F.A.Z., 05.06.2008, Nr. 129 / Seite 46
Mein Jerusalem
Da waren einst Menschen und Plätze
Aber Fehden und Fanatiker haben mir die
Stadt, die mich mit offenen Armen empfing, immer kleiner gemacht
/ Von Jörg Bremer
Das Jerusalem, in das ich im letzten Jahrhundert zog, ist längst
verzogen, wie so viele Freunde auf der israelischen oder arabischen
Seite, die nach Tel Aviv gingen oder ins Exil. Natürlich scheint
über der Stadt weiter die gleißende Sonne, die den hellen Stein zum
Leuchten bringt. Natürlich gibt es diese Magnete für Pilger und
Touristen, die Auferstehungs- und Grabeskirche im Herzen der
Altstadt, die an Passion und Tod Jesu Christi erinnert und eine
ewige Baustelle des Glaubens ist. Sechs christliche Denominationen
verteidigen hier ihren Platz. Mein Jerusalem aber hat nur noch ein
paar Menschen und Plätze.
In
der evangelischen Erlöserkirche wurden unsere Kinder getauft oder
konfirmiert. Sie birgt das Erbe des Johanniterordens; denn die
Kirche wurde auf dem Fundament von einer der drei mittelalterlichen
Kirchen errichtet, in denen für die "Herren Kranken" gebetet wurde.
Aus Jerusalem bezieht der Orden bis heute seine Kraft. Die
Pilgerplätze mögen hektisch und schmutzig sein, so fanden es Mark
Twain oder Wilhelm II., aber sie tragen eine Botschaft von Sehnsucht
und Hoffnung und erinnern daran, dass Leben Wandern bedeutet. Mein
Jerusalem erscheint auf Abwegen.
Nach so vielen Jahren in dieser Stadt gehört der Tempelberg oder
Haram al Scharif zur Heimat, selbst wenn seit der zweiten Intifada
Ende 2000 der Besuch in der Al-Aqsa-Moschee oder im Felsendom
erbettelt werden muss. Wer kann schon von seinem Arbeitsplatz sagen,
dass dort der Ausgang des Paradieses gewesen sei; der Pfropfen, der
das Weltwasser vor einer zweiten Sintflut zurückhält? So ist es aber
mit meinem Jerusalem.
Auf dem Altar des heiligen Berges hätte Abraham beinahe seinen Sohn
geopfert. Bis heute bedroht dieses "Beinahe" die Stadt. Die Grabes-
und Auferstehungskirche wäre beinahe vollends geschliffen worden,
hätte 1009 Kalif el-Hakim sein Zerstörungswerk vollenden können.
Beinahe wäre der muslimische Felsendom gesprengt worden, wäre die
israelische Polizei nicht wachsam gewesen. Messianische Juden wollen
den "dritten Tempel" errichten, und das darf kein muslimischer sein.
Am Geburtsort der drei Weltreligionen ist von Toleranz wenig zu
spüren. Nur optisch vereinen sich die Religionen zum Dreiklang:
Zwischen der goldenen Kuppel des Felsendoms und der grauen der
Anastasis erhebt sich wieder die Kuppel der Hurva-Synagoge, die
unter jordanischer Besatzung zerstört worden war.
Das Judentum brachte die Unterscheidung zwischen den Götzen und dem
einem Gott mit. Der gotteslästerliche Hochmut entstand, mit dem
heute die einen missionieren wollen und andere den Andersgläubigen
verachten. Dieser Kampf macht mein Jerusalem immer kleiner. Der
Muezzin bellt gegen die Kirchenglocken zum Gebet. Priester werden
von jüdischen Orthodoxen angespuckt. Erst erobern sie sich ein
leeres Haus, dann bauen sie darauf, dann werfen sie Dreck auf das
Dach der Propstei. Dann wollen sie rechtlich den Weiterbau des
Gästehauses der Gemeinde verhindern, schließlich sagen sie es offen:
Ihr Christen müsst raus aus der Stadt. Diese Leute gehören nicht zu
meinem Jerusalem. Der ultraorthodoxe Bürgermeister zeigt sein
Mitgefühl mit der bedrängten Gemeinde. Doch nur Richter wagen es,
gegen Siedler zu urteilen, und die Polizei erscheint machtlos.
Dann ist da der Kampf der Nationen. Am Anfang empfingen uns Israelis
und Palästinenser mit offenen Armen. Aber weil ein Reporter nicht
Partei ergreifen darf, ließ die Begeisterung nach. Da war die
orthodoxe jüdische Familie, bei der ich die Nächte im ersten
Golfkrieg verbrachte, mit der Großmutter im versiegelten Raum, 1991,
als der Irak Raketen schoss. Es wuchs eine Freundschaft. Schön waren
die Kidusch-Mittage am Schabbat mit der gesamten Familie. Aber stets
gab es den politischen Streit. Schließlich brachen die Besuche um
der Freundschaft willen ab.
Bisweilen gehörte einst die Residenz des Premiers zu meinem
Jerusalem - zu der Zeit Rabins, in jenem Stadtteil von Jerusalem, wo
die aus Deutschland stammenden Juden lebten. Einmal kam Frau Rabin
an den Tisch, legte ihre Hand auf meine Schulter und sprach auf
Deutsch ein paar Worte. Aber die Rabins sind tot. Mit Jitzchak Rabin
wurde Ende 1995 für viele auch die Hoffnung auf Frieden beerdigt.
Seine Nachfolger in der Residenz waren weniger freigiebig.
Ministerpräsident Netanyahu hielt es mit amerikanischen Gästen.
Premier Barak suchte zwar als Oppositionspolitiker den Kontakt, als
Premier hielt er sich zurück.
Vor Jahren war es noch erträglich, einen Termin im Amt des Premiers
wahrzunehmen. Es gab schon Kontrollen, aber sie dauerten nicht
dreißig bis vierzig Minuten mit Körpervisite. Heute trifft man die
Gesprächspartner in einem der vielen Cafés, mit denen sich Jerusalem
seit den letzten Jahren schmückt. In ihnen sitzen die Menschen mit
ihren Computern und lassen den Beobachter am Nachbartisch an ihren
Plänen teilhaben.
Mein Jerusalem wurde mit jedem Menschen kleiner, der die Stadt
verließ. Der erste Hausvermieter ist mittlerweile amerikanischer
Staatsbürger. Der Schriftsteller und Kollege von der besten Zeitung
wanderte nach Italien ab, der Hausmeister ging nach Russland zurück.
Mein Freund David ist zwar noch in Jerusalem, er arbeitet auch
weiter im politischen Programm beim Fernsehen, aber wir reden kaum
mehr über Politik. Ein anderer Freund, ein deutscher Archäologe,
lehrt an der Universität im Negev. "Vergiss die Universität in
Jerusalem", sagt er. Das hört man häufig: Die erste Universität des
Staates sei verkarstet. Aber weiter lockt sie wie alle verbliebenen
Orte freier Gedanken und ungestillter Neugier.
Allemal gehört die Anhöhe neben der Universität zu meinem Jerusalem.
Auf dem Ölberg ist das Areal der Auguste Viktoria Stiftung. Die
deutsche Kirche unterhält dort neben dem Kaiserbau das "Café
Auguste". Zudem lockt auf dem Areal das Archäologische Institut mit
seinen Sammlungen und Vorträgen. Zu meinem Jerusalem gehört auch die
"Deutsche Kolonie", in der freilich keine Deutschen mehr leben außer
den Nonnen vom "Deutschen Hospiz St. Charles". Die Kolonie wurde von
württembergischen Templern in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts gebaut. Ihre Manufakturen und Landwirtschaft halfen der
ersten jüdischen Einwanderung und machten die Region bereit für das
zwanzigste Jahrhundert. Die "Deutsche Kolonie" gilt heute als
besonders schickes Wohnviertel. Dass der Denkmalschutz das Viertel
erhielt, ist auch dem aus Berlin stammenden israelischen Historiker
Alex Carmel zu verdanken. Er ist mittlerweile verstorben.
Mein Jerusalem hat nur ein paar hundert Einwohner. Die mittlerweile
mehr als 500.000 ultraorthodoxen Israelis und Araber sind die
Mehrheit. Die meisten Israelis wohnen in Satellitenstädten am Rand
auf arabischen Grund und werden von der Welt als Siedler bezeichnet.
In Har Homa im Süden war ich das letzte Mal vor zehn Jahren, als der
Kampf um diesen grünen Hügel tobte. Da gab es Reste von
byzantinischen Klöstern und moderne Kriegsgräben. Eines Tages brach
ein Feuer aus. Danach begann die Regierung mit dem Bauen. Auch Har
Homa gehört nicht zu meinem Jerusalem.
Aber im arabischen Teil der Stadt gehört eine Familie zum Herzen
meiner Stadt. Der Vater des Freundes kam in den siebziger Jahren bei
einem Terroranschlag um; sein Sohn wurde vor ein paar Jahren von
palästinensischen Terroristen erschossen, die ihn für einen Israeli
hielten. Nach dem Mord sandte PLO-Chef Arafat einen Brief und
ernannte den Sohn zum "Märtyrer". Als am offenen Sarg ein Vertreter
Arafats denselben Unsinn verkündete, brach die Mutter beinahe vor
Wut und Schmerz zusammen.
Zu
meinem Jerusalem gehört auch die Straßenkreuzung, an welcher der
Wagen der Familie hielt, im Schatten einer Häuserecke, bevor eine
Bombe explodierte. Glassplitter und Asche regneten auf das Auto, die
Familie war noch mal davongekommen. Es gibt viele Plätze in der
Stadt, die an solche Anschläge erinnern. Sie gehören zu meinem
Jerusalem, wie der Wächter vor jedem Laden und dem Kino.
Zum Glück kommen immer wieder Freunde in die Stadt und erobern sich
mein Jerusalem von neuem. Sie borgen mir ihre Augen, und einen
Moment lang kann ich über die Mauer hinwegschauen, die nun quer
durch den arabischen Teil der Stadt läuft. Mein Jerusalem ist eine
alte Stadt, die irgendwann im Gestern ihre Hoffnung verlor. Im Regen
des Winters kann man sich an dem frischen Grün erfreuen. Aber jeder
Frühling ist kurz.
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