„Laternen“
lassen Ramallah aufleuchten
Noam Ben Ze’ev, Haaretz, 13.8.04
Palästinensische
Künstler hatten vor drei Jahren die Idee, ein umfangreiches, echtes
professionelles Musical zu produzieren : so wurde „Fawanees“(„Laternen“)
geboren.
Ramallah, August 2004 - Wie sieht
eine Kindheit ohne Musik aus? Wie sieht eine Welt für Kinder aus,
die in der Schule nicht lernen dürfen, wie man der Musik lauscht,
ein Instrument lernt oder in einem Chor singt? Wenige werden später
in der Lage sein, als Erwachsene sich selbst durch Musik
auszudrücken. In solch einer Welt bleiben Begriffe wie „Konzert“,
„Oper“ und „Musical“ für Kinder, die nie vor einer Bühne gesessen
und den Darstellern applaudiert haben, unbekannt. Und der Gedanke,
selbst auf der Bühne zu erscheinen und vor einem Publikum zu
handeln, zu singen und Musik zu machen und Beifall zu erhalten,
kommt ihnen gar nicht erst in den Sinn. Die Möglichkeit, im
Gymnasium in einem Musikzweig oder an einer Kunstakademie Musik zu
studieren oder gar eine musikalische Karriere zu machen, gehört in
den Bereich der Phantasie.
Das Fehlen musikalischer Hoffnungen
scheint aber heute geradezu trivial zu klingen, wenn man an die sehr
ernsten Probleme denkt, unter denen eine Million palästinensischer
Kinder in der Westbank und im Gazastreifen leiden. Doch jeder, der
den Wert musikalischer Erziehung kennt, weiß, welche Bedeutung und
welchen Reichtum sie schenken kann. Aus dieser Erkenntnis über den
Wert der Musik und ihre Bedeutung für Kinder und allgemein für
die Gesellschaft wurde vor zehn Jahren ein palästinensisches
Konservatorium gegründet. Das Nationale Konservatorium hat seinen
Sitz in Ost-Jerusalem und zwei Filialen, eine in Ramallah und eine
andere in Bethlehem. Dort lernen 440 Schüler ein Musikinstrument
spielen.
Vor drei Jahren entschied man sich,
dass dies nicht genügt: die Kinder sollen auch Darstellungskunst
lernen. Bei einer Konferenz von vielen palästinensischen Künstlern
wurde die Idee für eine umfangreiche, echte, eindeutig
professionelle Musical-Produktion geboren, die vielen Kindern die
Möglichkeit gibt, mitzuspielen und Tausenden Leuten, diese
Aufführung anzusehen. Dies ist die Geschichte der Geburt von „Fawanees“
(„Laternen“) – dem ersten palästinensischen Musical.
Dalia Habash, die tatsächliche
Produzentin von „Fawanees“ hielt in ihren fast zitternden Händen die
wenigen vor der Vorstellung am letzten Sonntag noch verbliebenen
Eintrittskarten. Angesichts der Busse, die vor dem Eingang des
Ramallah-Kulturzentrums hielten, und Hunderte von Kindern aus
Ramallah und dem Raum Bethlehem brachten, schienen ihr jede der
Karten, die 10 NIS kosten, wie reines Gold. Kurz bevor der Vorhang
sich erhob, ging sie mit den letzten 2 Karten hinein.
Die Konzerthalle war fast voll.
Alle Bewohner Ramallahs kennen „Fawanees“, und es scheint, dass
viele Bewohner der Westbank dieses auch schon kennen. Trotz der
Größe des Auditoriums mit mehr als 700 Sitzplätzen werden auch 7
Vorstellungen für die Tausenden von Leuten nicht genügen, die zur
Vorstellung strömen. Die letzten drei Vorstellungen werden heute,
morgen und am Sonntag ( 15.8.04) sein, zu der Kinder aus dem Raum
Jenin und Nablus kommen sollen.
Die Aufregung im Gebäude ist
spürbar, sogar in der Lobby. Türhüter grüßten die Leute, die
lächelnd hereinkamen, und verwiesen sie zunächst zu einem Tisch, wo
sie darum gebeten wurden, ihr Handy abzugeben – damit die nicht
gerade in den leisesten Augenblicken der Aufführung zu klingeln
anfingen...
Die Halle selbst – „Ramallahs
Heiligtum“ war vor zwei Monaten als Bau eingeweiht worden, der über
einer wilden, hügeligen Landschaft am Rande der Stadt liegt. Ihre
Akustik ist sanft und angenehm für die Ohren und für die Augen in
guten Proportionen. Sie ist mit bequemen Sitzen ausstaffiert und
modernem Ton- und Lichtsystem. Sie hat sogar ein mobiles
Aufnahmestudio und ein spezielles Kontrollpanel, um die Elektronik
zu überschauen – genau wie in raffinierten europäischen
Konzerthallen.
Die Zuhörerschaft besteht aus alle
möglichen Leuten: Säkulare und religiöse, Männer und Frauen jeden
Alters und besonders Kinder, die mit großen Augen ungeduldig
dasitzen und warten. Dann gingen die Lichter langsam aus, und die
Klänge des Orchesters füllten den Raum mit der Ouverture.
Bring die Sonne!
„Fawanees“ gründet sich auf ein
Kinderbuch von Ghassan Kanafani, einem palästinensischen
Schriftsteller und Essayist, der 1936 in Akko geboren, 1948 ein
Flüchtling wurde, nach Beirut und Damaskus , wo er arabische
Literatur an der Universität studierte, und schließlich nach Kuweit
weiterzog. Kanafani war der 1. palästinensische politische
Schriftsteller, und einige seiner vielen Bücher und Kurzgeschichten
sind sogar auf Hebräisch erschienen: „Rückkehr nach Haifa“, „Das
Land der traurigen Orangen“ und die Novelle „Männer in der Sonne“
und „Was bleibt von ihnen“ .... (Kanafani wurde 1972 vom
israelischen Geheimdienst in Beirut ermordet, weil er für eine
palästinensische Befreiungsorganisation arbeitete) .
„Die kleine Laterne“ ist von Wasin
Kurdi einem in Ramallah lebenden Dichter in ein Musical mit 28
Liedern für Chor, Duetts und Solisten umgeschrieben worden. Das
Spiel, das vor 12 Jahren schon in Jenin aufgeführt wurde und in
Juliano Mers Film „Arnas Kinder“ dokumentiert wurde, erzählt die
Geschichte eines Königs, der im Sterben liegt, zuvor seine Tochter,
die Prinzessin, aber noch auffordert, die Sonne in den Palast zu
bringen, sonst könnte sie nicht Königin sein und das Königreich
regieren. Nach seinem Tod versucht die Tochter, seinen Wunsch zu
erfüllen, was ihr aber nicht gelingt. Sie verzweifelt. Eines Tages
kommt ein alter Mann mit einer Laterne zum Palasttor und bittet um
Einlass. Die Tochter verweigert ihm den Zutritt: „Wie magst du nur
die Sonne hier hereinbringen, wenn du nicht einmal einem alten Mann
mit einer Laterne den Zutritt gewährst?“ fragte er - und war
verschwunden.
Der Prinzessin wurde nun bewusst,
dass ihr ein Wink gegeben worden war. Sie versuchte, den wundersamen
Mann zu finden, aber vergeblich. Deshalb forderte sie alle
Laternenträger des Königreichs auf, in den Palast zu kommen.
Tausende von ihnen versammelten sich vor der schmalen Öffnung in der
Mauer. Es gelang ihnen nicht, hineinzukommen. Die Prinzessin befahl:
„Zerstört die Palastmauern!“ Nach dem Fall der Mauern konnte jeder
eintreten. Damit waren auch die inneren Mauern in sich
zusammengefallen, die sie um sich selbst gebaut hatte. Das Licht der
Laternen, das die Leute mitgebracht hatten, wuchs und wuchs und
wurde so hell wie die Sonne – so erfüllte sich das Vermächtnis ihres
Vaters. Und was die Trümmer der Mauern betraf – sie wurden dazu
verwendet, um Schulen und Krankenhäuser zu bauen, die dem Wohl aller
Bewohner dienten.
Die
internationale Musical-Mannschaft
Mit den Klängen der Musik hob sich
der Vorhang in Ramallah und ließ eine anspruchsvolle Bühne
erscheinen, die von Majed Zbeidi von Ramallah erstellt worden war.
Er hatte einen halb transparente Wand geschaffen und einen Platz für
das Orchester. Die Kinder füllten die Bühne. Sie waren in prächtigen
Kostümen, die Mohammad Attalah entworfen hatte. „Madonna“ Mikrophone
waren nah an ihrem Mund . Sie sangen Choräle, Duetts und
Sologesänge, während sie handelten und sich auf der Bühne frei
bewegten. Sie verwendeten Requisiten wie Flaggen und Laternen mit
Kerzen, die im Dunkeln flackerten.
„Mit dem Schreiben der Musik begann
ich vor zwei Jahren,“ sagte Suhail Khouri, die die Partitur für das
Musical schrieb. „Und das musikalische Ergebnis reflektiert meinen
Wunsch, mehrere Musikstile mit einander zu verbinden.“ Und
tatsächlich ist es möglich, in „Fawanees“ neben der Musik mit
westlich harmonischen Strukturen im Geist populärer Musicals auch
die Klangfarben der östlichen Musik herauszuhören, auch Swing und
sogar ein Solo in traditioneller arabischer Musik, in arabischer
Tonart.
Khouri - aus Ost-Jerusalem - begann
mit 7 mit Musikunterricht. Schon sehr früh fuhr er von Jerusalem
nach Ramallah, um Klarinette zu lernen. Er beendete sein
Musikstudium in klassischer Musik an der Musikhochschule der
Universität von Iowa ( USA). Nun wendet er sich mehr und mehr der
arabischen Musik zu. U.a, ist er Mitglied des orientalischen
Musikensembles, für das er auch komponiert. Doch gibt er zu, dass er
Musicals besonders liebt, von denen er schon viele gesehen hat:
„Katzen“ und „Annie“ und „Die Elenden“ ....
Was hat Sie
an Kanafanis Geschichte angezogen?
Khouri: „Die vielen Deutungen, die
man darin entdecken kann, außer der Kernhandlung. Kanafani schrieb
sein Buch vor mehr als 30 Jahren, und er bezog es auf die
palästinensische Realität . Das spiegelt sich natürlich auch in der
Geschichte von heute wieder.“
Die Spielmannschaft von „Fawanees“
kommt aus aller Welt: die Instrumentation stammt von Bishara Khell
aus Nazareth, der Direktor ist Fernando Nope aus Schweden, das
Lichtdesign machte Philippe Andrieux aus Frankreich; der Tonmeister
ist Issam Murad aus Ost-Jerusalem.
Auf der Bühne sind mehr
als 100 Leute, einschließlich eines großen Kammerorchesters, „Das
junge Musikforum Mitteleuropas“ das aus Streichern, Holzbläsern,
Schlaginstrumenten ... besteht. Das Orchester - von Christoph
Altstädt dirigiert - kam aus Deutschland und verursachte einige
ausgesetzte Herzschläge unter den Musikern: nach dem Offizielle am
Ben-Gurion-Flughafen das Ziel der Gruppe erfuhren, wollte man den
Spielern den Zugang nach Israel verbieten und befahl ihnen die
Rückkehr . Nur energische, an Panik grenzende Intervention bei
Botschaften in Israel und Deutschland rettete schließlich die
Musiker, nachdem sie fünf Stunden lang reale Ängste ausgestanden
hatten.
Ein glückliches, wenn auch ruhiges
Ende
Wenn es da es wirklich etwas
Wunderbares über „Fawanees“ zu sagen gibt, so ist es das hohe Niveau
beim Singen, das von den Mitgliedern des Shams-Chores ausgeführt
wurde. Anderthalb Jahre intensiver Arbeit machte aus den 58 Kindern,
die Mitglieder des Chores sind und niemals vorher auf einer Bühne
standen, zu gewandten Schauspielern. Sie wussten, wie man den Platz
der Bühne ausfüllte, wie man koordiniert handelt und tanzt, und wie
man die Menge der Requisiten anwendet. Aber über allem schwebte
ihre vokale und musikalische Leistung. Ihr sauberes und klares
Singen, ihre Fähigkeit zweistimmig zu singen und die Natürlichkeit,
mit der die Kinder sich in das pausenlose und komplizierte Spiel des
Orchesters integrierten, lässt einen irrtümlich an einen Chor mit
viel Erfahrung denken.
Die Person, die mit den Kindern
gearbeitet, sie einstudiert hat, ist die palästinensische
Chorleiterin Hania Soudah-Sabbara. „Das Musical ist die erste vokale
Erfahrung der Kinder – wir sprangen direkt wie in tiefes Wasser,“
sagte Soudah-Sabbarah. „Nun werde ich Zeit haben, ihren Horizont zu
erweitern und ihr Repertoire zu entwickeln.
Sie hatte die Kinder aus Schulen
Jerusalems, Ramallahs und Bethlehems ausgesucht und mit ihnen einen
Chor entwickelt: Es war uns gelungen, sie zum Einzustudieren ins
Konservatorium nach Jerusalem zu bringen, ja, wir organisierten
sogar ein intensives zehntägiges Musiklager.
So wurde es vollendet. Fünf der
Jungen bekamen Stimmbruch – das war eine Tragödie – aber trotzdem
durften sie mit auf die Bühne.“
„Fawanees“ endete in festlicher aber
ruhiger Weise. „Ich wollte kein bombastisches Finale,“ sagte Suhail
Khouri, „ und ich musste die Idee verteidigen, weil viele Leute
anders dachten. Ich wollte Einfachheit und Ruhe, so dass die Leute
in der Lage sind, das Theater zu verlassen und sich nicht nur am „happy
end“ erfreuten, sondern sich danach auch Fragen stellten.“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs)
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