Symbolischer Völkermord
Lev
Grinberg *, 23.März 2004
Der Mord an Scheich Ahmend Yassin durch die
israelische Regierung ist Teil einer größeren Maßnahme, die von der
Regierung Israels ausgeführt wurde, die man als einen symbolischen
Völkermord beschreiben kann. Unfähig, sich vom Holocausttrauma zu
erholen und vom dadurch verursachten Gefühl der Unsicherheit, führt das
jüdische Volk, das letzte Opfer eines Völkermordes, im Augenblick einen
Völkermord am palästinensischen Volk aus. Weil die Welt keine ganze
Vernichtung zulässt, findet stattdessen eine symbolische Vernichtung
statt. Traurig und depremiert erwarte ich eine Reaktion. Als Sohn des
jüdischen Volkes, als ein betroffener israelischer Bürger verurteile ich
diese abscheuliche Tat und rufe die internationale Gemeinschaft auf,
Israel vor sich selbst zu retten; insbesondere rufe ich die
EU-Gemeinschaft auf, in direkter und aktiver Weise sich einzumischen und
zu vermitteln, um einem gegenseitigen Blutvergießen zuvorzukommen. Die
komplizierte Verbindung zwischen dem jüdischen Volk und Europa ist noch
nicht abgebrochen – und es ist Zeit zum Handeln.
Nicht auf Grund der
Schuld der Vergangenheit, sondern aus einem Verantwortungsgefühl
für die Zukunft.
Was ist
ein symbolischer Genozid? Jedes Volk hat seine Symbole, nationalen Führer
und politischen Institutionen, eine Heimat, vergangene und zukünftige
Generationen und Hoffnungen. All dies steht symbolisch für ein Volk.
Israel ist dabei, systematisch all dies zu
beschädigen, zu zerstören und zu vernichten und zwar mit einem unglaublich
bürokratischen Jargon. „Zielbank“ ist der offizielle Terminus, der von
der IDF für die Liste der Liquidationen von palästinensischen Führern und
Aktivisten benützt wird. Schon vor Monaten hatte der Minister für
Verteidigung vorgebracht, dass Arafat vernichtet werden sollte und nun
nach „erfolgreicher Operation“ der Auslöschung von Scheich Yassin, wird
diese unvernünftige Idee noch einmal zur legitimen öffentlichen
Diskussion gestellt. Arafat sitzt seit Dezember 2001 in Ramallah gefangen,
und keiner hat es fertig gebracht, Israels Position hieran zu verändern
und dem gewählten Präsidenten der Palästinenser einige Bewegungsfreiheit
zu erlauben. Arafats Eingesperrtsein in Ramallah ist zu einem Symbol der
Gefangenschaft des ganzen palästinensischen Volkes in Städten und Dörfern
geworden, dessen Bewegung bis ins einzelne von Militärsperren
kontrolliert wird.
Das
palästinensische Land ist von den Siedlungen geraubt, von Straßensperren
zerlegt und nun offiziell demontiert worden durch das, was im
bürokratischen Jargon mit „Sicherheitszaun“ bezeichnet wird. Tatsächlich
ist es eine Demontage der letzten Landreserven, von denen das
palästinensische Volk als territoriale Grundlage für einen unabhängigen
Staat geträumt hat. Unter dem Mantel umgemünzter Bezeichnungen wie „road
map“ und „Friedensprozess“ vernichtet die Regierung Israels konsequent und
unerbittlich nicht nur die Führer der Palästinenser, sondern ihre bloße
physische Zukunft und die Hoffnung auf Unabhängigkeit. Sharons Ausrede
ist, dass Verhandlungen nicht in Zeiten von Terrorakten geführt werden
können. Aber als die Palästinenser im Dezember 2001 und im Juli 2003 einen
einseitigen Waffenstillstand ausriefen, weigerte er sich dennoch, den
„Friedensprozess“ zu fördern; der zeitweilige Aufschub wurde durch eine
Rückkehr zur „gezielten Tötungs-“ Politik wieder gebrochen.
Die Reaktionen der
europäischen Länder, die nach dem Mord von Scheich Yassin ihre
„Betroffenheit über die Fortsetzung des politischen Prozesses “ zum
Ausdruck brachten, sind einfach lächerlich, ja ermuntern die Regierung
Israels sogar, die gar nicht daran interessiert ist, einen politischen
Prozess zu beginnen. Über was für einen Friedensprozess wird eigentlich
gesprochen? Hat sich denn politisch seit Sharons Regierungsantritt
tatsächlich etwas getan? Da gab es den Mitchell Report, den Zinni-Plan,
den Tenet-Plan, es folgte Bushs Rede und der Road-Map-Plan, der Reformen
von den Palästinensern forderte und ihnen für 2003 dafür einen
„vorläufigen Staat“, für 2005 einen „unabhängigen Staat“ versprach. Was
ist davon übrig geblieben? Ein palästinensischer Ministerpräsident, Abu
Mazen, wurde gewählt. Die israelische Regierung demütigte ihn, bis er
aufgab. Abu Ala wurde gewählt, um ihn zu ersetzen, und was gibt es für
Fortschritte, seitdem er an der Macht ist?
Eine andere Art der
Reaktion konzentriert sich auf Israels Recht, sich selbst zu verteidigen.
Was bedeutet diese Selbstverteidigung denn nach 37 Jahren Besatzung. Wie
können Aktionen, die für die Erhaltung der Besatzung bestimmt sind, als
defensiv bezeichnet werden? Die einzige legitime Verteidigung ist die von
Israels legalen Grenzen von innerhalb dieser Grenzen – nicht durch das
Besetzen von Land und dadurch, dass man einem ganzen Volk die Freiheit
verweigert. Terrorismus ist eine Reaktion darauf. Eine schreckliche,
grausame, unmenschliche und unmoralische Reaktion und vom politischen
Standpunkt aus gewiss dumm, aber es ist eine Reaktion. Die Ursache muss
behandelt werden, nicht die Folgen.
All das Gerede vom
„Friedensprozess“ und vom „Recht der Verteidigung“ ist nichts als eine
Täuschung, die dafür bestimmt ist, den symbolischen Völkermord, der von
der israelischen Regierung ausgeführt wird, zu vertuschen.
Als erstes hat sie die
Autorität, die Institutionen und die Infrastruktur der Palästinensischen
Behörde zerstört, und nun ist sie dabei, das zu zerstören, was an
Hoffnungen noch übrig geblieben ist. Sie tötet die Führer und gewöhnliche
Zivilisten, Männer und Frauen, Kinder und alte Leute und behauptet, dass
die als „Ziel von Liquidationen bestimmten Leute“ sich hinter den Bürgern
verstecken. Die Regierung Israels macht aus den Palästinensern ein Volk
von Märtyrern und aus dem Nahostkonflikt einen kreuzzugartigen heiligen
Krieg.
Das ist eine gefährliche
Politik. Sie stellt eine existentielle Bedrohung für das palästinensische
Volk dar, aber auch für den Staat Israel und seine Bürger und gefährdet so
den ganzen Nahen Osten. Die Regierung ist im Begriff, das Volk in eine
Konfrontation hineinzuziehen, die vom Rachewunsch entzündet wird, statt
eine Zukunft aufzubauen. Solange es keine palästinensische Behörde und
keine palästinensische Militärmacht gibt, die die Palästinenser gegen
Israel verteidigen kann, gibt es nur eine Lösung: eine internationale
Intervention und die schnelle Sendung einer UN-Friedensgruppe – nicht
US-Gruppe, um zunächst die Palästinenser zu schützen und indirekt auch die
Israelis. Solange die Palästinenser in Gefahr sind, sind auch wir nicht
sicher, weil sie mit terroristischen Aktionen reagieren. Ich zweifle nicht
daran, dass dies als palästinensischer Sieg angesehen wird, und dass die
Regierung von Israel dies - gelinde gesagt - gar nicht liebt. Aber solange
sich auf palästinensischer Seite politisch nichts Wesentliches tut, gibt
es keine Chance, den Konflikt jemals zu beenden. Erst dann - unter einem
internationalen Schutz - können wir beginnen, über eine dauerhafte Lösung
zu sprechen. Ohne zuerst die blutige Gewaltspirale und die Spirale
tribaler Rache zu brechen, gibt es keine Chancen, dass etwas Positives
geschieht. Es ist die Verantwortung der Welt, vor allem Europas, die
Regierung Israels zu stoppen. Die Welt hat die Mittel dazu, und es ist an
der Zeit, auch den Willen dazu zu zeigen. Ein paar Monate mit
wirtschaftlichem Embargo würde genügen, die Mehrheit der Israelis von der
Weisheit internationaler Interventionen zu überzeugen.
Unter den
augenblicklichen Umständen zu schweigen, bedeutet Zustimmung.
* Lev Grinberg ist
politischer Soziologe an der Ben Gurion Universität, Israel
Dt. Ellen Rohlfs |