Eine gescheiterte
israelische Gesellschaft stürzt zusammen, während ihre Führer schweigen
Die
Zionistische Revolution ist tot
Avraham Burg,
29.8.03
Die zionistische
Revolution hat immer auf zwei Pfeilern geruht: einem gerechten/ geraden
Weg und einer ethischen Führung. Keiner von beiden funktioniert mehr. Die
heutige israelische Nation stützt sich auf ein Gebilde von Korruption und
auf Fundamente der Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Als solche liegt das
Ende schon an unserer Türschwelle. Es ist sehr gut möglich, dass unsere
Generation die letzte zionistische sein wird. Esmag hier einen jüdischen
Staat geben, aber er wird anders sein, ungewohnt und hässlich.
Noch ist Zeit, den Kurs zu ändern, aber
nicht mehr lange. Was nötig ist, wäre eine neue Vision einer gerechten
Gesellschaft und der politische Wille, sie zu verwirklichen. Dies ist auch
nicht nur eine interne israelische Angelegenheit. Die Diasporajuden, für
die Israel eine tragende Säule ihrer Identität ist, müssen aufmerksam sein
und aussprechen, was wirklich geschieht. Wenn die Säule stürzt, werden die
oberen Stockwerke in sich zusammenfallen.
Die Opposition existiert nicht, und die
Koalition mit Arik Sharon als Führung beansprucht das Recht zu schweigen.
In einer Nation von Schwätzern ist plötzlich jeder stumm geworden, weil er
nichts mehr zu sagen hat. Wir leben in einer laut donnernd
zusammenstürzenden Realität.
Gewiss, wir haben die hebräische Sprache
wiederbelebt, ein wunderbares Theater geschaffen und eine starke nationale
Währung. Unser jüdischer Verstand ist so scharf wie immer. Wir werden auf
dem Nasdaq gehandelt. Ist dies aber der Grund, warum wir einen Staat
geschaffen haben? Das jüdische Volk überlebte nicht zwei Jahrtausende, um
neuen Waffen, Computer-Sicherheitsprogrammen oder Anti-Raketengeschossen
den Weg zu bahnen. Wir sollten ein Licht unter den Völkern sein. Genau
hierin haben wir versagt.
Es stellt sich heraus, dass der 2000 Jahre
dauernde Kampf ums jüdische Überleben auf einen Staat der Siedlungen
heruntergekommen ist, der von einer amoralischen Clique korrupter
Gesetzesbrecher regiert wird, die sowohl für ihre Bürger als auch ihre
Feinde nur taube Ohren haben. Ohne Gerechtigkeit kann ein Staat nicht
überleben. Immer mehr Israelis verstehen dies, sobald sie ihre Kinder
fragen, wo sie wohl in 25 Jahren zu leben vorhaben. Kinder, die ehrlich
zugeben, dass sie dies nicht wüssten, schockieren ihre Eltern. Der
Countdown des Endes der israelischen Gesellschaft hat begonnen.
Es ist sehr bequem, ein Zionist in einer
Westbank-Siedlung wie die in Beth El oder Ofra zu sein. Die biblische
Landschaft ist bezaubernd. Aus dem Fenster kann man durch Geranien und
Bougainvilleas hindurch nichts von der Besatzung sehen. Wenn man auf den
Schnellstraßen fährt, auf denen man von Ramot am nördliche Rand Jerusalems
nach Gilo am südlichen Rand in 12 Minuten fährt, kann man kaum die
demütigende Erfahrung eines verachteten Arabers verstehen, der stundenlang
auf schlechten abgesperrten Straßen entlang kriechen muss, die nur für ihn
bestimmt sind. Eine Straße für den Besatzer und eine Straße für den
Besetzten.
Das geht nicht auf Dauer. Selbst wenn die
Araber ihre Köpfe senken und ihre Scham und ihre Wut ständig
hinunterschlucken – dies geht nicht auf Dauer. Eine Gesellschaft, die auf
menschlicher Gleichgültigkeit aufgebaut ist, wird unvermeidlich in sich
zusammenstürzen. Man merke sich diesen Augenblick sehr wohl: die
zionistische Supergesellschaft stürzt schon zusammen wie eine billige
Jerusalemer Hochzeitshalle. Nur Wahnsinnige tanzen auf der oberen Etage weiter, während die Pfeiler
unten zusammenbrechen.
Wir sind damit aufgewachsen und haben uns
an das Leiden der Frauen an den Straßensperren. gewöhnt - kein Wunder,
dass wir die Schreie der vergewaltigten Frauen nebenan nicht mehr hören
oder den Kampf der allein erziehenden Mutter, die ihre Kinder in Würde
erziehen will, wahrnehmen. Wir bemühen uns nicht einmal mehr, die von
ihren Männern ermordeten Frauen zu zählen.
Israel, das aufgehört hat, sich um die
palästinensischen Kinder zu kümmern, sollte nicht überrascht sein, wenn
diese dann voller Hass sich selbst dort in die Luft jagen, wo Israelis der
Realität zu entfliehen versuchen. Sie vertrauen sich dort Allah an, wo wir
Erholung suchen, weil ihr Leben zur Tortur geworden ist. Sie vergießen ihr
Blut in unseren Restaurants, um uns den Appetit zu nehmen, weil sie zu
Hause Kinder und Eltern haben, die hungrig und gedemütigt sind.
Wir könnten 1000 ihrer Rädelsführer und
Ingenieure täglich töten, und nichts wird gelöst werden, weil die Führer
von unten kommen, von den Quellen des Hasses und der Wut, aus der
Infrastruktur der Ungerechtigkeit und der moralischen Korruption.
Wenn all dies unvermeidlich wäre, etwa
göttlich angeordnet und unveränderlich – dann würde ich schweigen. Doch
liegen die Dinge anders. Deshalb ist der Aufschrei ein moralischer
Imperativ.
Hier ist das, was der Ministerpräsident
sagen sollte:
Die Zeit der Illusionen
ist vorbei. Der Zeitpunkt für Entscheidungen ist gefallen. Wir lieben das
ganze Land unserer Vorväter. Wir würden hier gerne alleine leben. Aber das
wird so nicht geschehen. Die Araber haben Träume und Bedürfnisse.
Zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer
gibt es keine klare Mehrheit mehr. Und deshalb, liebe Mitbürger, ist es
nicht möglich, das ganze Land, ohne einen Preis zu bezahlen, zu behalten.
Wir können keine palästinensische Mehrheit unter dem israelischen
(Besatzungs-) Stiefel halten und gleichzeitig von uns als der einzigen
Demokratie im Nahen Osten träumen. Es kann keine Demokratie ohne gleiche
Rechte für alle, die hier leben, für Araber genau wie für Juden, geben.
Wir können die Gebiete nicht behalten und eine jüdische Mehrheit im
einzigen jüdischen Staat der Welt bewahren - nicht mit Mitteln, die
menschlich, moralisch und jüdisch sind.
Wollt Ihr ein größeres Israel? Kein
Problem. Geben wir die Demokratie auf! Lasst uns ein effektives System von
rassistischer Trennung mit Gefängnis- und Verhaftungslagern einrichten.
Qalqilia-Ghetto und Gulag Jenin.
Wollt ihr eine jüdische Mehrheit?. Kein
Problem. Entweder setzt ihr die Araber in Eisenbahnwaggons, in Busse, auf
Kamele und Esel und vertreibt sie en masse. Oder wir trennen uns absolut
von ihnen ohne Tricks und Gags. Es gibt keinen Weg dazwischen. Wir müssen
alle Siedlungen räumen – alle! – und eine international anerkannte Grenze
ziehen zwischen der jüdischen nationalen Heimstätte und der
palästinensischen Heimstätte. Das jüdische Rückkehrgesetz gilt innerhalb
unserer nationalen Heimstätte, und ihr Rückkehrgesetz gilt nur innerhalb
der Grenzen des palästinensischen Staates.
Wollt Ihr eine Demokratie? Kein Problem.
Entweder gebt Ihr Groß-Israel mit allen Siedlungen und Außenposten auf,
oder gebt jedem volle Staatsbürgerschaft und alle Stimmrechte,
einschließlich den Arabern. Die Folge davon wird sein, dass diejenigen,
die keinen palästinensischen Staat neben uns haben wollen, die werden ihn
mitten unter uns haben, via Wahlurne.
Das ist es, was der Ministerpräsident dem
Volke sagen sollte. Er sollte die Möglichkeiten der Wahl geradeheraus
sagen. Jüdisches Rassenbewusstsein oder Demokratie. Siedlungen oder
Hoffnung für beide Völker. Falsche Visionen oder Stacheldraht,
Straßensperren und Selbstmordattentäter oder eine international anerkannte
Grenze zwischen zwei Staaten und eine geteilte Hauptstadt Jerusalem.
Aber es gibt keinen Ministerpräsidenten in
Jerusalem. Die Krankheit, die den Körper des Zionismus angegriffen hat,
hat schon den Kopf erreicht. David Ben Gurion irrte manchmal, trotzdem
blieb er gerade wie ein Pfeil. Als Menachem Begin unrecht hatte, stellte
keiner seine Motive in Frage. Nun nicht mehr. Die öffentliche
Volksbefragung von letzter Woche belegte, dass eine Mehrheit der Israelis
nicht an die persönliche Integrität des Ministerpräsidenten glaubt – doch
vertrauen sie seiner politischen Führung. In anderen Worten verkörpert
Israels augenblicklicher Ministerpräsident beide Seiten des Kurses: eine
in Verdacht geratene persönliche Moral und offene Missachtung für das
Gesetz, verbunden mit der Brutalität der Besatzung und der Zerstörung
jeder Friedenschance. Dies ist unsere Nation, dies sind unsere Führer. Die
unentrinnbare Folge ist: die zionistische Revolution ist tot.
Warum ist dann die Opposition so ruhig?
Vielleicht weil Sommer ist oder weil sie erschöpft ist oder weil einige um
jeden Preis sich gerne der Regierung anschließen wollen, selbst um des
Preises willen, auch von der Krankheit befallen zu werden. Aber während
sie zaudern, verliert die Macht des Guten die Hoffnung.
Dies ist die Zeit für klare Alternativen.
Jeder der dahin neigt, eine klar definierte Position einzunehmen – schwarz
oder weiß - arbeitet tatsächlich in Richtung Verfall. Es geht nicht um
Labor gegen Likud, nicht um rechts gegen links, sondern um Recht gegen
Unrecht, annehmbar gegen unannehmbar. Gesetzestreue gegen Gesetzesbrecher.
Was notwendig wäre, ist nicht ein Ersatz für die Sharon-Regierung, sondern
eine Vision der Hoffnung, eine Alternative zur Zerstörung des Zionismus
und seiner Werte durch Taube, Stumme und Gleichgültige.
Israels Freunde im Ausland – jüdische
ebenso wie nicht-jüdische, Präsidenten und Ministerpräsidenten, Rabbiner
und Laien - sollten wohl überlegt entscheiden. Sie sollten ihren Einfluss
ausüben und Israel helfen, die Road Map zu erfüllen als Beitrag unserer
nationalen Erfüllung, „ein Licht unter den Völkern“ zu sein und eine
Gesellschaft des Friedens, der Gerechtigkeit und der Gleichberechtigung.
Abraham Burg war
Israels Knessetpräsident von 1999 – 2003 und ein früherer Vorsitzender der
jüdischen Agentur von Israel. Im Augenblick ist er Labormitglied in der
Knesset. Dieser Artikel ist ein vom Autor bearbeiteter Artikel, der in
Yedioth Aharanot erschien und am 29.8.2003 in Forward
Aus dem Hebräischen ins Englische
übersetzt: J.J.Goldberg;
aus dem Englischen: Kay Krafczyk und Ellen
Rohlfs
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