Die Seite, die ich
sehe: Gedanken während der Olivenernte
Flo Razowsky, Westbank, 7.11.2003
Flo Razowski ist ein jüdischer Amerikaner aus
Minnesota, der mit IMS auf dem Boden Palästinas gearbeitet hat.
Ich kam als Außenseiter
in diese Welt, als einer der eigentlich zu den Besatzern gehört,
als einer der kämpft, lernt und die Wahrheit nach Hause bringt.
Es sind jetzt mehr als sechs Monate, seitdem ich zum 2. Mal in meinem
Leben meine Füße auf dieses umstrittene Land gesetzt habe. In dieses
Land, das meine Freunde und die ich zu unterstützen gekommen bin,
Palästina nennen.
Und so begann der Konflikt:
verbale Attacken, Beleidigung meiner Intelligenz, das Ausspucken
all dessen, was mir durch Gehirnwäsche beigebracht wurde. Ich habe
erlebt, ja erlebe noch, wie sich die Wahrheit aus meiner gehirngewaschenen
Erziehung entfernte. Es ist der Teil der Geschichte, den ich versäumte,
weil man so sehr damit beschäftigt war, mir über all die arabischen
Terroristen zu erzählen und wie wichtig es sei, die Sicherheit Israels
zu schützen – den Ort, von dem man mir sagte, es sei meine Heimat,
für die ich kämpfen müsste.
Ich verbrachte sechs Monate
jenseits der Linie, wo ich – gemäß meiner Herkunft - sein sollte.
Sechs Monate, in denen ich fast täglich wie in einem Gefängnis aufwachte,
umgeben von Mauern, Sperrzäunen, Toren von jenen der anderen Seite.
In diesen Tagen gibt es keinen anderen Weg hinein oder heraus außer
durch ein Tor dieses Zauns, das von Soldaten der anderen Seite bewacht
wird. Jeder Zugang zum Rest der Westbank wird kontrolliert.
Schon nach diesen wenigen
Monaten kann ich den Stress in mir fühlen, der sich da aufbaut –
kaum zu vergleichen mit dem von denen, die hier geboren und aufgewachsen
sind. Die äußerst angespannte Situation kommt daher, dass jede deiner
Bewegungen, Atemzüge, Gedanken von jemand anderem kontrolliert wird.
Kontrolliert von einem Besatzer. Auch wenn er es niemals zugeben
will, behandelt er jedes einzelne Wesen auf dieser Seite der Mauer
wie einen Terroristen.
In den Stunden, die man
am Checkpoint in der Sonne steht und auf die Erlaubnis wartet, um
von der Universität nach Hause zu fahren, wird man von 18 Jährigen
nicht mehr wie ein Mensch behandelt. Wenn die Reihe der seit Stunden
in der Sonne Wartenden nicht ordentlich genug ist, schließen sie
den Checkpoint. Das ist der Stress des täglichen Lebens. So baut
sich langsam eine tickende Bombe in einem auf.
Und eines Tages wird die
Bombe Wirklichkeit und explodiert voller Frust und Zorn.. Es gibt
keine Propaganda in den Schulbüchern, nicht angeborenen Hass, der
die Leute dieses Benehmen lehrt. Es sind die Lektionen, die man
auf den Straßen lernt. Die Soldaten, die besetzen, die Soldaten,
die kontrollieren, die Soldaten, die dich so hart herumstoßen –
da gibt es keinen Ausweg.
An jedem Morgen, an dem
Kinder einen weiteren Schultag versäumen, weil die Soldaten das
Tor des Trennungszaunes nicht öffnen wollen, für jeden Mann, der
mit verbundenen Augen und in Handschellen an einem Checkpoint abgeführt
wird, weil er verdächtig aussieht, für jedes Kind, das nachts wegen
des unaufhörlichen Schießens und dem Panzerlärm nicht schlafen kann,
wird ein Kämpfer geboren. Einer der Widerstand leistet mit Steinen,
einer Waffe oder mit seinem Körper. All diese von jemand anderen
kontrollierten Augenblicke des Lebens gehen so lange, bis man aufschreit
und zurückschlägt. Sie werden offensichtlich und plötzlich erfüllst
du ihre Erwartungen, plötzlich bist du in der Falle. Eine Falle,
die sie genau für dich geschaffen haben, in die du hineinfällst
oder hineingestoßen wirst – je nach dem.
In allen Nachrichten, politischen
Analysen, den Todeslisten wird diese Tatsache niemals erwähnt. Du
wirst in ihren Augen, in ihren Worten niemals etwas anderes als
ein Terrorist sein, der von Hass, Religion und Fanatismus motiviert
wurde. Niemals wird die andere Seite ihren Anteil an all dem (Schrecklichen)
zugeben. Ich allerdings kann die Realität erkennen. Von Grund auf
kann ich sie spüren.
Und nun hat die Olivenernte
begonnen. Tagelang nur unter den Olivenbäumen gehen und das Geräusch
der Knüppel hören, die in die Bäume fliegen, um die Oliven abzuschlagen.
Es gibt sogar viele Augenblicke, die mir erlauben, die Besatzung
zu vergessen. Doch wenn es diese tatsächlich nicht gäbe, dann wäre
meine Gegenwart hier unnötig oder wenigstens völlig anders. Falls
Soldaten oder Siedler diese Bauern angreifen sollten, wäre meine
Gegenwart nötig.
Diese Augenblicke des Vergessens
werden aber weniger. Das Vergessen zerstiebt jedes Mal, wenn ich
aufsehe und in der Ferne eine Siedlung sehe und jedes Mal wenn die
Soldaten zwischen den Olivenhainen und den Häusern der Bauern einen
Checkpoint einrichten. Und jedes Mal, wenn ein F16-Kampfflieger
über unsere Köpfe fliegt, jedes Mal, wenn uns der Ruf erreicht,
es seien Panzer auf den Straßen – dann verschwindet die Fähigkeit
des Vergessens .
In diesen Tagen, in denen
die Mauer in dieser Region der Westbank vollendet wird, ändern sich
auch die Regeln wieder. Nun liegt ein großer Teil des landwirtschaftlich
genützten Landes westlich des Zaunes und ist nur durch spezielle
Tore zu erreichen, die von Soldaten kontrolliert werden. Sogar jene,
die sich erniedrigt und um Passierscheine gebeten haben und denen
klar ist, dass das Land auf der anderen Seite ihnen nicht mehr gehört,
werden nur nach Laune der Soldaten durchgelassen.
An einem Tag dürfen nur
Männer über 35 durch, am nächsten nur die eben geheiratet haben
und ein anderer Soldat verlangt eine Identitätskarte für einen Esel.
Wochenlang waren alle Tore
geschlossen und keiner wurde durchgelassen. Der Grund, den die Soldaten
angegeben haben? Sukkot, das jüdische Erntefest. Die Fähigkeit des
Vergessens geht an der Realität verloren. Diese Zeit, die ein Bewusstsein
der Gemeinschaft hätte bringen sollen, da beide Seiten ihr Erntefest
feiern, bringt, wie so vieles andere in diesem Land, beide Seiten
nur weiter auseinander.
Ich behaupte nicht, dass
eine der beiden Seiten (dieses sog."Separationszaunes") perfekt,
unschuldig oder gar rein sei, dass es keine Fehler auf der Seite
gibt, auf der ich eben sitze. Ich werde weiterhin behaupten, dass
die Wirklichkeit auf diesem Boden nicht so leicht auseinander genommen
werden kann, wie die Nachrichtensprecher und Analysten uns weis
machen wollen.
Es ist nicht so einfach,
wie die aufgescheuchten Unschuldigen die großen, bösen Terroristen
beschreiben. Wenn man von drinnen nach draußen schaut, werden die
Dinge viel klarer. Die täglichen Begegnungen mit den Soldaten -
viele von ihnen geben zu, 48 Stunden hintereinander wach und im
Dienst gewesen zu sein – klären die Realität ab und erlauben mir,
besser zu verstehen, was hier vor sich geht – sie zeigen mir eine
Verständnisweise, die keine Zeitung anbietet.
Es ist für mich unmöglich,
anzunehmen, dass irgend jemand mit einem offenen Herz und klaren
Verstand, der Zeuge dieser Situation hier vor Ort wird oder über
alternative Quellen von Nachrichten verfügt, zu einer anderen Schlussfolgerung
kommt als ich.
(Aus dem Englischen
zuweilen etwas freier übersetzt: Ellen Rohlfs)
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