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Reuven Moskovitz
Liebe Israel- und Palästina-Interessierte,
ich schreibe diese Zeilen in einer Stimmung, die
Zorn und Verzweiflung ganz nahe kommt. Nun bin ich
in einem Zustand vom Propheten Jona, der nicht an
seinem Auftrag Gottes – die Menschen von Ninive zu
mahnen - glaubte. Trotz seines Unglaubens taten die
Menschen von Ninive doch Buße, und Gott ließ sein
Erbarmen gelten. Ich bin kein Prophet sondern ein
alt gewordener Mensch am Ende der achtziger Jahre,
der das ganze Unheil des 20. Jahrhunderts und die
ersten Jahre des 21 Jahrhunderts erlebte. Ich kann
nicht glauben, dass unter den Umständen, welche hier
in Israel/Palästina herrschen, so ein Wunder wie in
Nineve passieren würde.
Geboren in einer jüdisch-orthodoxen Familie, oft
heimgesucht von Armut, Verfolgung, Vertreibung und
die schreckliche Shoah überlebt habend, glaubte ich
als Kind an Gott und betete für Gottes Gesundheit.
Ich habe mit Inbrunst an das geglaubt, was meine
Eltern und meine religiöse Erziehung, die schon mit
4 Jahren anfing, lehrten. Da kamen die Ereignisse,
die zu der schrecklichen Shoah führten – eine Shoah
die das Überlebensrecht der Juden in Frage stellte.
Kurz nach meiner frühzeitigen Einschulung, 1933,
hörte ich erschreckende Gespräche über einen Adolf
Hitler und ein Deutschland, was die meisten Juden
verehrten, das das jüdische Volk vernichten will.
Die Gebete unserer kleinen jüdischen Gemeinde,
meiner Eltern und Verwandten haben nicht im
Geringsten geholfen. Man hat gehofft, es wurde
gefastet, Almosen für arme Menschen wurden
gesammelt, man war sicher, dass das von den meisten
Menschen bewunderte Volk, Deutschland, einen
Schurken wie Adolf Hitler nicht langfristig dulden
würde. Nichts außer Vertreibung, Demütigungen und
Hoffnungslosigkeit haben meine ersten Lebensjahre
gekennzeichnet. Da kam die unerwartete Befreiung.
Der Glaube an die Heilige Schrift, die Gebete, die
feste Sicherheit, dass die Niederlage Deutschlands
ein Gottes-Urteil ist, sind unter einer
faszinierenden Welle von Glauben an Vernunft,
Gerechtigkeit und Frieden untergegangen. Diese Werte
haben als Ziel, die Welt zu befreien. Außer der
Liebe zu Menschen und zum Leben war für mich nichts
wichtiger zu glauben, dass nicht Gott, sondern der
Mensch beauftragt ist, eine Welt zu schaffen, die
frei ist von Not, Hunger, Hass, Verfolgung und
zerstörerische Kriege ist.
Seit 40 Jahren schien es mir, dass ich weiß, wen ich
meine, wenn ich "Liebe Freundinnen und Freunde"
schreibe. Unter jetzigen Umständen, weiß ich genau,
wer noch die Freunde sind, nur weiß ich nicht, ob
alle Hunderte und Tausende Deutsche, die ich als
Freunde bezeichnete, noch immer die Freunde der
Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung sind. Eine
Mehrheit des deutschen Volkes scheint mit einer fast
unheilbare Krankheit kontaminiert zu sein, die ich -
"das Kind mit Falten" - unfähig bin, zu einer
Heilung beizutragen.
Ich war unter den ersten Überlebenden und
Verfolgten, die gewagt haben, über ein "Deutschland,
das ich liebe" zu schreiben. Ich liebe noch immer
das Deutschland, egal wie zahlreich diejenigen sind,
die wahrhaftig der Gerechtigkeit, dem Frieden und
der Versöhnung, dienen. Leider sind die meisten
durch das Trauma, als Antisemiten verunglimpft zu
werden, gelähmt.
Nach der schrecklichen Vergangenheit darf sich das
gegenwärtige Deutschland auf keinen Fall leisten,
die Hände in Unschuld unter dem Schirm der
Staatsraison zu waschen. Wir Juden sind nicht die
einzigen Opfer des NS Regimes, und das einzige noch
leidende Opfer von dieser Vergangenheit sind die
Palästinenser, denen der Begriff, Nakba
(Vertreibung), von Deutschland verweigert wird.
In meinen zahlreichen Briefen, in meinem ersten und
zweiten Buch, habe ich unermüdlich vor der
unkritischen Solidarität mit einem Staat gemahnt,
der sich alles andere als demokratisch und
humanistisch entwickelt hat. Im Grunde meines
Herzens muss ich wiederholt aufschreien, das dieser
Staat zu einem Schurkenstaat geworden ist, zu einem
Sodom und Gomorrha, auch wenn es noch Gerechte gibt
die leider nicht mehr als ein Zehntel der
Bevölkerung Israels ausmachen. Die Demagogie, die
Herzlosigkeit, die Kriegslust, die Habgier, der
Fremdenhass und hauptsächlich der
Anders-Denkenden-Hass haben erschreckende
Dimensionen erreicht. In Israel exekutiert man
Palästinenser, egal, ob Kinder oder Erwachsene, mit
der Leichtfertigkeit mit welcher man mit Tollwut
infizierte Tiere tötet. Ich bin mir bewusst, wie
viel Wut ich mit diesem Ausdruck erwecke, und
dennoch ist es die pure alltägliche Wirklichkeit.
Mit hochgezogener Augenbraue haben viele meiner
Freunde und Bekannte in meinem ersten Buch gelesen,
dass vor und seit der Staatsgründung Juden von
palästinensischen Widerständlern grausam ermordet
wurden. Palästinensische Widerständler - auch wenn
die Art des Widerstands nicht akzeptabel ist -
werden entweder 'erlegt, vernichtet' und seit der
Messer-Intifada 'neutralisiert' (das sind nicht die
einzigen Adjektive die von der mit der Regierung
gleichgeschalteter Presse verwendet werden).
Schon am Anfang der fünfziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts, hat Erich Fried in seinem Gedicht "In
der Sprache der Alten" zitiert: (Auszug)
Komm Volk Israels!
erhebe dich aus deinem Unrecht!
Lass ab von dem was dich zum Gespött macht der
Völker!
Auch die noch freundlich tun um ihres Vorteils
willen dir ins Gesicht
die rümpfen schon die Nase und spotten hinter dir
her wenn du den Kopf abwendest:
"Da habt ihr das Volk der Bibel! so rachsüchtig und
so gierig wie nur irgendein Volk in der weiten
blutigen Welt! ...
Wie ist es dazu
gekommen, frage ich mich, dass Deutschland mit einer
der schrecklichsten Vergangenheiten, vom Terror
spricht, nur wenn es um palästinensischen Terror
geht.
Terror ist Terror ist Terror - Selbst Netanjahu
spricht vom jüdischen Terror. Haben sich die
zahlreichen Deutschen gefragt, was der Unterschied
ist, wenn Palästinenser unschuldige Juden und Juden
unschuldige Palästinenser ermorden? Haben sich alle
umgebrachte Palästinenser in Gaza mit Terror
schuldig gemacht? Nur im letzten sinnlosen Gaza
Krieg sind Tausende Palästinenser umgebracht worden,
über 2000 Erwachsene und knapp 700 Kinder. Für
palästinensischen Terror, auch wenn er von Steine
werfenden Kindern ausgeübt wird, zerstört man die
Häuser der ganzen Familien. Ist jemand fähig von
einem jüdisch-israelischen Haus eines Terroristen zu
sprechen, das zerstört wurde? Wie kann man diese
Untaten nachvollziehen? Was ist wichtiger als die
Heimat, was ist schlimmer als Menschen, die von den
Häusern geräumt werden und zuschauen müssen, wie Hab
und Gut zerstört werden? Die menschliche Geschichte
ist voller Kriege mit angeblichen Siegen und mit
schrecklichen Niederlagen. Kaum aber passierte es in
der Geschichte, dass ein besiegtes Volk das Recht
verliert, frei eine Heimat zu haben.
Der Arzt Baruch Goldstein hat 29 Palästinenser in
der Moschee der Väter und Mütter in Hebron 'erlegt'.
Hat man etwa das Haus von Baruch Goldstein zerstört?
Was ist mehr Terror als diese Untat, die nicht die
einzige in der schrecklichen Geschichte des
Konfliktes zwischen Juden und Palästinensern ist,
die eigentlich - nach der Bibel - Geschwistervölker
sind.
Mit großer Achtung und Bewunderung verfolge ich die
mutigen Deutschen, die gegen der Lieferung von
deutschen Waffen an dieses vom Terror geplagte Land
protestieren. Der fast verbrecherische Höhepunkt
jedoch hat die deutsche Regierung erreicht, geführt
von Frau Merkel, die das kriegs- und
kolonialisierungsfreudige Israel auf den Status
einer Weltmacht gehievt hat. Es ist schrecklich, was
der islamische IS oder Daisch im Nahen Osten tut,
aber in dem gefährlichen Exodus der Millionen von
Menschen hauptsächlich nach Westeuropa treibt, haben
nicht nur die Finger von den westlichen Staaten
gerührt, sondern mindestens was Syrien anbelangt,
trägt Israel meiner Meinung nach die Hauptschuld.
Seit Jahren versuchen die syrischen Machthaber, mit
Israel unter einer Bedingung Frieden zu schließen:
die Golanhöhen, die von Israel 1967 erobert wurden,
trotz der Tatsache, dass der Krieg nicht von Syrien
entfacht wurde, zurück zu bekommen. Darüber schreibt
ausführlich einer der wichtigsten Generäle Israels,
Uri Sagi, (nachzulesen in meinem Buch "Ein Leben für
Gerechtigkeit, Liebe und Versöhnung"). Diese
israelische Mitschuld ist nachzulesen im Buch vom
Michael Lüders "Wer den Wind sät", insbesondere im
vorletzten Kapitel "Freibrief für Israel?".
Es scheint aber, dass ich ein Rufer in der Wüste
bleibe. - Seit Jahren habe ich mich mit der
Hoffnung getröstet, dass ich ein Rufer in einer
kleiner aber sehr fruchtbaren und friedensliebenden
deutsche Oase bin. Ich fühle mich aber zutiefst
enttäuscht und hoffnungslos. Dieser Satz betrifft
nicht die Hunderte oder Tausende Deutsche, die mich
noch ernst nehmen.
Es ist vielleicht vielen Regierenden nicht klar,
dass Israel nicht nur faschistische Züge zeigt,
sondern schwer und gefährlich unter den Einfluss
eines nationalistischen Klerikalismus gerät. Es mag
sein, dass bei vielen in Deutschland noch nicht das
Signal angekommen ist, dass nicht nur die
Palästinenser und die noch gebliebenen politischen
Widerständler auch von nationalistischem
Klerikalismus ins Visier genommen sind. Im Wirbel
der besorgniserregenden Entwicklungen sind jedoch
auch die christlichen Kirchen angegriffen worden.
Einer der schönsten Kirchen in Tabha – die Kirche
der Brotvermehrung - wurde in Brand gesetzt, das
Kloster in Latroun und die Abtei Dormitio in
Jerusalem, die sich durch freundliche Beziehungen
mit anderen Konfessionen auszeichnet, wurden mit
anti-christlichen Losungen beschmiert.
Amos Gwirzt, einem der berühmtesten
Kriegsverweigerer und Mahner in Israel, ist es
gelungen unter den Titel "Sagt nur, dass Ihr es
nicht gewusst habt" über 495 Untaten zu berichten.
Das Beduinendorf Araqib z.B. wurde über 90 Mal
zerstört.
Auch wichtig zu erwähnen ist, dass nach der
Besatzung der Westbank haben dort 20 % Christen
gelebt. Heute sind nur noch kaum 2 % zu finden.
Trotz allem versuche ich noch etwas bewegen zu
können: Ich möchte eine Delegation der Vertreter
aller Konfessionen in Israel und Palästina
zusammenstellen und zum deutschen Bundestag senden
um über die Gefahr der existierenden Verhältnisse in
meinem Land aufzuklären. Demokratie bedeutet, auch
den Andersdenkenden und Andersgläubigen Gehör zu
schenken. Meine Entscheidung, nach der
Erschütterung, die ich in meinem Land erlebte, nach
Deutschland zu kommen, war von der Hoffnung erfüllt,
dass vom wieder auferstandenen Deutschland Hilfe
kommen würde und es ein Modell und Zeichen für
andere Völker sein könnte, insbesondere für die
Geschwistervölker. In meinem Denken hat sich etwas
geändert, nicht gerade beeinflusst vom Teil
jüdischer Rabbiner, sondern von deutschen Kirchen
und Christen, die gelernt zu haben schienen, dass
der Gott gewordene Mensch, Jesus, und seine Lehre im
Stande sein könnte, Frieden im sogenannten Heiligen
Land zu schaffen.
In meinem ersten Brief, 1974, hauptsächlich an die
deutsche Christen gerichtet, berichtete ich darüber,
dass Prof. Dr. Helmut Gollwitzer, auf einer Tagung
in Beir Sheva, die der Lehre von Martin Buber
gewidmet war, mir erzählte, dass er in seinem
Vortrag Israel vor der Gefahr ein Herrenvolk zu
werden, mahnte. Brutalerweise wurde er unterbrochen
und nicht zugelassen, seinen Vortrag zu Ende zu
sprechen. Für mich war Prof. Gollwitzer einer der
wichtigsten Friedensapostel. In einer damaligen
Veröffentlichung wurden Friedensapostel als ‚Pfarrer
im Dienste des Terrors‘ beschrieben. Eine bestimmte
Zeit später habe ich eine Begegnung von Prof.
Gollwitzer mit dem jüdisch-israelischen
Friedensapostel Jesaja Leibowitz organisiert. Bei
dieser Begegnung hat Prof. Leibowitz Franz
Grillparzer zitiert, der sehr zutreffend meinte,
dass es scheint, dass die Welt sich von der
Humanität zu der Nationalität und von der
Nationalität zur Bestialität entwickle.
Ein seltenes Gefühl der Genugtuung hatte ich, als
später in Berlin Prof. Gollwitzer mir verraten hat,
dass die Mahnung Israels vor der Gefahr ein
Herrenvolk zu werden, durch die Lektüre meines
ersten Jahresbriefes beeinflusst wurde.
Dutzende Pfarrer, wie Prof. Gollwitzer, Niemöller,
u.a. haben mich das erste Mal zu einem Christus- und
Christenfreund umgewandelt. Was mich zutiefst
enttäuscht und verzweifelt macht, ist die Tatsache,
dass es bei vielen Pfarrern an der Botschaft der
Apostel, wie Gollwitzer, und an dessen Geist
mangelt. Sie sind besessen von der Angst, als
Antisemiten verunglimpft zu werden, wenn sie wagen,
Kritik gegen die gefährliche Politik Israels hören
zu lassen.
Was mich traurig und krank macht ist, dass die
Regierenden Israels und ein großer Teil der
israelischen Rabbiner bei mir bewirken, dass ich
meine neu gewonnene Heimat Israel als den
"unheiligen Staat" bezeichnen muss und ich mich als
Exilant in einer blutrünstigen Diaspora empfinde.
Ohne Zweifel werden viele nicht einverstanden sein
mit meiner Botschaft, und das bedauere ich sehr.
An die vielen Hunderte und vielleicht auch Tausende,
die mir und meinen noch übrig gebliebenen Hoffnungen
treu geblieben sind und sich weiterhin für eine
gerechte und friedliche Zukunft einsetzen, sende ich
meine tiefste Bewunderung und Dankbarkeit.
Euer Reuven Jerusalem, März 2016
p.s.:
Für diejenigen, die noch nichts von dem neuen Buch:
Reuven Moskovitz: Ein Leben für Gerechtigkeit, Liebe
und Versöhnung, herausgegeben von Ekkehart Dorst und
Martin Breidert, erfahren haben, appelliere ich, es
nicht nur zu lesen, jedoch auch anderen zu
empfehlen.
Sie können das Buch bei Gesine Janssen –
gesine-anna.Janssen@t-online.de oder bei Hanja Van
Dyck – hanja.vandyck@t-online.de bestellen.
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