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»Die
Palästinenser werden allein
gelassen«
Interview mit Felicia Langer
Marlene Göring -
Die international bekannte
Anwältin Felicia Langer fordert
mehr Druck auf Israel für ein
Ende des Gaza-Krieges
Frau Langer,
was empfinden Sie, wenn Sie die
derzeitigen Bilder aus Gaza und
Israel sehen?
Ich bin so
verzweifelt und wütend, das ist
schwer zu beschreiben. Wenn ich
die Kinder sehe, wenn ich die
alten Leute sehe, wenn ich die
vielen Toten sehe: Das ist doch
eine Schande!
Man sagt, jetzt
sind es schon 700 und mehr
palästinensische Tote in Gaza.
Zwei Drittel davon sind
Unbeteiligte. Und es sind so
viele Kinder unter ihnen, weil
es dort so viele Kinder gibt.
Ich glaube, dass diese
schreckliche Politik Israels am
Ende nur Hass schürt. Warum? Ich
denke, es war die Verständigung
zwischen Fatah und Hamas auf
eine Einheitsregierung. Das
wollte und will Israel nicht
akzeptieren.
Was sagen Sie
zu den internationalen
Reaktionen? Sind die angemessen?
Sie sind sehr
mild und nicht hilfreich, es ist
im Grunde gar nichts passiert.
Israel begeht Kriegsverbrechen
in Gaza. Seine Armee attackiert
Zivilisten, zerstört Häuser. Das
ist nicht nur eine Schande, das
ist gegen die Genfer Konvention,
das ist gegen UNO-Resolutionen,
das ist gegen alles. Aber die
Welt versteht nicht, dass das
Völkermord ist. Ich bezeichne
das auf meinem Palästina-Portal
als Völkermord im Ghetto.
Collage zum
vergrößern anklicken
Schon sieben
Jahre leiden die Menschen in
Gaza unter der Blockade – und
wie sie leiden! 80 Prozent der
Menschen leben unter der
Armutsgrenze. 90 Prozent des
vorhandenen Wassers sind nicht
trinkbar. Gaza ist das größte
Freiluftgefängnis in der Welt.
Ich möchte dazu gern John Ging
zitieren, den irischen Chef des
UNO-Hilfswerks für die
palästinensischen Flüchtlinge:
»Gaza ist zum Synonym für
Verletzungen des internationalen
Rechts und der Unmenschlichkeit
gegen eine Zivilbevölkerung
geworden«. Und das ist nicht von
heute, das sagte er vor einem
Jahr.
Jeder westliche
Politiker trägt hier eine
Mitverantwortung. Die sehe ich
auch bei Frau Merkel, die als
mächtigste Frau der Welt gilt.
Sie hat die Bodenoffensive
gebilligt und kein Wort des
Bedauern über die zahlreichen
zivilen Opfer, die getöteten
Kinder in Gaza geäußert. Wo sind
ihre menschlichen Gefühle?
Was sagen Sie
zur Hamas, die ihre Raketen aus
Wohngebieten abschießt?
Ich bin gegen
Raketen, ich bin überhaupt gegen
die Verletzung oder Tötung von
Zivilisten. Ich habe als
Anwältin ausschließlich Menschen
verteidigt, die an solchen
Aktionen nicht beteiligt waren.
Aber verstehen Sie bitte: Hier
geht es auch um 47 Jahre
Besatzung. All die
völkerrechtswidrigen Maßnahmen,
die Besiedlung der besetzten
Gebiete, ein repressives
Apartheidregime sind für die
Gewaltspirale mitverantwortlich.
Der größte Faktor von Unruhe und
Gewalt ist die Besatzung. Sie
produziert letztlich auch diesen
Raketenbeschuss, den Sie zu
Recht verurteilen.
Es ist ein
Vernichtungskrieg, was Israelis
jetzt in Gaza machen. Es tut
sehr weh, das zu sagen, aber
genau das tun sie. Wir haben in
Israel eine Knesset-Abgeordnete,
Ajelet Schaked von der
Regierungspartei Beit Yehudi
(Jüdisches Haus). Sie hat
gesagt: »Das ganze
palästinensische Volk ist der
Feind. Auch palästinensische
Mütter müssen getötet werden,
denn sie gebären kleine
Schlangen.« Das hat diese Frau
auf ihrem Blog platziert.
Aber wir haben
auch Friedensbewegte. Ich kann
nicht von einer Friedensbewegung
sprechen, weil das momentan
leider nicht der Fall ist. Aber
es gibt viele friedensbewegte
Leute, die gegen diesen Krieg
sind. Aber man behandelt sie
jetzt sehr schlimm. Jedes Wort
gegen diesen Krieg gilt als
Verrat.
Wie aber kann
sich Israel schützen, wenn es
aus Gaza mit Raketen beschossen
wird?
Der beste Schutz
für Israel ist Frieden, Frieden
zu schaffen. Ohne Frieden wird
man keine sichere Zukunft haben.
Israel hat schon seit Jahren die
Möglichkeit, Frieden zu
schaffen. Die PLO hat Israel
anerkannt und die PLO ist für
die Zwei-Staaten-Lösung. Die
Hamas hat gesagt, dass auch sie
der Zwei-Staaten-Lösung
zustimmt, wenn die
palästinensische Bevölkerung Ja
sagt. Diese Annäherung an die
Fatah ist eine sehr positive
Sache.
Aber Israel hat
das alles abgelehnt und die
ganze Zeit weiter Siedlungen
gebaut. Es gibt jetzt 600 000
Siedler in den besetzten
Gebieten, das sind 22 Prozent
von Palästina. Und das ist alles
völkerrechtswidrig. Die
Besiedlung besetzter Gebiete ist
verboten. Das ist ein
Kriegsverbrechen, aber Israel
kann sich das leisten. Und
warum? Wir sind
Holocaust-Überlebende, ich und
mein Mann. Und man
instrumentalisiert den
Israel-Holocaust für diese
Kriegstreiberei. Ich stehe zu
dieser Aussage, wie mein Mann,
der in fünf Nazi-Lagern war. Am
8. Mai 1945 ist er in
Theresienstadt befreit worden.
Wir haben unsere ganzen Familien
verloren. Aber wir haben
gelernt, Menschlichkeit zu
bewahren.
Sehen Sie denn
eine Lösung?
Ja, sicherlich
gibt es einen Ausweg. Aber ohne
Druck auf Israel, die Politik zu
ändern, wird gar nichts
passieren. Wirklichen Frieden
kann man nur haben, wenn man die
Rechte der anderen Seite
respektiert.
Was müsste
passieren, um den Konflikt zu
lösen? Welche Schritte müsste
man gehen?
Welche Schritte?
Man muss Israel klar machen,
dass es so nicht weiter geht.
Sie wissen, in Südafrika hat man
die Apartheid beseitigt, weil
die Welt das solidarisch so
wollte, und auch die UNO wollte
das. Aber die Palästinenser
werden allein gelassen.
Was müsste
Israel als erstes tun?
Israel muss die
Siedlungsfrage regeln, die
Siedlungen räumen. Wie man das
macht, weiß ich nicht, aber in
Israel weiß man es. Und man muss
die Besatzung beenden, die
Rechte der Palästinenser
respektieren, wie das auf
Selbstbestimmung und das Recht
der Flüchtlinge auf Rückkehr –
kann sein, nur teilweise, ich
weiß nicht genau, wie das wird,
aber die palästinensischen
Flüchtlinge haben das Recht auf
Rückkehr. Es gibt eine
UNO-Resolution dazu. Man
vergisst das alles. Und auch in
der Linken sind viele, die das
vergessen. Und das ist für mich
abscheulich als Jüdin und
Israelin.
Als erstes erschienen im
Neues
Deutschland, 25. Juli 2014 -
www.neues-deutschland.de/artikel/940203.die-palaestinenser-werden-allein-gelassen.html
Felicia-Amalia
Langer
wurde 1930 als
Kind jüdischer Eltern in Tarnów
(Polen) geboren. Die meisten
Familienmitglieder fielen der
Shoah zum Opfer. Ab 1950 in
Israel lebend, ist sie seit den
70er Jahren eine international
bekannte Rechtsanwältin. Trotz
massiver Anfeindungen
verteidigte sie als erste
israelische Anwältin
Palästinenser aus den 1967 von
Israel besetzten
palästinensischen Gebieten vor
israelischen Militärgerichten.
Seit 1990 besitzt Langer auch
die deutsche Staatsbürgerschaft
und lebt in Tübingen. Sie ist
Trägerin des Alternativen
Nobelpreises und des
Bundesverdienstkreuzes. Mit ihr
sprach für »nd« Marlene Göring.
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