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Palästinensische Bürger in
Israel:
schnell schrumpfender
ziviler Raum
Nadim
Nashif, Raya Naamneh
Al-Shabaka_13.01.2016
Israel
stellt sich noch immer als
jüdischer und demokratischer
Staat dar. In der Praxis
funktioniert es aber, wie seine
palästinensischen Bürger
bestätigen können, als
Ethnokratie, die für seine
palästinensischen Bürger nur
einen kleinen Raum für Freiheit
läßt, der in den letzten Jahren
ständig schrumpft. Jetzt ist der
israelische Staat unter die
komplette Kontrolle des
rechtsaußen-Flügels gekommen,
der nicht einmal eine
Notwendigkeit für so beschränkte
Freiheitsräume sieht. Das sieht
man in der Welle
diskriminierender Gesetzgebung
und die Anwendung von
Notstands-verordnungen gegen
etablierte
Nicht-Regierungs-Organisationen
(NGOs) und Bewegungen wie den
nördlichen Zweig der Islamischen
Bewegung in Israel.
Gezielt gegen
Organisationen und
Einzelpersonen, Palästinenser
und Israelis
Zu den vielen
Gesetze, die die israelische
Knesset (Parlament) und die
Regierung zur Einschränkung der
politischen Teilnahme und
Aktivität der palästinensischen
Bürger passiert haben, gehören
allein 2011 das "Anti-Boykott-Gesetz",
das die öffentliche
Werbung für Boykott
verbietet; das
"Nakba-Gesetz",
das die Palästinenser am
Gedenken ihrer Katastrophe
infolge der Gründung Israels
1948 hindert; und das Gesetz
gegen die
"Finanzierung durch fremde
Regierungen", das von
NGOs beschwerliche
Berichterstattung verlangt.
Diese haben die Möglichkeiten
palästinensischer Parteien, NGOs
und Aktivisten ihre Meinung frei
zu äußern und gegen die
israelischen Verbrechen
diesseits und jenseits der
Grünen Grenze zu protestieren,
schwer beeinträchtigt.
Ein in jüngerer
Zeit vom früheren Außenminister
und derzeitigen Knessetmitglied
(MK) Avigdor Liebermann
vorgelegter Gesetzesvorschlag
soll dem Obersten Gerichtshof
Israels verbieten, sich bei
Entscheidungen des Central
Elections Committee der Knesset
einzumischen, die MKs auf Grund
ihrer politischen Einstellung
disqualifizieren. Wenn dieses
Gesetz verabschiedet wird, wird
es sich direkt gegen
palästinensische Mks wie Haneen
Zouabi und ihre Partei "Balad –
die Nationale Demokratische
Allianz" richten, die schon
früher mit Versuchen
konfrontiert wurde, sie zu
disqualifizieren.
Zusätzlich zur
anvisierten politischen
Teilnahme auf Regierungsebene
hat Israel die Arbeit mehrerer
NGOs auf Gemeindeebene verboten
oder eingeschränkt. Es ist
wichtig zu beachten, dass es
sich bei den betroffenen NGOs
sowohl um palästinensische als
auch israelische Organisationen
handelt, die darum kämpfen, die
israelischen
Menschenrechtsverletzungen und
das Apartheidsregime, das es im
gesamten historischen Palästina
aufrechthält, bekanntzumachen.
Dazu gehört die
israelische NGO "Breaking the
Silence", eine Organisation
israelischer Veteranen, die für
die israelische Öffentlichkeit
die Realität des täglichen
Lebens in den besetzten
palästinensischen Gebieten
enthüllt. Vor kurzem hatte
Breaking the Silence geplant,
einen Vortrag in Beer Sheva zu
halten. Aber das
Magistratsgericht von Beer Sheva
unterzeichnete auf Verlangen der
Polizei, die sich darauf berief,
dass die "appropriate security
arangements" für die
Veranstaltung fehlten, eine
Order zum Verbot des Vortrags.
Obwohl die Polizei die nötigen
Sicherheitsmaßnahmen für die
Sicherheit der Veranstaltung
ergreifen hätte können, handelte
sie statt dessen im Auftrag
rechtsgerichteter Stimmen, die
nach einem Boykott von Breaking
the Silence riefen.
Es ist wichtig
sich klar zu machen, dass
Breaking the Silence nicht so
radikal ist wie Israel
behauptet. Es bleibt eine
Organisation, die zur
Verbesserung der israelischen
Gesellschaft und Regierung
innerhalb des Rahmens eines
jüdischen ethnokratischen
Staates arbeitet. Es wird zum
Beispiel dafür kritisiert, dass
es versagt, wenn es um die
Bekanntmachung von
Kriegsverbrechen israelischer
Generäle und militärischer
Führer geht. Die Tatsache, dass
es jetzt als außerhalb des
politischen israelischen
Mainstreams gilt, ist ein klares
Anzeichen für den stetigen
Aufstieg der israelischen
rechtsextremistischen Ideologie,
die jede Stimme ausschließt, die
die Aktionen der israelischen
Regierung kritisch sieht.
Ein anderes
Beispiel ist der kürzlich
veröffentliche Brief an "New
Israel Fund", das die
Einstellung der finanziellen
Unterstützung für die NGO
"Baladna – Vereinigung für die
arabische Jugend" fordert, die
Organisation, für wir beide
arbeiten. Er war auf die
Produktion eines Videos durch
Baladna gegen die Rekrutierung
palästinensischer Jugendlicher
für die israelische Armee
gefolgt. Dieser Brief war von
mehreren rechten MKs geschrieben
und unterzeichnet, darunter MK
Merav Ben-Ari und MK Miki Zohar,
die Mitvorsitzenden im
Knesset-Komitee für die
Unterstützung und Förderung der
Anwerbung von Minderheiten für
die IDF und den Civil Service.
Das
Anvisieren sowohl lokaler als
auch internationaler
Organisationen, die
palästinensische und israelische
linke jüdische NGOs finanziell
unterstützen, ist die Folge
davon, dass die israelische
Regierung NGOs über ihre eigenen
voreingenommenen Operationen und
ihre Zusammenarbeit mit
Organisationen wie dem
NGO
monitor NGOs systematisch
auf eine schwarze Liste setzt.
Die letzte
Entwicklung Israels in dieser
Richtung ging sogar der
US-Regierung zu weit. Der
Sprecher des State Departement
äußerte sich Anfang Januar
besorgt über einen
Gesetzesvorschlag von
Justizministerin Ayelet Shaked,
von Menschenrechts-aktivisten zu
verlangen in der Knesset
Kennzeichen zu tragen, dass sie
von ausländischen Körperschaften
finanziell unterstützt werden
und dies auch in ihren
Publikationen zu erwähnen. Der
Gesetzesvorschlag hat die
Unterstützung der
Regierungskoalition bekommen,
und der israelische
Menschenrechtsanwalt Michael
Sfard glaubt, dass er
wahrscheinlich durchkommt.
Diese Hexenjagd
gegen Palästinenser wie auch
andere linke Organisationen und
Einzelpersonen in Israel ist
nicht auf die Regierung
beschränkt, sondern ist
eingebettet in die weitere
israelische Gesellschaft. Ein
Beispiel ist das Anvisieren von
Universitätsprofessoren und
Studenten sowie NGOs durch die
rechte Organisation "Im Tirtzu",
die in allen größeren
israelischen Universitäten aktiv
ist. "Im Tirtzu" beschuldigt
Studenten, Professoren und NGOs
anti-semitisch zu sein und/oder
zu Gewalt und Rassismus
aufzustacheln, wofür sie Beweise
auf Plattformen von sozialen
Medien wie Facebook sammelt. Mit
anderen Worten, jeder Student
oder Professor, besonders ein
palästinensischer, kann wegen
seiner öffentlich geäußerten
politischen Ansichten oder
Meinung bedroht werden. Trotzdem
lehnen israelische Universitäten
und die Regierung es ab, "Im
Tirtzu" für seine Aktionen zur
Verantwortung zu ziehen und
verschaffen ihr so einen
Freiraum für ihre
Verleumdungskampagnen.
Palästinenser
sind auch im öffentlichen Raum
von Zivilpersonen verbal und
physisch bedroht worden, sodass
(sich) viele (gezwungen) sehen
öffentliche Verkehrsmittel zu
meiden. Besonders
palästinensische Frauen, die den
Hidjab (Kopftuch) tragen,
fürchten Angriffe und Schikanen
wegen ihrer religiös
inspirierten Kleidung.
Hinter dem
Bann der Islamischen Bewegung
Auf diesem
Hintergrund ist die Entscheidung
des israelischen
Sicherheitskabinetts vom
November, den nördlichen Zweig
der Islamischen Bewegung in
Israel zu verbieten, von
Bedeutung, vor allem weil
Verteidigungsminister Moshe
Ya'alon seine Autorität
einsetzte, um unter Berufung auf
die Notstandsverordnungen des
Britischen Empire von 1945 die
Beweung und jede mit ihr
angegliederte Einzelperson oder
Organisation zu verbieten.
Diese
Verordnungen werden seit 1948 in
allen Gebieten unter
israelischer Kontrolle
angewandt. Sie werden nicht nur
in den 1967 besetzten
palästinensischen Gebieten
angewandt, sondern auch
innerhalb der Grünen Linie gegen
Palästinenser mit israelischer
Staatsbürgerschaft. Nach diesen
Verordnungen kann der
israelische
Verteidigungsminister
Verwaltungsorder herauszugeben
ohne eine gerichtliche
Genehmigung zu benötigen. Da
gegen diese Order beim Obersten
Gerichtshof Berufung eingelegt
werden kann, arbeitet das
Gericht selbst im Rahmen der
Notstandsverordnungen und ist in
Wirklickeit ein verlängerter Arm
des Verteidigungsministers. Auf
diese Weise haben sich die
israelische Regierung und ihre
verschiedenen Organe die
"Rechtsfähigkeit" gegeben, jeden
Palästinenser zu jeder Zeit als
Sicherheitsbedrohung, ohne
Menschen- und Bürgerrechte,
darzustellen, gleichgültig,
worin diese Bedrohung bestehen
könnte.
Kurz gesagt, die israelische
Regierung wendet ein koloniales
Recht an – ein Recht, das nicht
länger Teil seines Rechtssystems
sein sollte -, um eine
diskriminierende Entscheidung zu
rechtfertigen und anzuwenden.
Neben der Bedeutung von
Verordnungen, die auf die
Britische Kolonialmandat über
Palästina zurückgehen, ist die
Leichtigkeit, mit der das Verbot
durchgegangen ist,
bemerkenswert. Es gab wenig oder
keinen Einwand gegen die
Entscheidung: Die israelische
politische Elite und die
israelische Öffentlichkeit im
Allgemeinen verteidigen die
Aktion und halten sie wegen der
Behauptung von
"Sicherheitsbedrohungen" für
legitim.
Bei der Umsetzung
dieser Entscheidung hat die
israelische Regierung alle Büros
der Bewegung und ihrer 17
angeschlossenen NGOs
geschlossen. Diese NGOs, die in
verschiedenen israelischen
Städten mit einer
palästinensischen Mehrheit wie
Jaffa und Umm al-Fahem
angesiedelt sind, haben über
Jahre für marginalisierte und
verarmte palästinensische
Gemeinden für Dienste im
sozialen- und Bildungsbereich
sowie im religiösen und
wirtschaftlichen Bereich
gesorgt. Darüberhinaus muss
angemerkt werden, dass sie nicht
ausschließlich die Anhänger der
Bewegung unterstützt haben,
sondern auch die breite
palästinensische Community,
einschließlich
nicht-muslimischer
Gemeinschaften und
Einzelpersonen.
In Reaktion auf
diese Entscheidung hat das
Higher Arab Monitoring
Committee, die höchste
repräsentative Organisation für
Palästinenser in Israel, zu
einem
Generalstreik und einer
öffentlichen Kundgebung
in der palästinensischen Stadt
Umm al-Fahem aufgerufen.
Tausende Palästinenser nahmen an
dem Protest gegen eine
Entscheidung teil, die sie sich
für sie nicht nur gegen die
Islamische Bewegung, sondern
gegen die ganze palästinensische
Community richtet.
Die israelische
Regierung ist unmittelbar nach
dem Pariser Terroranschlag im
November 2015 gegen die Bewegung
in Aktion getreten, als würde
sie die Entscheidung als Teil
des globalen Kampfes gegen den
Terrorismus ausgeben. Damit hat
sie ihren eigenen
Geheimdienstchef Yoram Cohen
ignoriert, der gesagt hatte, es
gäbe keinen Beweis für eine
Verbindung der Bewegung zum
Terror, so wie sie auch die
Vorbehalte des Shin Bet
gegenüber dem Verbot ignoriert
hat. Der Minister für
Öffentliche Sicherheit Gilad
Erdan ging sogar so weit zu
behaupten, die Islamische
Bewegung hätte die gleiche
Ideologie wie Hamas und ISIS,
womit er versuchte die
westlichen Ängste vor dem Islam
zu verstärken, wobei es Tatsache
ist, dass diese religiösen
Bewegungen nicht mit ISIS in
Verbindung stehen und seine
extremistische Ideologie nicht
teilen. Eher haben die
Islamische Bwegung in Israel
und die Hamas ihre Wurzeln in
der Muslimbruderschaft, die
historisch gesehen, keine
dschihadistische Bewegung
ist.
Trotz der
israelischen Bemühungen, die
palästinensische Identität zu
unterdrücken und auszurotten,
fährt die arabische Community in
Israel fort, den Kampf für die
Rechte der Palästinenser im
ganzen historischen Palästina zu
unterstützen und an ihm
teilzunehmen. Israel ist sich
dieses gemeinsamen Vorhabens
bewußt und benützt es zur
Rechtfertigung der
Unterdrückung, Kontrolle und
Kritisierung der Palästinenser,
besonders in Zeiten des
Widerstands und der Unruhen.
Während der zweiten Intifada im
Jahr 2000 zum Beispiel hat
Israel zur Unterdrückung von
Demonstrationen zur
Unterstützung der Intifada
scharf geschossen und 13 junge
palästinensische Männer getötet,
von denen 12 israelische
Staatsbürger waren.
Das Verbot der
Islamischen Bewegung ist Teil
derselben Strategie. Die
Bewegung war eine der aktivsten
Organisationen, die die
israelischen Verletzungen des
Status quo der Al-Aqsa-Moschee
und des ganzen
Tempelberg-Bezirks (dem Edlen
Heiligtum) bekannt gemacht
haben. Das israelische Verbot
der Bewegung kann daher als Teil
der Regierungsversuche gesehen
werden diesen Widerstand zu
unterdrücken und zu beenden.
Wahrheit ist, dass die
Islamische Bewegung dem
politischen Spiel Israels
getrotzt hat. Sie hat unabhängig
von der israelischen Regierung
und dem geringen Raum, in den
sie die palästinensische
Community in Israel gezwungen
hat, erfolgreich ihr eigenes
operationelles und
organisatorisches System
geschaffen. Anders als andere
palästinensische politische
Parteien in Israel hat es die
Bewegung abgelehnt der
israelischen Knesset
anzugehören. Darüber hinaus wird
sie von der Regierung nicht
finanziell unterstützt und
werden die wichtigen Dienste,
die sie anbietet, nicht nur
Palästinensern in Israel,
sondern Palästinensern im
gesamten historischen Palästina
gewährt. Damit mißachtet die
Bewegung die kolonialen Grenzen
des Staates und macht die
Verlogenheit seiner Demokratie
öffentlich.
Die
Notwendigkeit einer besser
organisierten Antwort der
Zivilgesellschaft
Der wachsende
Rassismus der israelischen
Gesellschaft, gekoppelt mit der
globalen anti-Muslim-Stimmung
hat für Palästinenser in Israel
wie auch im übrigen historischen
Palästina ein raues und
bedrohliches Klima geschaffen.
Ein Ergebnis dieses Klimas ist
der ständig schrumpfende Raum
für die organisatorische
Entwicklung und die Aktivitäten
der palästinensischen
Zivilgesellschaft und
linksgerichteter NGOs. Dazu
gehören weiters Beschränkungen
in der Finanzierung, für legale
Aktionen, im Zugang zu ihren
Klienten und der Redefreiheit.
Angesichts dieser
Realität müssen wir als
Community, die nach Freiheit und
Gerechtigkeit im gesamten
historischen Palästina strebt,
unsere Strategien überdenken.
Auf lokaler Ebene müssen
palästinensische Organisationen
und Gruppen – NGOs, unabhängige
Aktivisten, Bewegungen und
politische Parteien –
zusammenkommen und einen klaren,
gemeinsamen
strategischen Langzeit Plan
aufstellen, um Widerstand gegen
den systematischen Rassismus und
die verbreitete Unterdrückung zu
leisten. Heute reagiert die
palästinensische
Zivilgesellschaft auf sich
zeigende Gefahren, sobald sie
auftauchen. Sie funktioniert
nicht als Einheit noch plant sie
für irgendeine mögliche Bedroung
in der Zukunft; ihre kleinen
Aktionen haben wenig, wenn
überhaupt tatsächliche Langzeit
Effekte. Die palästinensische
Zivilgesellschaft muss sich
darauf konzentrieren, ihre
Rechte zu schützen und
gleichzeitig einen strategischen
Plan zur Erreichung der Ziele
Freiheit und Gerechtigkeit zu
erarbeiten. Außerdem, wenn es
eine Hoffnung auf eine wirkliche
langdauernde Änderung gibt,
brauchen die Palästinenser die
Unterstützung der
internationalen Gemeinschaft und
ihrer medialen Organisationen,
um die doppelten Standards
Israels zu entlarven, wenn es um
die Verteidigung demokratischer
Werte geht, und Israel über
wirtschaftliche, kulturelle und
akademische Druckmittel zur
Verantwortung zu ziehen.
Quelle:
https://al-shabaka.com/commentaries/palestinian-citizens-in-israel-a-fast-shrinking-civic-space/
Übersetzung:
K. Nebauer
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