TRANSLATE
Jahrzehnte der Empörung
Felicia Langer
März 2011
„Empört Euch“ schreibt
Stéphane Hessel - im Original „Indignez Vous“, da der gebürtige
Berliner seit 1937 französischer Staatsbürger ist und in Frankreich
lebt – und diese Streitschrift bewegt die Welt. Stéphane Hessel war
Mitglied der Résistance, hat das KZ Buchenwald überlebt und war
einer der Mitautoren der Menschenrechtserklärung der Vereinten
Nationen. Mit eindringlichen Worten ruft er nun vor allem die Jugend
zu friedlichem Widerstand gegen die Ungerechtigkeiten in unserer
Gesellschaft und in der Welt auf. Insbesondere verurteilt er auch
die Politik Israels im Gaza-Streifen, den er in letzter Zeit selbst
mehrfach besucht hat, als unerträgliche Strangulierung und
Demütigung der Palästinenser.
In einer Rezension in der FAZ wird Stéphane Hessel
als das Gewissen der westlichen Welt und „Frankreichs Rebell der
Stunde“ bezeichnet. Es geht Hessel aber nicht um Empörung um der
Empörung willen, sondern um Empörung als Triebkraft des Widerstands
und des Engagements.
Im Folgenden möchte ich über manche Stationen meiner
persönlichen Empörung sprechen, die mein Tun über Jahrzehnte
gespeist hat:
In den Jahren 1951-52 – kurz nach meiner Einwanderung
nach Israel - habe ich die ersten zerstörten palästinensischen
Dörfer gesehen und über das Schicksal palästinensischer Flüchtlinge
gehört. Diese Empörung hat mein Leben bis auf den heutigen Tag
geprägt.
Von 1959 bis 1965 habe ich in Tel Aviv in einer
Zweigstelle der Hebräischen Universität Jura studiert, unter anderem
zusammen mit einem palästinensischen Studenten aus Nazareth. Alle
„palästinensischen“ Gebiete in Israel standen damals noch unter
Militärverwaltung, und man benötigte eine Genehmigung, um sie
verlassen zu können. Mein Kommilitone hat diese Genehmigung viele
Male nicht bekommen. Ich, eine polnische Einwanderin, konnte dagegen
ungehindert studieren, ich brauchte keine Genehmigung, ich war ja
Jüdin. Als Jahrgangs-sprecherin habe ich meine Empörung über diese
Ungerechtigkeit weit und breit publik gemacht. Es gab noch andere,
die das getan haben, mit Erfolg.
Und ich möchte den Schwur wiederholen, den ich 1967
in der Gegend von Latrun ablegte, wo die drei palästinensischen
Dörfer Yalu, Beit Nuba und Amwas von der israelischen Armee zerstört
wurden. Ihre Einwohner wurden vertrieben, ohne dass man ihnen
erlaubte, ihre Habseligkeiten mitzunehmen. Damals schwor ich mir,
die Rechte der Palästinenser bedingungslos zu verteidigen. Und dort
habe ich das erste Mal verstanden, was der Ausdruck bedeutet: Kein
Stein bleibt auf dem anderen. (Brücke der Träume, F.L.)
Das erste palästinensische von der israelischen Armee
zerstörte Haus nach 1967 habe ich in Nablus gesehen. Unter den
Trümmern waren auch viele Blumen begraben. Daraufhin habe ich einen
offenen Brief an den Eigentümer des Hauses geschrieben, der in
israelischen Zeitungen veröffentlicht wurde, unter dem Titel „An
meinen Bruder Hamsi Tukan“. Ich habe ihm unter anderem geschrieben,
dass wir das Haus wieder aufbauen und neue Blumen pflanzen werden.
Woraufhin meine Nachbarn mich als Verräterin aus
meiner Wohnung jagen wollten und erklärten, dass Blumen auf meinem
Grab wachsen werden.
1983 in Nablus: Ich stehe am Bett von Bassam Shakaa
im Krankenhaus. Er hat an diesem Tag durch eine Explosion in seinem
Auto beide Beine verloren; den Anschlag hatte ein jüdischer
Terrorist verübt. Ich weiß nicht, was stärker ist, der Schmerz oder
meine Empörung. Ich war zusammen mit Tausenden empörter Einwohner
von Nablus. - Aus solcher Empörung wächst Widerstand. Stéphane
Hessel weiß das.
Ich habe die Spuren von Folterungen bei meinen
Mandanten gesehen. Besonders empört hat mich der Bericht von Khalil
Higasy, er sei am schlimmsten gefoltert worden, wenn er über Frieden
sprach….Das war im Jahre 1974, was bedeutet, dass sie auch
damals schon friedensresistent waren. Und die Fälle von Folterungen
waren an der Tagesordnung. Meine Empörung habe ich im Gerichtssaal
zur Sprache gebracht und so die Presse erreicht.
Eines Tages habe ich beim Höchsten Gerichtshof in
Jerusalem einen Antrag auf Exhumierung der Leiche eines meiner
Mandanten aus Gaza gestellt. Wir hatten den Verdacht, dass der
Mandant in der Haft als Resultat von Folterungen zu Tode gekommen
war. Ich war so empört, dass ich nur mit allergrößter Mühe ruhig
sprechen konnte, was nicht üblich war. Die Verhand-lung fand im Büro
des Richters statt. Seine Reaktion verblüffte mich: „Frau Langer,
wenn es Sie nicht gäbe, müsste man Sie eigens erschaffen!“
Es gab noch viele weitere Stationen, wie das Massaker
in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila im Libanon, die
israelischen Kriegsverbrechen im Krieg gegen den Libanon 1982 und
2006…Eine Liste ohne Ende.
Und dann Gaza, das ich so gut kenne, das mir seit
Jahren so am Herzen liegt. Stéphane Hessel nennt es, wie viele
andere auch, ein Gefängnis unter freiem Himmel. Am 28. Dezember
2008 startete Israel die Operation „Gegossenes Blei“,
die bis zum 18. Januar 2009 dauern sollte. Das war kein Krieg,
sondern ein Massaker, eine Jagd im Käfig.
Die viert stärkste Militärmacht der Welt, Israel, hat
Waffen und Munition eingesetzt, die schwerste Schäden verursachen,
z.B. weißen Phosphor, Fleshettes und Dime Munition, die auch als
Munition konzentrierter Tödlichkeit bezeichnet wird (siehe den
Bericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen unter
Leitung von Richter Richard Goldstone). Das blutige Ergebnis waren 1
409 palästinensische Tote, in der Mehrzahl Zivilisten, darunter 342
Kinder. Die kolossalen Schäden an der Infrastruktur im unter einer
Blockade lebenden Gaza sind immens – und Israel ermöglicht nicht den
Wiederaufbau. Das ist nichts anderes als Barbarei. Und die Welt
schweigt….
Der Schmerz und die Empörung werden nur durch die
Hoffnung gelindert, dass die israelischen
Kriegsverbrechen nicht auf Dauer straffrei bleiben
werden.
Nun revoltieren die Völker der arabischen Staaten
gegen ihre Unterdrücker. Sie werden auch die Entrechtung der
Palästinenser nicht länger dulden, was ihre Unterdrücker
Jahrzehnte lang getan haben. Ich habe die erste palästinensische
Intifada hautnah erlebt und den Zorn der Palästinenser gegen das
Unrecht begleitet. Der Zorn und die Empörung gegen die Besatzung
liegen tief im Innern der Menschen. Es ist eine kolossale Kraft, die
auch den revoltierenden Massen in den arabischen Ländern innewohnt,
die ihre Solidarität bekunden.
Es ist an der Zeit, die Rechte der Palästinenser
anzuerkennen und Frieden mit Gerechtigkeit - ohne Besatzung und ohne
Dominanz über sie - zu schließen, dem Völkerrecht entsprechend.
Wehe der israelischen Regierung und ihren
Auftraggebern, die diese Welle der Empörung missachten.
Und ich bedanke mich bei Stéphane Hessel für seine
Schrift und seinen Appell „Empört Euch!“.
|