Abrechnung mit Israels manipulativer Verwendung des
Antisemitismus-Begriffs
Arn Strohmeyer, „Antisemitismus –
Philosemitismus und der Palästina-Konflikt: Hitlers
langer verhängnisvoller Schatten“
Rezension von
Kurt O. Wyss
Das Buch des aus Bremen stammenden
Autors und Journalisten Arn Strohmeyer, der
Philosophie, Soziologie und Slawistik studiert
hatte, greift ein brisantes Thema auf: es setzt sich
mit dem ständig wiederkehrenden Vorwurf des
Antisemitismus auseinander, wenn es um den
jahrzehntealten Konflikt Israels mit den
Palästinensern geht.
Die Fakten sind klar: die ethnische
Säuberung von 1947/48 mit der Vertreibung von fast
800‘000 alteingesessenen Palästinensern, der Raub
ihres Landes und Eigentums, die Wiederholung dieses
Vorgangs im Krieg von 1967 (Vertreibung von weiteren
300‘000 Menschen), die Besetzung und Besiedlung des
Westjordanlandes sowie die Abriegelung und
Unterdrückung der im Gazastreifens lebenden
Bevölkerung, die willentliche Aufsplitterung und
Zerstörung der palästinensichen Gesellschaft und
Kultur – all das sind Prozesse, die mit der
Aufrechterhaltung eines brutalen Besatzungsregimes
bis heute andauern und von den israelischen
Regierungen mit einer rigiden „Judaisierungs“-Politik
aktiv betrieben werden.
Diese Vorgehensweise ruft zunehmend
heftige Kritik an Israel hervor, was bei
israelischen Politikern und Sympathisanten des
jüdischen Staates ein Gefühl des argumentativen
Notstandes erzeugt. Deshalb wird zum Allzweckmittel
des Antisemitismus-Vorwurfs gegriffen, der stets nur
ein Ziel verfolgt: Die in der Sache berechtigte und
deshalb rationale Kritik an Israels Politik
abzuwehren, wobei es sehr oft auch zu Beschimpfung,
Diffamierung und Denunziation kommen kann.
Es ist das Verdienst von Arn
Strohmeyer, dass er den häufig verwendeten Begriff
„Antisemitismus“ genau unter die Lupe nimmt.
Sozusagen als Annäherung an das Thema wirft er einen
Blick auf den altüberlieferten Antisemitismus, den
er kurz wie folgt definiert: „Feindschaft gegenüber
Juden, unabhängig davon, was sie tun oder denken,
weil sie Juden sind“. Und er stellt sich die Frage,
ob es eine neue Welle des Judenhasses gebe
Strohmeyer erwähnt eingangs als
Beispiel die Demonstrationen von Zehntausenden in
Deutschland gegen den von der hoch überlegenen
Militärmacht Israel als „Selbstverteidigung“
geführten Krieg von Sommer 2014 gegen den
Gazastreifen, bei dem auf palästinensischer Seite
über 2000 Menschen getötet wurden – darunter etwa
300 Kinder – und die ganze Infrastruktur weitgehend
zerstört wurde. Wie immer bei solchen gewaltsamen
Auseinandersetzungen fällt die Opferratio eindeutig
zu Ungunsten der sich gegen die Unterdrückung
wehrenden Palästinenser aus. Die offizielle
Staatenwelt und die Medien hielten sich einmal mehr
zurück und kaum jemand fragte nach der
Angemessenheit oder sogar nach der moralischen und
völkerrechtlichen Berechtigung des israelischen
Vorgehens.
Da bei diesen Demonstrationen gegen
Israels Krieg auch von muslimischen Jugendlichen
Schmäh- und Hetzparolen gebrüllt und auf
Transparenten gezeigt wurden, sahen sich Vertreter
der deutschen Politik, der jüdischen
Interessensvertretungen und der Main-Stream-Medien
veranlasst, von einer „neuen Welle des
Antisemitismus“ zu sprechen. Als dann noch
islamistische Terroristen in Paris und Kopenhagen
Anschläge verübten, von denen auch Juden betroffen
waren, stand für die Vertreter und Verteidiger
Israels endgültig fest, dass Europa einen Rückfall
in allerschlimmsten Antisemitismus erlebe.
Strohmeyer kommt zum Schluss, dass
man genau hinschauen müsse, ob es sich um wirklichen
Judenhass à la Reichskristallnacht von 1938 und
Folgezeit handle oder doch eher um einen von Israels
Politikern und Propagandisten vorgeschobenen
Antisemitismus-Vorwurf, der als Feigenblatt zur
Kaschierung eigener aggressiver Aktionen gegenüber
den Palästinensern zu dienen hat. Was die Proteste
von Moslems in Europa gegen Israels Politik
anbelangt, äussern selbst viele Juden Zweifel, ob es
sich wirklich um Antisemitismus handelt. Diese
Moslems sehen – im Gegensatz zu Fernsehzuschauern in
westlichen Ländern – ständig in den arabischen
TV-Sendern die brutalen Praktiken der israelischen
Besatzer. Empörung und Hass sind da eigentlich
normale Reaktionen.
Der Autor lässt verschiedene Juden zu
Wort kommen, die der Meinung sind, dass der
Antisemitismus kaum noch eine Gefahr für sie
darstellt. Er zitiert den israelischen
Literaturwissenschaftler Ran Ha Cohen, der jetzt,
zwei Generationen nach dem grassierenden
Antisemitismus in den meisten westlichen Staaten und
dem Holocaust, noch deutlicher formuliert: „Es wird
höchste Zeit laut zu sagen: Im gesamten Verlauf der
jüdischen Geschichte seit dem Babylonischen Exil im
6. Jahrhundert v.u.Z. gab es noch nie eine Epoche,
die mit weniger Antisemitismus gesegnet war als
unsere. Es gab nie eine bessere Zeit, als Jude zu
leben als unsere.“
Es ist somit relativ leicht, den
„klassischen Antisemitismus“ zu definieren, aber
sehr viel schwerer, den angeblich „neuen“ in
Begriffe zu fassen. Strohmeyer führt das auf die
Spaltung der Juden in Partikularisten und
Universalisten zurück. Er weist nach, dass es in der
gesamten Geschichte des Judentums schon immer zwei
gegensätzliche Tendenzen gegeben hat: Zwischen
partikularistischer Absonderung und Isolation auf
der einen und universalistischer Offenheit und
Öffnung auf der anderen Seite, zwischen
Nationalismus bzw. früher Tribalismus und dem auf
humanistischen Werten basierenden Universalismus,
zwischen ethnischem Fanatismus und Toleranz. Mit dem
Erstarken des Zionismus und nach dem Schrecken des
Holocaust hat sich in der Staatsideologie Israels
eine exklusive, ethnisch-partikularistische,
nationalistische Strömung des Zionismus
durchgesetzt.
Den zionistischen Partikularisten ist
es gelungen, jede Kritik an Israels Politik – gerade
auch was die Behandlung der Palästinenser anbelangt
– als „antisemitisch“ zu diffamieren, wodurch der
Begriff so banalisiert wurde, dass er seine
ursprüngliche Bedeutung völlig verlor. Neben
verschiedenen anderen jüdischen Autoren zitiert
Strohmeyer in diesem Zusammenhang den israelischen
Anthropologen Jeff Halper: „Die Bagatellisierung
[des Antisemitismus-Begriffs] ist der Mechanismus,
mittels dessen wir in der Lage sind, Tatsachen, die
der Logik des [israelisch-zionistischen]
Bezugsrahmens widersprechen, auszublenden. Wenn wir
uns auf Probleme nicht einlassen wollen, dann wirkt
dieser auch wie ein Filter: Was ‚passt‘, wird
einbezogen, was nicht passt, wird herausgefiltert
als ‚anti-israelisch‘, ‚anti-zionistisch‘,
‚antisemitisch‘ oder ‚linksgerichtet‘ und als im
Kern feindlich zurückgewiesen.“ Weil jüdische
Kritiker der israelischen Regierungspolitik nicht
antisemitisch sein können, werden sie kurzum als
„jüdische Selbsthasser“, „Nestbeschmutzer“ und
„Verräter“ eingestuft und entsprechend
marginalisiert.
Strohmeyer weist nach, dass der
Antisemitismus geradezu ein wichtiger Teil des
Zionismus geworden ist – „sozusagen das
konstituierende Element des Zionismus“: der
Antisemitismus wird offiziell lauthals beklagt, aber
das zionistische Israel braucht ihn unbedingt zur
Bestätigung seiner Existenz und empfindet wegen der
Möglichkeit neuer jüdischer Einwanderung
klammheimliche Genugtuung. Dazu kommt der Anspruch
Israels, für alle Juden weltweit zu sprechen und zu
handeln und alle nicht- oder antizionistischen
Stimmen dabei an den Rand zu drängen. Der Autor
erwähnt in diesem Zusammenhang den israelischen
Ministerpräsidenten Netanjahu – einen Meister der
manipulierten Panikmache -, der nach den
Terroranschlägen des Jahres 2015 in Paris die
französischen Juden sehr zum Ärger der französischen
Regierung aufforderte, umgehend ins sogenannt
sichere Israel zu kommen.
Für Strohmeyer erreicht der
Missbrauch des Antisemitismus-Vorwurfs mit der
Instrumentalisierung des Holocaust einen ungeahnten
Höhepunkt. Er zitiert in diesem Zusammenhang den
bereits erwähnten israelischen
Literaturwissenschaftler Ran Ha Cohen von den
Universität Tel Aviv mit den Worten: „Der Missbrauch
von angeblichem Antisemitismus ist moralisch
verabscheuungswürdig. Es waren Hunderte von Jahren
nötig und Millionen von Opfern, um Antisemitismus –
eine spezielle Form von Rassismus, der historisch
zum Genozid führte – in ein Tabu zu verwandeln.
Menschen, die dieses Tabu missbrauchen, um Israels
rassistische und genozidale Politik gegenüber den
Palästinensern zu unterstützen, tun nichts anderes,
als die Erinnerung an jene jüdischen Opfer zu
schänden, deren Tod aus humanistischer Perspektive
nur insofern Sinn hat, als er eine ewige Warnung an
die Menschheit ist vor jeder Art von
Diskriminierung, Rassismus und Genozid.“
Laut Strohmeyer haben es die
israelischen Zionisten verstanden, den von den Nazis
begangenen industriellen Mord zu einer
ausschliesslich und „einzigartigen“ jüdischen
Tragödie zu machen. In der westlichen Erinnerung an
die Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis
sind denn auch alle anderen Opfer kaum haften
geblieben, wie etwa Sinti und Roma, geistig
Behinderte, Angehörige des sozialistischen und
kommunistischen Untergrunds, Zeugen Jehovas,
Homosexuelle, polnische Intellektuelle sowie
sowjetische Kommissare und Offiziere. Sie sind
gemäss dem israelischen Historiker Shlomo Sand
„durch die hegemonialen Erinnerungsnetzwerke ein
weiteres Mal ausgelöscht“ worden.
Strohmeyer erwähnt in dem an Paradoxa
reichen Buch auch das pikante Detail, wonach
ausgerechnet die israelischen Zionisten anfänglich
nichts mit den jüdischen Holocaust-Überlebenden
anzufangen wussten: Diese traurigen, ausgemergelten
Gestalten hätten sich nicht gegen die Nazi-Furie
aufgelehnt und sich wie Schafe auf die Schlachtbank
führen lassen; sie bildeten einen krassen Gegensatz
zum neuen wehrhaften Juden in Palästina.
Eine Kernaussage Strohmeyers ist es,
dass es den jüdischen Israelis gelungen ist, den
Konflikt mit den Palästinensern als die Fortsetzung
ihrer Verfolgungsgeschichte in Europa umzudeuten,
die im Holocaust gipfelte. Das führte zur paradoxen
und absurden Situation, dass sich die militanten
zionistischen Neueinwanderer als die Angegriffenen,
also als die eigentlichen Opfer fühlten und fühlen.
Die wirklichen Angegriffenen – die alteingesessenen
Palästinenser – wurden und werden zu den
eigentlichen Tätern gemacht. Die Rollen von Tätern
und Opfern wurden also in ihr Gegenteil verkehrt.
Aus der Vermischung des Palästina-Konflikts mit dem
Holocaust ergibt sich für Israel automatisch, „dass
die Palästinenser die ‚neuen Nazis‘ sind, die Israel
zerstören wollen“.
Die Folgen sind in den Worten des
Autors von weitreichender Bedeutung: „Die Verkehrung
machte es auch möglich, dass die Israelis ihre
Schuld, die Palästinenser im Verlauf des
zionistischen Kolonisierungsprozesses vertrieben zu
haben, leugnen konnten. Israel verdrängt die Fakten
seines Vorgehens gegen die Palästinenser bis heute.“
Eine Aufarbeitung des gewaltsamen
Vorgehens gegen die Palästinenser – etwa die Nakba,
die nationale Katastrophe – ist für die israelischen
Juden deshalb so schwierig, weil damit laut Autor
die Grundlagen des zionistischen Projekts insgesamt
in Frage gestellt würden. Das ist auch mit ein Grund
dafür, weshalb Israel unfähig ist, einer
Friedenslösung zuzustimmen, die gemäss den
entsprechenden UNO-Resolutionen für die
Palästinenser einen eigenen Staat in den Grenzen von
vor dem Krieg von 1967 vorsieht. Indem sich Israel
selbst zum Opfer erklärt, kann es sich völlig aus
der Verantwortung stehlen und hält dann immer die
Ausrede bereit, ‚die ganze Welt ist sowieso gegen
uns‘.
Die massgebenden Mächte der Welt
zeigen sich bisher nicht gewillt, den nötigen Druck
auf den jüdischen Staat auszuüben, um diesem
unhaltbaren Zustand ein Ende zu bereiten.
Diesbezüglich spielen die USA die entscheidende
Rolle. Dort bilden die Zionisten die entscheidenden
Mehrheiten in den amerikanisch-jüdischen
Organisationen. Strohmeyer führt diesen Sachverhalt
auf die Wende zurück, als die massgebenden grossen
jüdischen Organisationen in den Vereinigten Staaten
zur Kenntnis nehmen mussten, dass die Alliierten –
die USA und England – im Zweiten Weltkrieg gegen den
Hitler-Faschismus nichts taten, um die europäischen
Juden vor der Vernichtung durch die Nazis zu retten.
Dieses niederschmetternde Erlebnis führte dazu, dass
die Sympathie für die Zionisten ständig wuchs, auch
wenn es weiter jüdische Universalisten gibt und die
Trennlinien sich verwischen.
Spezielle Aufmerksamkeit widmet
Strohmeyer den Zusammenhängen zwischen
Antisemitismus und Philosemitismus, die gerade für
Deutschland in hohem Masse zutreffen.
Für den Autor gab es in Deutschland
nach den furchtbaren antisemitischen Exzessen der
Hitler-Zeit keinen Aufschrei des Entsetzens, als
Einzelheiten aus den Vernichtungslagern bekannt
wurden, sondern es folgte das grosse Schweigen, die
grosse Sprachlosigkeit, die alles verhüllte, was
geschehen war. Weil aber infolge kaum erfolgter
Trauerarbeit keine wirkliche Sinnesänderung
stattgefunden habe, hätte sich das anti-jüdische
Stereotyp in den Jahren nach 1945 langsam in
Richtung Philosemitismus verschoben. Philosemitismus
wird durch den Theologen Martin Stöhr definiert „als
gefühlsmässige, überschwängliche Zuneigung zu Juden
und dem Staat Israel, die jedes kritische Sehen und
jede exakte Information ausser Acht lässt“ und sich
von jeder Verantwortung freispreche. Von dieser
Maxime lassen sich nach Strohmeyer die deutsche
Politik, der überwiegende Teil der Medien und sehr
viele Deutsche in ihrer Einstellung zu Israel bis
heute leiten: „Der Philosemitismus ist in der
deutschen Politik sozusagen ‚Staatsräson‘.“ Der
Autor erwähnt Beispiele, wie sehr sich deutsche
Politiker von den Israelis manipulieren lassen,
beispielsweise mit der Lieferung von atomar
ausrüstbaren U-Booten. Der deutsche Journalist Ernst
Tugendhat spricht vom „Einknicken“ der Deutschen vor
israelischen Forderungen.
Bei allen Unterschieden in den
Dimensionen des Unrechts und der Verbrechen sieht
Strohmeyer gewissen Ähnlichkeiten zwischen der
verweigerten Aufarbeitung der Nazi-Gräuel in der
Bundesrepublik der Anfangsjahre und der Unfähigkeit
der israelischen Gesellschaft, die eigene
Unrechts-Vergangenheit aufzuarbeiten – mit der Folge
der politischen Stagnation und Immobilität, die für
den Autor „inzwischen bei Israel bis zur
Existenzbedrohung geführt hat“.
Die Leidtragenden dieser Politik sind
die Palästinenser, die Strohmeyer „Opfer des zweiten
Grades“ oder die „Opfer der Opfer“ nennt. Sie
beklagen sich zu Recht, dass sie durch die Gründung
Israels den Preis für den Holocaust bezahlen
mussten.
Es gibt Bücher, die werden von den
Medien hochgelobt, damit sie möglichst viel gekauft
und gelesen werden. Und dann gibt es Bücher, die man
lieber versteckt halten möchte, denn sie enthalten
intellektuellen Sprengstoff und könnten ungeliebte
heisse Diskussionen entfachen.
Arn Strohmeyers gut recherchiertes
Buch gehört zur letztgenannten Kategorie. Gerade
deshalb ist ihm vor allem in Deutschland, aber auch
im übrigen deutschsprachigen Raum eine grosse
Verbreitung zu wünschen. Darin wird nämlich eine
Fülle von Fakten zusammengetragen und werden wenig
bekannte Zusammenhänge aufgezeigt, die zur
ungeschminkten Wahrheit über die jüdische
Ethnokratie - genannt Israel - beitragen helfen. Für
den Autor hängt „Israels Überleben“ in erster Linie
davon ab, ob es sein Verhältnis zu den
Palästinensern klären kann. Das bedeutet aber, dass
die Initiative dazu von Israel als dem Starken und
Übermächtigen zu erfolgen hat, indem es die Gefühle
von Hass und Bedrohtsein gegen die Palästinenser zu
einer Haltung des Verständnisses und der Zuneigung
umwandelt.
Die grosse Frage bleibt, auf die der
Autor nicht näher eingeht, ob diese Umwandlung
überhaupt ohne beträchtlichen Druck der Staatenwelt
zustande kommen kann.
Kurt O. Wyss - a. Botschafter
der Schweiz - Bern