Erinnerungen eines
kleinen Mädchens an Felicia Langer
Salam Hamdan ( 2012)
Ich
kannte sie, als ich Mitte der 70er-Jahre ein sehr
kleines Mädchen war, als ich sie in ihrem Büro in Westjerusalem mit
meiner Mutter und meiner kranken Schwester zu besuchen pflegte.
Meine Erinnerungen an sie sind ein bisschen nebelig, da ich sie
kennen lernte, als ich etwa 5 oder 6 Jahre alt war. Ich erinnere
mich an ihr freundlich lächelndes Gesicht mit hellem Rot
geschminkten Lippen, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Ihre
helle Haut wurde langsam von der Sonne am Meer dunkler, ihr
helles braunes Haar durchzogen ein paar Silbersträhnen und ihre
grünen Augen machten die vom Lippenstift geröteten Lippen perfekt.
Felicia Langer
pflegte lachend etwas rot auf meine kleinen Lippen zu malen,
weil sie wusste, dass mir das gefällt, aber auch um meine
neugierigen Augen zu stoppen. Diese kleine Geste wurde ein intimes
privates Band zwischen uns beiden.
Mitte der 70er-Jahre
des letzten Jahrhunderts krachte die Nationale Front, die aus einer
Anzahl palästinensischer säkularer Parteien der damaligen Zeit
zusammen gesetzt war. Mein Vater, der zufällig in einer leitenden
Position der jordanisch kommunistischen Partei war ( Die
palästinensische wurde erst in den frühen 80er Jahren gegründet)
wurde mit Hunderten palästinensischer Aktivisten verhaftet und zu
sechs Monaten Administrativhaft verurteilt, was ohne jede Anklage
automatisch verlängert wurde. Ohne irgendeine aktuelle
Gerichtsverhandlung können politische palästinensische Gefangene
jahrelang im Gefängnis bleiben, ohne zu wissen, wann er oder sie je
entlassen wird. Jedes Mal wenn der israelische Militärherrscher das
Wort „Verlängerung“ ausstieß , verstand der Gefangene, der kein
Recht der Verteidigung hat, lebendlänglich. Diese Praxis geht
bis auf den heutigen Tag.
Mein Vater wurde zur
selben Zeit im Hebroner Gefängnisfestgehalten, als mein Onkel in
Administrativhaft im Ramallah-Gefängnis saß (beide standen
trotz der 1967-Grenze direkt unter israelischer Kontrolle) . Der
erste verbrachte 2 Jahre und der zweite vier Jahre dort.
Beide erlitten eine endlose Zeit, als hätten sie das Schafott vor
sich. Unbegrenzt Monate und Jahre im Gefängnis zu verbringen,
war wie Folter besonderer Art.
Meine Mutter und
meine kranke Schwester, die an den Rollstuhl gebunden war, die in
dieser Zeit in Bethlehem lebten, und ich fuhren zwischen den
beiden Gefängnissen im Süden und im Norden hin und her. In der
Zwischenzeit besuchten wir Felicia in Jerusalem. Felicia tat ihr
Bestes, um uns private Besuche bei meinem Vater und Onkel zu
genehmigen in Anbetracht der raschen Verschlechterung des
Gesundheitszustandes meiner Schwester, von der berichtet wurde, dass
sie im Sterben liegt. Wir hatten die Möglichkeit, sein Gesicht zu
berühren, nachdem wir ihn nur durch einen sehr dicken Zaun berühren
konnten, wo er um Erlaubnis bat, unsere kleinen Finger zu küssen.
Mit Felicias Hilfe war es uns schließlich erlaubt, auf seinem Schoß
zu sitzen und seine Haut zu fühlen ja ihn tatsächlich zu umarmen.
Das war ein Privileg, das wir Felicia zu verdanken hatten, der Frau
mit den roten Lippen und dem warmen Herzen.
Einmal brachte
es Felicia für uns fertig, unsern Vater im Gefängnis privat zu
besuchen. Wir freuten uns, unsern Vater nach so viel Monaten
nah zu sehen, als der israelische Gefängniswärter begann, die Wolle,
die meine Mutter mitgebracht hatte, zu durchsuchen. (Gefangenen war
es erlaubt, eine gewisse Menge von Wolle mit zu bringen, um ihre
verschlissene Kleidung zu flicken; aber irgend welche Zeitungen und
Pamphlete verbotener politischer Parteien zu bringen, war verboten (
wie z.B. von der Jordanischen kommunistischen Partei). Etwas davon
war in der Wolle versteckt. Der intime Besuch wurde sofort
gestoppt und der Offizier war wütend, als er nah vor Mutters Gesicht
mit etwas herum wedelte. Er schrie sie an, was ich aber nicht
verstand. Es müssen viele Drohungen gewesen sein. Nach einiger Zeit
beruhigte er sich, sah meine blasse Schwester im Rollstuhl, dann
mein erschrecktes Gesicht und meine Tränen. Er näherte sich meiner
Mutter und flüsterte: „Du bist eine dumme, ignorante Frau, solch ein
Risiko auf dich zu nehmen, während du eine sterbende Tochter neben
dir hast“.
Uns war es erlaubt zu
gehen, aber die Drohungen beschäftigten unsere Gedanken noch
lange. Meine Mutter bat den Taxifahrer direkt nach Westjerusalem
statt nach Hause zu fahren. „Wir müssen jetzt zu Felicia gehen und
alles geht in Ordnung“ flüsterte meine Mutter mit einem fast
leblosen Gesicht. „Felicia, die Retterin“ dachte ich und
starrte aus dem Fenster mit einem stark klopfenden Herzen.
„Felicia wird das Problem mit ihren roten Lippen
wegdiskutieren.“
Meine Schwester und
ich wurden mit Mosche (einem Assistenten von Felicia) nach draußen
geschickt. Er sprang rauf und runter, ahmte einen Clown nach und
alle Arten von Tieren, die ihm grade einfielen, um uns zu amüsieren
und besonders, um meine Schwester von ihren Schmerzen abzulenken.
Felicia kam nach einem langen vertrauensvollen Gespräch mit
meiner Mutteraus ihrem Büro und kniete sich neben den Rollstuhl
meiner Schwester und wandte sich an uns beide: „Die Soldaten, die
vor einem Jahr euren Vater holten, kommen heute Nacht, um eure
Mutter zu holen und ihr beide müsst euch an sie klammern, schreien
und verlangen, mit ihr zu gehen. Im Falle, dass sie euch versuchen,
euch zu den Nachbarn zu bringen, müsst ihr euch weigern und
schreien. Macht euch keine Sorge; ich werde schnell
wegen euch zum Gefängnis kommen, und werde dafür sorgen, damit ihr
mit eurer Mutter entlassen werdet.
Ich vertraute
Felicia und immer glaubte ich, dass sie die Fähigkeit zu helfen hat
oder mindestens, dass sie die Fähigkeit hatte, die Dinge für uns
leichterzu machen. In meiner Kindlichkeit glaubte ich, dass
die widerlichen Soldaten sie fürchteten.
Wir schliefen in
jener Nacht nicht; wir warteten auf die erwarteten harten Schläge an
unserer Tür. Wir waren vorbereitet. Mit meinen 6 Jahren fragte ich
mich: „werden sie uns in die Zelle unseres Vaters bringen oder in
die des Onkels? Werden sie genug Decken für uns und sie haben?“ Ich
war gewohnt von meinem Vater und Onkel zu hören, dass sie sich über
die Kälte beklagten und dass sie nur 2 Decken hätten: die eine um
darauf zu liegen und die andere um sich zuzudecken. Keine Betten und
keine Matratzen wurden gegeben, obwohl der Winter in Palästina kalt
ist, besonders bei eiskalten Winden in den Bergstädten wie
Hebron und Ramallah. Ich war ein kleines Mädchen, das sich vor Kälte
und Dunkelheit fürchtet. Ich würde mich mit der ganzen
Familie an einem dunklen Platz drängen – aber wie wird es mit der
Kälte werden?
Die Soldaten
kamen nicht und holten Mutter nicht weg. Der Gefängniswärter, der
das Pamphlet zwischen der Wolle versteckt fand, brachte es fertig,
gnädig mit uns zu sein. Er zeigte Erbarmen mit unserer Lage und
dachte, wir seien schon genug gestraft.
Die Gesundheit meiner
Schwester verschlechterte sich zusehends. Felicia, „der Retterin“,
gelang es, dass mein Onkel wenige Monate vor dem Tod meiner
Schwester einen Besuch zu Hause machen durfte . Einen Gefangenen
zu einem kurzen Besuch nach Hause zu bringen, war in jener Zeit wie
ein Wunder. Unsere Nachbarschaft sah wie eine Militärbasis aus, da
die Soldaten sich überall mit ihren Fahrzeugen und aggressiven
gezückten Gewehren zeigten.
Mein Onkel
musste seine Abschiedsrede schnell ausdenken, da er wusste, dass es
das letzte Mal war, das er seine Nichte sehen wird. Er und meine
Schwester hatten eine besondere Verbindung. Deshalb war die
Szene so schwer erträglich, als sie ihre geschwollenen Finger
an sein T-Shirt klammerten und ihn bat, doch noch ein paar Minuten
länger zu bleiben. Die Soldaten zogen ihn weg und legten ihm
Handschellen um. Ich hatte keine Möglichkeit mehr mit ihm zu
sprechen, nur ihm noch ein“ Auf-wiedersehen“ zuzuwinken, als er
weggezerrt wurde, umgeben von vielen bedrückten Soldaten. Er ging
zurück in die Haft, wo für ihn die Zeit endlos schien.
Felicia war wieder
bereit und organisierte eine internationale Kampagne, kontaktierte
amerikanische Senatoren mit dem Versuch, meinen Vater aus dem
Gefängnis zu entlassen, bevor meine Schwester stirbt. Die Kampagne
war erfolgreich, da gegen ihn gerichtlich nichts vorlag, außer
dass er gewaltlos für Freiheit kämpfte. Er wurde gerade noch
so entlassen, dass meine Schwester ihre letzten Atemzüge in
seinen Armen machen konnte – wenige Tage später.
Felicia Langer hatte
viele andere Fälle palästinensischer Gefangener zu verarbeiten. Sie
schrieb auch eine Reihe von Büchen zu diesem Thema: „Sie sind meine
Brüder“ schrieb sie über meine Schwester und meinen Vater. Es
war ihr sehr ernst damit, als sie die Gefangenen „meine Brüder“
nannte, da sie sie leidenschaftlich verteidigte.
Felicia litt eine
Menge, als sie sich meiner Mutter anvertraute, wegen der
rassistischen Gesellschaft, in der sie damals lebte, die sie
eine „Verräterin“ nannte, da sie einen „Haufen Terroristen“
verteidigte. Felicia bekam auch mehrere Morddrohungen.
Felicia, die Frau mit
den rot geschminkten Lippen und dem leidenschaftlichen Herzen konnte
nicht all den Hass und Rassismus ertragen, schloss ihr Büro aus
Protest zur ungerechten Situation der Palästinenser und dem
fast unmöglichen Dorngebüsch im juristischen System. Sie machte
dies in israelischen Zeitungen und in der Washington Post
öffentlich. Felicia packte ihre Sachen und ging nach
Deutschland, um weiter zu arbeiten - auf der akademischen Ebene in
Bremen und Kassel. Felicia hat dort hartnäckig bis heute
weiter gekämpft für die Gerechtigkeit der Palästinenser
Felicias
empfindliches Herz war nicht in der Lage, mit der Dunkelheit
umzugehen, die das „verheißene Land“ umgab, wo sie vor Jahren
sich denen anschloss, die wie sie den grauenhaften Holocaust
des Naziregimes überlebten.
(Die arabische
Version wurde in der Al-Ayyam Zeitung am 7.3.12 veröffentlicht und
auf der HiwarMutamadan arabischen regionalen Website am 6.3.12)
(dt. Ellen Rohlfs