man sich für einen
Frieden in dieser Region einsetzt, muss man die Dinge
beim Namen nennen: Wer dort einen Frieden durch seine
Besatzungs- und Landraubpolitik verhindert. Es ist der
israelische Siedlerkolonialismus, den die deutsche
Orientalistin Petra Wild so definiert: „Der
[zionistische] Siedlerkolonialismus ist eine spezifische
Form des Kolonialismus. Er basiert auf dem Raub des
Landes und der Ressourcen durch die Siedler, die aus
anderen Ländern kommen, während die einheimische
Bevölkerung verdrängt und ihre Gesellschaft und Kultur
zerstört werden. Zur Legitimation bedienten sich alle
siedlerkolonialistischen Projekte in der Vergangenheit
wie auch Israel in der Gegenwart eines ausgeprägten
Rassismus.“
Auf das
große Unrecht, das Israel seit Jahrzehnten einem ganzen
Volk antut, wollen die Demonstranten vor dem Dom
hinweisen. Sie wollen aufklären, denn über die Schrecken
und Brutalitäten der völkerrechtswidrigen
Besatzungspolitik berichten die deutschen Medien nicht –
aus Angst vor dem Antisemitismus-Vorwurf. So weisen die
Friedensfreunde auf ihren Transparenten darauf hin, dass
Israel permanent Land raubt, willkürlich Personen (sogar
Kinder) verhaftet und oft Jahre lang einsperrt; Häuser,
Brunnen, Felder und Olivenhaine der Palästinenser – also
die Lebensgrundlage dieser Menschen – zerstört, sie
hinter Mauern wegsperrt und ihnen Menschenrechte und
Selbstbestimmung verweigert.
Das ist
im deutschen Mainstream eine ungewöhnliche Sprache, denn
Israel gilt da immer noch als das kleine tapfere Volk
der Holocaust-Überlebenden, als die einzige Demokratie
im Nahen Osten, die umlagert ist von Feinden (noch dazu
von barbarischen und rückständigen Moslems), die dieses
Land vernichten wollen. Die Wirklichkeit ist eine ganz
andere – und genau über die wollen die Demonstranten
aufklären. Aber die Bremer Evangelische Kirche hat für
solche politische Realitäten kein Verständnis. Am 8.
Juni 2012 gab die St. Petri Domgemeinde eine
Presserklärung heraus, in der sie den
Mahnwache-Demonstranten ausdrücklich verbot, mit ihren
Transparenten auf den Domtreppen zu stehen. Sie machte
von ihrem „Hausrecht“ Gebrauch und „untersagte diese
Versammlung auf ihrem Grund und Boden“. Die Gemeinde
sandte den Demonstranten sogar einen schraffierten
Lageplan, der genau kennzeichnete, wo das Kirchengelände
verläuft und der Stadtboden beginnt. Der Bürgersteig vor
den Domtreppen gehört nun aber nicht den Kirchen, und so
stehen die Demonstranten seitdem – mit Billigung des
städtischen Ordnungsamtes – „vor“ den Domtreppen.
Damit war
für die Kirche das Ärgernis aber nicht zu Ende. In ihrer
Pressemeldung distanzierte sie sich ausdrücklich von der
Mahnwache für den Frieden im Nahen Osten und bezeichnete
die wöchentliche Aktion als „anti-israelisch“, was wohl
nur ein anderes Wort für „antisemitisch“ ist. Man kennt
diese Argumentation nur zu gut: Wer sich heute für die
Einhaltung der Menschenrechte und des Völkerrechts für
die Palästinenser einsetzt, ist ein „Antisemit“. Dass
man mit einer solchen Diffamierung nur jede Diskussion
über Israels Politik ersticken will, ist auch kein
Geheimnis.
Auszüge
aus dem Schreiben der St. Petri Domgemeinde: „Die Gruppe
erweckt direkt vor dem Eingang eines kirchlichen
Wahrzeichens der Stadt Bremen und durch inhaltliche
Bezugnahme auf biblische Texte den Eindruck, ihre
Kundgebung stünde im Einklang mit den Positionen der
Domgemeinde und der Landeskirche. Dies ist nicht der
Fall. Die Bremische Evangelische Kirche und die St.
Petri Domgemeinde distanzieren sich ausdrücklich von den
dort vorgebrachten pauschalen und einseitig gegen Israel
gerichteten Provokationen. Die Lage im Nahen Osten ist
außerordentlich komplex. Als Christinnen und Christen
vertreten wir die Auffassung, dass Demagogie oder
Stimmungsmache diesen Konflikt nur verschärfen. Deshalb
setzen wir uns für Dialog und Verständigung ein. Nicht
zuletzt aufgrund der deutschen Geschichte steht das
Existenzrecht Israels für uns außer Zweifel. Das
schließt wie bei jedem anderen Staat ggf. differenzierte
Kritik zu einzelnen politischen Entscheidungen ein,
nicht aber eine pauschale Diffamierung des gesamten
israelischen Volkes. Die verbalen und inhaltlichen
Entgleisungen dieser Demonstranten lehnen wird
ausdrücklich ab.“
Dass
dieser Text voller falscher Behauptungen ist, sei nur am
Rande erwähnt. Denn nirgendwo haben die Demonstranten
Israels Existenz bestritten. Ganz im Gegenteil: Sie
weisen ausdrücklich darauf hin, dass Israel durch seine
gegenwärtige Politik die eigene Existenz gefährdet, was
von vielen Israelis genauso gesehen wird. Außerdem
kritisieren die Demonstranten nicht das israelische
Volk, sondern die Politik der Regierung dieses Staates.
Zudem: Kein vernünftiger Mensch hat etwas gegen Dialog
und Verständigung, wenn sie denn Aussicht auf Erfolg
haben, aber die israelische Seite hat in Jahrzehnten mit
ihrer Politik der Stärke und der vollendeten Tatsachen,
also des Schaffens von Fakten – etwa dem Bau von
Siedlungen auf palästinensischem Boden – bewiesen, dass
sie von Verhandlungen überhaupt nichts hält. Der
Zionismus hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass er
ganz Palästina für sich beansprucht und dass man nicht
bereit ist, das Land mit den Palästinensern zu teilen.
Am 12.
April 2014 erschien nun bei den Demonstranten vor den
Domtreppen eine Dame, die sich als Vertreterin des
Dom-Vorstandes vorstellte und sehr gewandt und
rhetorisch versiert erneut die Kritik der Gemeinde
vorbrachte. Sie hätte natürlich volles Verständnis für
das Anliegen der Demonstranten. Sie bat aber darum,
künftig einen anderen Standort für diese Aktion
aufzusuchen. Der Dom sei ein religiöses Gebäude, da
passe eine solche politische Demonstration nicht hin.
Die Teilnehmer der Mahnwache sollten sich doch lieber
vor ein politisches Gebäude – etwa die Bürgerschaft –
stellen, das sei doch viel angemessener. Diese
wöchentliche Demonstration vor dem Dom erwecke zudem den
Eindruck, als handele es sich um eine kirchliche
Veranstaltung und diesen Eindruck wolle die Domgemeinde
unbedingt vermeiden, wiederholte sie das schon in der
Presseerklärung aufgeführte Argument.
Und
schließlich: Die Mahnwache würde das Verhältnis der
Bremischen Evangelischen Kirche zur Jüdischen Gemeinde
belasten, das man mit viel Mühe bereinigt habe. Von dort
komme der „Antisemitismus“-Vorwurf, weil die Mahnwache
in Verbindung mit dem Dom gebracht werde. Auf den
Einwand, dass die Teilnehmer hier für einen Frieden im
Nahen Osten stünden und das müsste doch eigentlich auch
ein kirchliches Anliegen sein, ging die Dame nicht ein.
Die Mitglieder der Mahnwache stimmten anschließend
darüber ab, ob sie den Standort wechseln sollten. Man
war einstimmig dafür, vor den Domtreppen zu bleiben.
Der
Streit, der in Bremen nun schon seit Jahren anhält, hat
einen ganz konkreten theologischen Hintergrund, der die
gesamte Kirche betrifft, nicht nur die der Hansestadt.
Als erster hat 2011 der amerikanisch-jüdische
Psychotherapeut Mark Braverman mit einem anklagenden und
deshalb aufsehenerregenden Buch eine größere
Öffentlichkeit auf das Dilemma der Kirchen mit dem
Nahost-Konflikt hingewiesen. Es trägt den Titel;
„Verhängnisvolle Scham. Israels Politik und das
Schweigen der Kirchen“. Der Autor erinnert die Kirchen
daran, dass sie schon einmal geschwiegen bzw. mitgemacht
haben, dass sie aus diesem verhängnisvollen Fehltritt
aber die falschen Schlüsse gezogen haben.
Braverman
attackiert vor allem die Nach-Auschwitz-Theologie, der
alle Landeskirchen in Deutschland anhängen. Die Christen
– so schreibt er – hätten 1945 vor den Öfen von
Auschwitz gestanden und sich gefragt: „Was haben wir
getan?“ Als Konsequenz dieser Frage habe man die eigene
protestantische Theologie in einem schmerzlichen Prozess
einer Prüfung unterzogen, um sie von allen bisher
vertretenen antijüdischen Glaubenssätzen zu „reinigen“ –
etwa der „Überwindung des Judentums durch das
Christentum“. So sollte eine Brück der Versöhnung zum
jüdischen Volk gebaut werden.
Die
Theologie, die dabei herausgekommen ist, unterstützt –
motiviert aus einer Haltung der Buße für die Schuld der
Christen am Völkermord der Nazis – den Anspruch der
Juden auf das Land Palästina: „Diese revidierte
Theologie beinhaltet die Rückkehr zu einem archaischen
[alttestamentarischen] Gottesbild, zu einem Gott, der
sich an einen bestimmten geografischen Ort bindet und
einem bestimmten Volk den Vorzug gibt. Es hat das
Christentum, das die Menschheit aus dem Partikularismus
herausführte, dazu gebracht, eine gefährliche,
anachronistische Ideologie von Landbesitz und Eroberung
zu billigen.“
Der Drang
zur Reue und die Sehnsucht nach einer Erneuerung der
geistigen und kulturellen Nähe zum jüdischen
„Mutterglauben“ habe bei den Christen zu einer
„verhängnisvollen Scham“ geführt, die sich politisch
äußerst negativ auswirke. Man befürchtet, dass ein
Eintreten für Gerechtigkeit in Palästina die mühsam
aufgebauten christlich-jüdischen Beziehungen gefährden,
ja zerstören könne. Dazu kommt die Angst, des
Antisemitismus bezichtigt zu werden, wenn man die
Menschenrechtsverletzungen Israels kritisiert. Braverman
bezeichnet den gegenwärtigen Konflikt, in dem sich
Theologie und Kirchen im Drang zur Sühne für die
NS-Verbrechen und der dringenden Notwendigkeit, das den
Palästinensern angetane Unrecht zu beseitigen, befinden,
als „tragisch“.
Aber die
Christen müssen ihn lösen, ihnen bleibt keine andere
Wahl: „Die dringende Herausforderung besteht darin, nach
vorne zu sehen. Die Aufgabe, der sich die
Glaubensgemeinschaften heute gegenüber sehen, ist es
nicht, einen christlich-jüdischen Dialog um seiner
selbst willen zu führen oder eine Versöhnung im Hinblick
auf vergangene Sünden und Tragödien zu erreichen.
Vielmehr ist gewissenhaft und bewusst das Augenmerk
darauf zu richten, die Grundursache für den
israelisch-palästinensischen Konflikt zu beseitigen: die
Vertreibung der Palästinenser und die Etablierung von
Apartheidsstrukturen der Diskriminierung. Wir stehen vor
einer prophetischen Herausforderung, die uns vereinigen
muss – dabei ist es ohne Bedeutung, ob wir Christen,
Juden, Muslime, Amerikaner, Deutsche, Südafrikaner oder
Israelis sind.“
Inzwischen haben zwei deutsche Theologen in einem Buch
die Angriffe auf die Nach-Auschwitz-Theologie
fortgesetzt. (Peter Bingel und Winfried Belz: Israel
kontrovers. Eine theologische Standortbestimmung, Zürich
2013) Das Fazit der beiden Autoren lautet: „Es ist
völlig klar, dass das israelische Judentum mit seinen
Organisationen und Institutionen vor und erst recht nach
der Staatsgründung im Zusammenhang mit der ‚Heimkehr‘
unendliches Leid über Millionen arabische Menschen
gebracht hat. Völkerrechtswidrig besetzte, zerstörte,
raubte und raubt der israelische Staat fortschreitend
palästinensisches Land. Er vertrieb Hunderttausende,
tötete Zehntausende, hält Millionen
arabisch-palästinensische Menschen unter brutaler
Besatzungsherrschaft und in absichtlich herbeigeführtem
Elend, um unter dem Vorwand von Sicherheitsinteressen
dem zionistischen Ziel, ganz Palästina zu einem
araberfreien jüdischen Land zu machen, immer näher zu
kommen. Den israelischen Landanspruch über die
Waffenstillstandslinie von 1949 hinaus von christlicher
Seite zu unterstützen, ist auf dem Boden christlicher
Ethik in keiner Weise zu rechtfertigen. (...) Die
Nach-Auschwitz-Theologie setzt jedoch in ihrer bewussten
Verdrängung aktueller ethisch-politischer Fragen –
konkret der Fragen des Völkerrechts und der
Menschenrechte – an die Stelle eines mit Recht beklagten
antijüdischen Rassismus implizit einen projüdischen
antiarabischen oder antipalästinensischen Rassismus.“
Das
Vorwort zu Bravermans Buch hat der Pfarrer der
Evangelisch-Lutherischen Weihnachtskirche in Bethlehem,
Mitri Raheb, geschrieben – ein Mann, der die Realitäten
vor Ort bestens kennt. Er konstatiert, dass es höchste
Zeit für einen Paradigmenwechsel im christlich-jüdischen
Dialog ist: „Dafür steht Mark Braverman und dafür stehe
ich. Ich hoffe, dass Marks Stimme Gehör in der deutschen
kirchlichen Landschaft findet. Marks Stimme könnte der
nötige Kuss sein, der die deutschen Kirchen aus ihrem
Dornröschenschlaf weckt bzw. jene deutsche
Israel-Theologen aus ihrer babylonischen Gefangenschaft
befreit.“
Ob die
Vertreter der Bremer Evangelischen Kirche schon von
diesen ganz neuen Denkanstößen zu einem Dialog für einen
Frieden im Nahen Osten gehört haben?
24.04.2014