"Siedler haben das
Leben in der Westbank zu einer Hölle gemacht"
Was vom "einseitigen
Rückzug" aus Gaza zu halten ist
Am 5. Juni 2004 fand in Köln die internationale
Konferenz für einen
gerechten Frieden in Palästina und Israel "Stop the Wall" statt. Zu
dieser Konferenz hatten viele Friedensorganisationen und
palästinensische Gemeinden aufgerufen. Wir dokumentieren im
Folgenden die Rede von Reuven Moskovitz (Israel). In der Frankfurter
Rundschau war am 7. Juni eine gekürzte Fassung der Rede ("Fusion von
Himmel und Hölle") erschienen.
Von Reuven Moskovitz
Ich schreibe diese Zeilen am 19 . April, dem "Iom Hashoa", d.h. am
Tag der Erinnerung an den Holocaust. Am 19.4.1943 ist der jüdische
Aufstand im Warschauer Ghetto ausgebrochen. Dieser dramatische
Aufstand hat die Gestalter des israelischen Geschichtsbewusstseins
veranlasst, den Begriff von "Shoa vegwura" - Holocaust und Heldentum
- zu prägen. Nur wenige haben die Tatsache wahrgenommen, dass im
Bewusstsein der Gründer des Staates Israel diese beiden Begriffe
nicht zueinander passen. Auch wenn die schrecklichen Nachrichten
über die Ausrottung der Juden in Europa erschütternd und entsetzlich
waren, stigmatisierten sie die Holocaust-Überlebenden als
"Schwächlinge", als diejenigen, die sich widerstandslos wie Schafe
in die Schlachthäuser treiben ließen. Die "Gwura", das Heldentum,
hat demnach nicht nur die Ehre des Volkes gerettet, sondern es wäre
auch das Ausmaß der Ausrottung nicht so groß gewesen, hätten die
Juden in Europa mehr Widerstand geleistet. Dass diese Behauptung
historisch nicht zu belegen ist, hat keine Bedeutung - wirksam wurde
der Mythos: Wir Juden in Palästina (Eretz Israel) sind der
Ausrottung deshalb entronnen, weil wir widerstandsfähig waren.
Tatsächlich hat sich in der schrecklichen Lage, in der sich das
überlebende europäische Judentum befand, der Zionismus, der zur
"Selbstemanzipation" durch der Errichtung eines jüdischen Staates
strebte, als die ausschließlich realistische Lösung der Judenfrage
behauptet. David Ben-Gurion, der mit gewissem Unrecht als der
Gründer des Staates Israel bezeichnet wird, kam auf die "geniale",
in Wirklichkeit aber verhängnissvolle Idee, diese Behauptung durch
die bewusst instrumentalisierte Fusion von Holocaust und Heldentum
zu untermauern. Diesem zweifellos genialen aber auch rücksichtslosen
Politiker kann man die Prägung des israelischen Sicherheitskonzepts
zuschreiben, welches Israel, seit der Gründung, in eine eskalierende
Spirale von Gewalt verstrickt hat. Als Politiker hat Ben-Gurion die
Gründung eines jüdischen Staates auf einem Teil des Territoriums von
Palaestina befürwortet. Aber - noch im Jahr 1947 in seiner Rede beim
20sten Zionistischem Kongress - hat er das Folgende gesagt: "Nachdem
wir auf einem Teil von Eretz-Israel einen Staat gegründet haben,
werden wir eine starke Armee schaffen. Ich habe keinen Zweifel
daran, dass diese Armee eine der besten in der Welt sein wird. Dann
werden wir, sei es durch Gewalt oder andere Mittel, den anderen Teil
annektieren. Das Ziel ist nicht ein jüdischer Staat in Eretz-Israel,
sondern ‚Eretz-Israel' als jüdischer Staat".
Die rechtsorientierte politische Szene, vertreten von Begin's
terroristischer Gruppe "Etzel", hat die Teilung des Landes, auch als
nur ersten Schritt, heftig zurückgewiesen. Eine bestimmte Zeit nach
der Staatsgründung hat sich Ben-Gurion mit der Teilung abgefunden
und sich damit begnügt, der Bildung eines palästinensischen Staates
durch die Annektion der Westbank von Jordanien aufzuweichen. Er hat
aber die politischen und militärischen Weichen so gestellt, dass es
unausweichlich zu der Fusion mit den entsprechenden Auffassungen der
rechten Szene kommen musste. Deren Losung war: "Durch Blut und Feuer
ist Jehuda gefallen, durch Blut und Feuer wird Jehuda wieder
auferstehen". Abgesehen von Moshe Shareth, einem der Mitgründer des
Staates und zweiter Ministerpräsident Israels, haben alle Machthaber
Israels bewusst und zielstrebig die Politik von Blut, Boden und
Feuer praktiziert. Shareth, der offensichtlich Zurückhaltung
gegenüber Gewalt und Vergeltungsaktionen zeigte, wurde kurz nach
seinem Amtsantritt von Ben-Gurions Camarilla verdrängt, um den
schmutzigen Sinaikrieg vorzubereiten.
Um die Situation anschaulicher zu machen, möchte ich eine passende
Anekdote erzählen: Ein berühmter Wunderrabbi und Mystiker hatte
tagsüber Menschen geheilt und ihnen geholfen und nachts studiert und
gebetet, um die Erlösung zu beschleunigen. Mit vielen guten Taten
und schon sehr betagt hoffte er, in den Himmel zu kommen und dort
das Angesicht der "Shechina" und das göttliche Licht - das den
Gerechten vorbehalten ist - zu genießen. Als er starb und in den
Himmel kam, war er überrascht, dass er statt strahlenden göttlichen
Lichts düsteren Nebel und Rauch sah, einen beißenden Schwefelgeruch
spürte und jammernde Stimmen und Geschrei vernahm - alles anders als
er erwartet hatte. Entsetzt schrie er: Gott, mein Vater, wo bin
ich?! Darauf erschien ein großes schwarzes Wesen mit Hörnern und
sagte: "Da bin ich, mein Sohn!" "Wieso", sagte der Gerechte, ich
dachte, dass ich verdient hätte, im Himmel zu sein! "Ja", war die
Antwort, "du bist im Himmel, aber- wir haben fusioniert".
Die Entstehung des Staates Israel war für uns Juden und viele
unserer Freunde wie eine göttliche Erscheinung und erfüllte
Verheissung. Viele erkannten in den demokratischen, sozialen,
wirtschaftlichen und rechtlichen Strukturen die verkörperte Vision
unserer Propheten und Gerechtigkeitsträumer in der ganzen Welt.
Wieso hat sich im Laufe der Zeit dieses versprochene Paradies in
eine Hölle verwandelt? Die Fusion ist die Antwort. Die israelische
Politik hat in der Fusion mehr Raum für den Teufel der Gewalt und
des Todes als für den Gott des Lebens, des Friedens und der Liebe
gelassen, und wenn es so weiter mit der Sicherheitspolitik geht,
lauert hinter dem teuflischen Gesicht der uneingeschränkten
Gewaltausübung, des Hochmuts und der zynischen Verlogenheit der
sichere Untergang.
Nach dem zweiten Weltkrieg war ein Teil der Welt erschüttert über
die Folgen des bestialischen Nationalsozialismus. Angesichts der
einmalig schrecklichen Situation hörte man den fast einheitlichen
Aufschrei: "NIE WIEDER! - es darf der Menschheit nie wieder
Ähnliches passieren!" Wesentlich anders war die Schlussfolgerung der
führenden israelischen Politiker. "Es darf uns Juden nie wieder
passieren!" Damit es nie wieder passiert, so folgerte man, müssen
sich alle Juden in einem jüdischen Staat konzentrieren und dafür
sorgen, sich stark und mit Gewalt wehren zu können. Die Welt hat
gleichgültig und herzlos zugeschaut, wie die Juden abgeschlachtet
wurden, und nur wir, der zionistische und demokratische Staat
Israel, entscheiden, was richtig für unsere Sicherheit ist. Für
diesen Zweck sind alle Mittel heilig".
Ausser der militärischen Stärke, die Israel zur regionalen
Supermacht umwandelte, ist der Holocaust das wichtigste Mittel zum
Zweck. Diese Auffassung ist in der israelischen Öffentlichkeit
heftig umstritten gewesen. So zum Beispiel haben Martin Buber, Akiba
Ernst Simon und viele andere noch vor fünfzig Jahren vor der Gefahr
gewarnt, Sparta oder Preussen zu werden.
Neulich erschien in deutscher Sprache das Buch von Idith Zertal
"Nation und Tod. Der Holocaust in der israelische Öffentlichkeit".
Zertal ist in einem Kibbuz geboren und zionistisch-sozialistisch
erzogen worden. Sie schliesst sich der Kritik von Hannah Arendt an,
die die "Germanisierung der Israelischen Politik" durch die
Einspannung des Holocaustes an den Wagen der
nationalistisch-militaristischen Politik Israels mit Sorge
verfolgte. Ein kurzes Zitat aus Zertals Buch : "Mit Hilfe von
Auschwitz - Israels ultimativer Trumpfkarte bei seinen Beziehungen
zu einer Welt, die immer wieder aufs Neue als antisemitisch und auf
ewig feindselig definiert wurde - immunisierte sich Israel selbst
gegen jedwede Kritik und genehmigte sich einen quasi sakrosankten
Status, verschloss sich einem kritischen, rationalen Dialog mit
seiner Umwelt".
Dieser Satz erläutert das Wesen der israelischen Politik seit der
Staatsgründung. Hier erfolgte eine weitere verhängnisvolle Fusion:
Die Fusion zwischen Holocaust und aggressivem, expansionistischem
Militarismus: weil wir vertrieben und vernichtet wurden, sind wie
berechtigt, zu vertreiben und vernichten - eine politische
Einbahnstrasse, die nur in eine Richtung führt: möglichst viele
Palästinenser aus dem Land zu treiben, viel Land zu enteignen, viele
uralte Weinberge und Olivenhaine für Strassen zu entwurzeln, auf
denen nur die gewalttätigen Siedler fahren dürfen, um sich auf den
"befreiten" Gebieten unserer Vorfahren vor Jahrtausenden
niederzulassen. Diese Schandtat - als neue Siedlungen bekannt -
bezeichnet eine andere Fusion: Nämlich die Fusion zwischen
Nationalismus und Klerikalismus. Bis 1977 herrschte ununterbrochen
eine säkulare Regierung mit einer zionistisch-sozialistischen
Mehrheit. Sozialisten, die mehr und mehr nationalistisch wurden und
den Staat teilweise klerikal prägten, fördern die Ausbreitung eines
fanatisch überhitzten Messianismus, der das Leben von armen und
schwer schuftenden palästinensischen Bauern zur Qual und Hölle
macht. Die "Einbahnstrassenpolitik" findet auch ihren Ausdruck in
der scheinheiligen Behauptung, dass diejenigen, die sich noch nach
Hitler weigern, das Recht von Juden anzuerkennen, sich in
irgendeinem Teil von Eretz-Israel niederzulassen, die antisemitische
und rassistische "Judenreinpolitik" untermauern. Warum sollten
demnach nicht auch Juden in der Westbank als friedfertige Nachbarn
leben? Sicher, aber warum dürfen von Israel vertriebene
Palästinenser nicht in Israel leben? Ein Recht, das nicht nach
zweitausend Jahren verjährt, verjährt nicht nach fünfzig Jahren. Nun
zeigt sich aber der rassistische Haken: die Rückkehr von
Palästinensern wird , so glaubt man, unausweichlich die Sicherheit
Israels gefährden. Unweigerlich aber kommt die Frage: Und was ist
mit der palästinensischen Sicherheit? Denn die meisten Siedler haben
das Leben in der Westbank zu einer Hölle gemacht. Kein Palästinenser
heute ist sich seiner Freiheit, seines Olivenhains, seines Hauses,
seines Vermögen und seines Lebens sicher. Eine die Menschen liebende
und Freiheit achtende Welt hätte längst diese gewalttätige Bande von
Rowdies als Verbrecher angeprangert. Wir aber halten uns für die
ewigen Opfer, glauben auf immer gefährdet zu sein durch diese wilden
Tiere, die man, wenn man sie nicht los werden kann, hinter Mauern
und Zäunen einsperren muss.
Die Schilderung aller Ungeheuerlichkeit der "Einbahnstrassenpolitik"
sprengt den Rahmen dieses Artikels - mit Bertolt Brecht kann man
behaupten, dass nur Menschen mit glatter Stirn, mit tauben Ohren,
mit geblendeten Augen und mit stumpfen Gefühlen es noch nicht
ehrfahren haben. Die "Ultimative Auschwitz -Trumpfkarte"
funktioniert ausgezeichnet. Sie schliesst zauberhaft den Mund und
das Gewissen von vielen anständigen Menschen in Deutschland, die mit
ehrlicher Sorge und Kummer verfolgen, wie Israel mit dieser
"Trumpfkarte" sich in den Abgrund steuert.
Man kann sich in Deutschland die Hände in Unschuld waschen und das
abgedroschene Mantra wiederholen: "Was können wir schon tun - mit
unserer Vergangenheit"? Die Bush/Sharon- Achse aber arbeitet, und
das sehr wirksam: Der neue dreiste Coup heißt "Einseitiger Rückzug
aus Gaza". Er fegt alle UNO-Beschlüsse samt der
"Roadmap" in den Papierkorb.
Mehr als drei Millionen Palästinenser werden in einen riesigen Käfig
eingesperrt, mit Sicherheit aber nicht der Terror.
Der fusionierte Terror von "el-Kaida" und" Hamas" bleibt nicht vor
den Toren Europas stehen. Sagt bitte bloss nicht wieder, es nicht
gewusst zu haben!
* Reuven Moskovitz ist Historiker und
Mitbegründer des Friedensdorfes Neve Shalom/Wahat Salam in Israel,
einer Siedlung in der israelische Juden und Palästinenser
zusammenleben. Er war Sekretär der Bewegung für Frieden und
Sicherheit in Israel. Seit mehreren Jahrzehnten ist er aktiv in der
Friedensbewegung und versucht die Verständigung und Aussöhnung
zwischen Palästinensern und Israelis voranzutreiben. Er ist
Preisträger des Mount Sion Award 2001 und erhielt 2003 den
Aachener Friedenspreis.
http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Nahost/moskovitz.html
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