Reuven Moskowitz,
Ein Brief aus
Jerusalem.
Jerusalem, Pesach und Ostern 2004
Liebe
Freundinnen und Freunde!
Aus Jerusalem,
wo Juden und Christen gleichzeitig Pesach und Ostern feiern, sende ich
Euch liebe Grüße und Wünsche. Ich muss gestehen, dass meine Stimmung nicht
besonders feierlich ist. Wie Milionen anderer Juden sass ich mit meiner
Familie zusammen, um die "Hagada", die Erzählung des Auszuges aus Ägypten
und die Befreiung aus der Knechtschaft zu lesen. Diejenigen, die überhaupt
die "Hagada" lesen, fangen mit ein aramäischen Text an, auf die
ungesäuerten Brotfladen zeigend, wo es heisst: "Das ist das spärliche
Brot, das unsere Vorfahren im Land der Ägypter aßen: jeder, der hungert
und es braucht komme mit uns und esse". Das wird aber nur gesagt, denn die
wirklich Armen, unsere palästinensischen Nachbarn, dürfen überhaupt nicht
kommen. Die sind nämlich wegen unseres Pesachfestes eingesperrt,
umzingelt, abgeriegelt für nicht weniger als 22 Tage. Die Anführer der
Nachfahren der befreiten Sklaven haben 3,5 Millionen gegenwärtige
Sklaven eingesperrt, um in Ruhe und ungestört die Befreiung des jüdischen
Volkes im gelobten Land zu feiern.
Man kann fragen
ob es keine jüdischen, armen Menschen in Israel gibt? Natürlich gibt es
sie und leider zu viele. Aber mehr als eine Million bedürftiger Juden in
Israel haben, entsprechend einer schönen Tradition, von verschiedenen
Wohlfahrtsvereinen reichlich Lebensmittel verteilt bekommen, um den
Sederabend richtig und ausgiebig zu feiern. Wie sich allerdings mehr als
ein Drittel der Israelis während des übrigen Jahres durchschlagen,
scheint unseren Finanzminister Beniamin Nethaniahu nicht so sehr zu
beschäftigen. Er muss herausfinden, wie von den armen Bürgern Israels Geld
zu holen ist, um Zäune und Mauern zu finanzieren, hinter denen 3,5
Millionen palästinensische "Wilde Tiere" (Nach seiner demokratischen
Meinung) eingesperrt werden sollen.
Natürlich habe
ich mich gefreut, mit meinen Geschwistern, meiner Frau, meinen Kindern und
Enkelkindern das schöne Pesach zu feiern, Frühlingslieder zu singen und
das vorzügliche Essen zu geniessen. Aber meine Seele und mein Denken haben
sich geweigert, sich von der Trauer loszureißen.
In Israel wird
unzählige Male am Tag das Wort "Sicherheit" benutzt. Aber dies ist eine
"Sicherheit", die unsere Nachbarn unsicher macht, unterdrückt, verarmt,
schikaniert, vertreibt, entwürdigt, einsperrt, Tausende von Häusern
sprengt und mit leichtfertiger Grausamkeit ihre Anführer umbringt und
dadurch Hunderte von unschuldigen Kindern, Frauen und Männern mit in den
Tod reisst, diese "Sicherheit" treibt unseren Staat und unser ganzes Volk
in den sicheren Untergang.
Mit guten Grund
kann man fragen: und was ist mit den Hunderten unschuldiger Israelis, die
durch die Terroranschläge umgebracht worden sind? Darauf muss ich mit
Wehmut antworten, dass diese hauptsächlich auch Opfer dieser unseligen
Sicherheitsauffassung sind, die uns seit der Staatsgründung unsicher
macht. Die Schuld liegt sicherlich nicht nur bei unseren Politikern,
sondern auch bei der hartnäckigen Weigerung der Arabischen Welt, Israel zu
lange nicht anerkannt zu haben. Es liegt hauptsächlich an den tiefen
Verletzungen und Ängsten, die uns der Nationalsozialismus vererbt hat.
Viel aber, sehr viel liegt es an der bewussten, politischen Entscheidung,
den Holocaust zu instrumentalisieren und ihn vor den Wagen zu spannen, der
uns zu einem jüdischem Staat bringen sollte, möglichst etnisch sauber,
zwischen Jordan und Mittelmeer.
In dieser
wunderbaren, aber auch grausamen und absurden Welt, ist fast jeder Mensch
einer Sintflut von Informationen ausgeliefert und ausgesetzt, die zum
größten Teil tendenziös und so clever manipuliert sind, dass sie
eigentlich nur falsche Informationen geben oder verwirren. Fast jeder hat
für sich eine gut begründete Meinung, die vor allem eine von den Medien
und der Werbung gut oder weniger gut getarnte Propaganda ist oder von
konfessionellen Glaubensrichtungen gestaltet wird. Wenn der Alltag normal
und einigermaßen sicher ist, kann auch der durchschnittlich gebildete
Bürger sich eine Meinung bilden, die ihn zu einem mündigen Mitglied der
Gesellschaft macht. Sobald aber eine Gesellschaft von einem
verunsichernden Traumata verfolgt wird, werden populistische Demagogen von
Macht und Geldsucht getrieben; oder sie werden zu zur Realpolitik
konvertierten Idealisten, die unablässig auf die Traumata oder Ängste
pochen, um die "vollkommene Sicherheit", "vollkommene Gerechtigkeit",
"vollkommene ewige und einzige Wahrheit zu erreichen.
Weil aber der
"Feind" auf dem Weg zur Vollkommenheit steht, der zweifellos der
verkörperte Dämon ist, muss man gegen ihn Krieg führen, ihn besiegen,
immer siegen, oft bis man sich selbst zu Tode siegt.
Diesen Weg sind
die Deutschen unter Hitler gegangen; diesen Weg gehen - verführt, aber
willig - die meisten Juden, die danach streben, den Staat Israel
vollkommen sicher und möglichst von Arabern rein zu machen. Man kann sich
über die schreckliche Analogie empören, und sie stimmt auch zunächst
nicht. Die Denkstrukturen aber, die Deutschland zum Massenmord und zum
totalem Krieg führten, sind ähnlich. In einen Staat, in dem die Regierung,
besser gesagt der Geheimdienst und die Generäle gleichzeitig die Ankläger,
die Richter und die Vollstrecker sind, bilden Wahrheit, Moral und Recht
keine Grenzen mehr. Unsere Machthaber haben langst alle Grenzen
überschritten, insbesondere mit der Ermordung vom Scheich Ahmad Jassin. Er
hat keinen Menschen umgebracht. Er hat auch nicht die mörderischen
Selbstmordanschläge geplant. Sein Denken war nicht nur von theologischem
Fundamentalismus, sondern auch von pragmatisch, politischem Denken
geprägt. Wer weiss schon, dass er einen 30-jährigen Waffenstillstand mit
Israel in den Grenzen von 1967 vorgeschlagen hat. Sharon und die Klicke,
die Israel heute regieren und ein Teil der armseligen Dummköpfe aus der
Arbeiterpartei, die Israel regieren wollen, können sich kein Israel
vorstellen, das anders aussieht als das, das sie geprägt haben.
Seit 1948 aber
sind die politischen, militärischen, und mentalen Weichen so gestellt,
dass der Untergang des Staates Israel unausweichlich kommen wird, wenn
nicht eine dramatische, neue
Weichenstellung erfolgt. Diese Furchterregende und erschreckende Vision
ist unerträglich. Sie zu vermeiden aber setzt voraus, dass die EU, vor
allem von der BRD, Frankreich und Gott sei Dank heute auch Spanien
geführt, versucht, sich mutig und entschlossen von der kolossalen
Busch-Sharon Lüge zu trennen. Ahmed Jassin war bescheiden und klug genug
um zu verstehen, dass die Verhältnisse zwischen den beiden Völkern nach
30 Jahren Waffenstillstand alles anders sein werden als in der Gegenwart.
Die ersten
Opfer der feindlichen Denkstrukturen und des Krieges sind die Wahrheit und
die Vernunft. Über die Lügen von Sharon - und nicht nur von Sharon - kann
man ganze Bücher schreiben. Ein Buch über die Opfer dieser Lügen kann
nicht nur das Herz brechend sein, sondern auch die hochgepriesene
westliche Ziwilisation in Frage stellen. Ein bekannter Spruch heisst:
"Wenn die Kanonen toben, schweigen die Musen". Im Gazastreifen toben nicht
mehr die Kanonen, sondern die Raketen. Warum schweigen die Musen in
Deutschland? Haben nicht Millionen in Deutschland laut aufgeschrieen gegen
Krieg, Aufrüstung, Ausbeutung und Verletzung der Menschenrechte,
Menschenwürde und des Völkerrechtes? Wie sieht die Menschenwürde aus, wenn
ein alter, gelähmter Scheich in seinem Rollstuhl auf dem Weg von der
Moschee, in der er zum jüdisch-christlich-moslemischen Gott Abraham
gebetet hat, von einer Rakete umgebracht wird, die imstande ist, ein
mehrstöckiges Haus zu zerstören?
Hat diese
Nachricht nicht zahlreiche Armeen aus Kultur, Wissenschaft, Kunst,
Erziehung und viele andere erreicht, die die Speerspitze und der Ruhm der
deutschen und westlichen Zivilisation sind? Oder kann es sein, dass die
Ausrottung von Milionenen Menschen durch Hitler die Herzen stumpf gemacht
hat?
Was zählen
schon 3.000 umgebrachte Palästinenser und knap 800 umgebrachte Israelis im
Vergleich mit über einer Million Tutzi, die vor zehn Jahren in Ruanda
umgebracht worden sind? Oder vielleicht hat Amos Oz recht, wenn er
angesichts eines erschreckenden faschistischen Monologes von einem
berühmten Israeli, der selbst Sharon sein könnte, folgendes schreibt: "An
einem Punkt habe ich den Redefluss von Z. unterbrochen und laut eine
flüchtige Überlegung geäußert: Ist es denn möglich, dass das, was Hitler
den Juden angetan hat, nicht nur ein Schwertschlag, sondern ein
Schlangenbiss war? Ist jenes Gift tatsächlich in die Herzen eingedrungen,
in einige der Herzen und brodelt dort weiter?"(Amos Oz, Im Lande Israel
s. 84) Vielleicht ist diese Überlegung die zutreffenste. Das Gift brodelt
wahrscheinlich in den Herzen vieler Menschen in beiden Völkern und
verursacht eine gefährliche Lähmung, die nicht nur Israel, sondern auch
Europa gefährdet.
Ich frage mich:
warum schreibe ich eigentlich diesen Brief? Die Adressaten haben mein
Buch, meine Briefe gelesen. In den vergangenen Monaten habt ihr mir
ermöglicht, mehr als tausend Erwachsene und Schüler zu treffen. Tausende
Zeitungsleser und Radiozuhörer haben meine Botschaft erhalten. Was kann
ich euch noch Neues sagen oder schreiben?
Das einzig Neue
wäre der Versuch gewesen, die neueste Sharonlüge zu entlarven. Ich weiss
nicht, ob der amerikanische Begriff "Spin" in Deutschland bekannt ist. Es
ist ein politischer Begriff und bedeutet soviel wie Umdrehung, Verdrehung
oder einfach eine Lüge so zu manipulieren, dass sie als Wahrheit
erscheint. Der neuer Spin Sharon`s ist die "Ente" mit dem einseitigen
Rückzug aus dem Gazastreifen und die Auflösung von manchen jüdischen
Siedlungen. Als Ministerpräsident hat sich Sharon als absoluter Versager
gezeigt. Nichts von dem, was er vor den Wahlen versprochen hat, hat er
erfüllt. Darüber sind sich fast alle nüchternen Beobachter und
Kommentatoren einig. Als raffinierter Manipulator aber ist er genial. In
den fast drei Jahren in seinem Amt als Regierungschef ist es ihm gelungen,
alle Friedensinitiativen zu begraben.
Wer kann sich
noch erinnern an den Mitschel-, Teneth-, General Zini-,
Joshka-Fischer-Plan, Saudi Arabien`s Plan, genehmigt von der Arabischen
Liga in Beiruth?
Abu-mazen,
Abu-ala, diese und andere Initiativen hat Sharon zielstrebig und
konsequent aus der Tagesordnung geräumt. Dann kam der Fahrplan (Roadmap)
von Bush und hat viele Hoffnungen geweckt. Im Prinzip, wie bei Radio
Eriwan, ist er nicht schlecht, aber….
Doch da gibt es
einen Haken, der die Umsetzung unmöglich macht. Noch im September bei der
Pressekonferenz anlässlich der Preisverleihung habe ich behauptet, dass
der Plan keine Chancen habe, weil er den Wagen vor die Pferde spannt.
Leider hat sich meine Behauptung bestätigt. Der Haken dieses Planes war
der Paragraf, der das Ende des Terrors vor dem Ende der Besatzung fordert.
Genau das, was Sharon und seine Klicke brauchte, um auch diesen Plan vom
Tisch in den Papierkorb zu fegen.
Drei Monate
sind inzwischen ohne Terroranschläge vergangen. In diesen drei Monaten hat
sich das unanständige Manöver mit der Behauptung abgespielt, dass
Abu-Mazen und Abu-Ala keine ernsthaften Schritte unternommen hätten, um
die Infrastruktur von Terror ausrotten. Für Sharon bedeutet "Ernsthafte
Schritte", dass die absolut geschwächte Palästinensische "Authority"
einen Bürgerkrieg gegen "Hammas und Dsihad Islami" entfacht hätte. Diese
drei Monate Ruhe aber hat die Israelische Regierung keinen ernsthaften
Schritt gemacht, um die schreckliche Lage der Palästinenser zu lindern. Im
Gegenteil: der Mauerbau wurde beschleunigt und das Leben von Tausenden
wurde zu einem Alptraum gemacht. Stattdessen kam die grosse
Antiterroraktion in Raffah an der Grenze zu Ägypten. Hunderte von Häusern
sind zerstört worden, viele Menschen wurden getötet und verletzt, 5000
Menschen obdachlos. Die Vergeltung lag auf dem Tisch und ist auch
gekommen.
Nun versucht
bitte, eine Umfrage in Deutschland durchzuführen über die Ursachen der
gegenwärtigen Eskalation. Ohne Zweifel werden die meisten behaupten, dass
die Ursache in den Selbstmordanschlägen liegt, die unschuldige Menschen
mit in den Tod gerissen haben. Das ist aber nicht die ganze Geschichte:
Sharon will nicht nur freie Hand, um die Palästinenser so zu behandeln wie
er es für richtig findet. Er braucht diesen dramatischem Spin, um den
Fahrplan total zu sterilisieren. Wie schon erwähnt, hat der Fahrplan sehr
konstruktive Elemente: Im letzten Paragraf (schade, dass es nicht der
erste gewesen ist) heisst es: "Beide Seiten müssen bis 2005 einen
entgültigen und umfassenden Vertrag erreichen, der den Konflikt durch
Verhandlungen beendet, die auf den Beschlüssen des Sicherheitsrates 242,
338 und 397 basieren. Die Besatzung seit 1967 muss beendet werden, gefolgt
von einer vereinbarten gerechten, fairen und realistischen Lösung des
Flüchtlingsproblems".
Das ist genau
das, was Sharons Regierung nicht will, eigentlich auch nicht die
Arbeiterpartei. Übermorgen fliegt Sharon zu seinem Doppelgänger Busch, um
den Versuch zu machen, die Friedensgefahr zu beseitigen.
Der Brief ist
leider zu lange geworden, aber ich bitte euch ausdrücklich, euch nicht
verführen zu lassen von falschen Hoffnungen und euch und eure Bekannten
nicht vergiften zu lassen von dem Gift der Schuldgefühle, das so viele
gute Menschen in Deutschland lähmt. Lasst euch nicht einschüchtern von der
verbrecherischen Propaganda, die eure edlen und ehrlichen Versuche im
Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit als Antisemitismus anprangert.
Auch wenn der
Brief euch erst nach dem Osterfest erreicht, denkt daran, dass ich während
der jüdischen und christlichen Ostertage, und nicht nur in diesen Tagen,
dankbar und lieb an viele, viele alte und neue Freunde gedacht habe und
denke. Die Zuneigung, die Solidarität und die Hilfe, die alle meine
Erwartungen übersteigen, schenken mir Sinn und Kraft weiter zu arbeiten
für einer Sache die manchmal hoffungslos scheint.
Seit alle lieb
und herzlich umarmt
von
Reuven Moskowitz
in Jerusalem.
|